Der Ausstieg

schreibhexe

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Sieben junge Männer, alle unter zwanzig, grölten durch die Straßen: „Ihr seid so scheiße! Wir sind die Größten“, und rempelten die Leute an. Es war ein heißer Sommertag, die Passanten ließen sich im Menschenstrom des Einkaufszentrums treiben. Zwei aus der Gruppe betraten einen Supermarkt. Sie waren stiernackig, glattgesichtig und hatten Übergewicht. Die Muskelshirts ließen dicht tätowierte Arme sehen von den Handrücken bis hinauf zu den Schultern, weiterlaufend unter den Säumen der Shirts über die Nacken bis zu den kahl rasierten Hinterköpfen. Die Burschen traten hart auf in ihren schweren Stiefeln, versorgten sich mit je zwei Bierkästen, schrieen durch den Laden: „Ihr seid so scheiße!“ und erschreckten Verkäufer und Kunden. Vor einer älteren Frau baute sich einer auf und knallte ihr ein: „Buh!“ ins Gesicht, dass sie zu Tode erschrocken erstarrt stehen blieb. Niemand rührte sich. Die Verkäuferinnen taten so, als hörten sie nichts und kassierten weiter, ganz auf Deeskalation getrimmt. Die Kunden schwiegen, bemüht, sich nicht provozieren zu lassen. Der Filialleiter rief in seinem Büro vorsorglich die Polizei. Überraschender Weise zahlten die Männer brav ihre Bierkisten und verschwanden zu den Kumpanen. Ein hörbares Aufatmen ging durch den Laden.
Draußen zogen die beiden grinsend je eine Flasche Wodka aus ihren Taschen. Die hatten sie mitgehen lassen. Dann beschloss die Bande, zur alten Brücke zu gehen. Die überspannte ein Tal und führte eine Nebenstraße über den noch jungen Fluss. Zwei schwere Pfeiler standen im Wasser und wurden von Strudeln und Wirbeln umspült.
„Kommt, wir springen!“ schrie der Anführer, Oskar mit Namen, und zog sich Stiefel und lange Hose aus. „Bist du verrückt, das ist viel zu gefährlich!“ warnte einer, ein anderer: „Das Wasser ist nicht tief genug!“
Oskar schrie: „Seid ihr Feiglinge?“ kletterte auf die Brüstung und stürzte sich mit einer Arschbombe ins Wasser. Es spritzte gewaltig, sogar bis zu ihnen hinauf. Unten tauchte Oskar auf, lachte und schrie: „Das ist geil! Los, wer traut sich?“ Keiner kam so recht aus der Deckung. Sie drucksten alle herum. „Hey, ihr Schlappschwänze! Ihr habt's doch gesehen! Ist völlig ungefährlich. Der erste, der sich traut, darf meine Braut bumsen!“ Der Jüngste kicherte. Er war ein magerer Junge mit Sommersprossen. Der neben ihm haute ihm auf die Schulter. „Na Kleiner, wär’ das nichts für dich?“ „Das ist nichts für Babys. Der muss erst noch ein bisschen wachsen!“ sagte sein Nachbar. Die anderen lachten und sahen einander an. „Zieh mal deine Hose runter und zeig, was du hast!“ rief ein Langer und griff nach den Boxershorts des Kleinen. Dem wurde mulmig. Oskar schrie wieder von unten hoch: „Was ist denn da oben? Kommt ihr jetzt?“
Da fiel’s ihnen wieder ein. Mit der Braut des Anführers bumsen? Hey, warum nicht? Der Preis lohnte sich. Die Mutigsten schwangen sich schon über die Brüstung, standen auf einem schmalen Sims, hielten sich rückwärts fest und sahen in die Tiefe. Ein vorbeifahrender Autofahrer hielt bei der Gruppe an. „Was macht ihr denn da? Seid ihr lebensmüde?“ „Ach, halt's Maul! Hau ab!“ beschieden sie ihm grob. Kopfschüttelnd trat der Fahrer aufs Gas und verschwand. Es war, als hätte es nur dieser Warnung bedurft, um den Damm der Ängstlichkeit zu durchbrechen. Keiner wollte dem anderen nachstehen, keiner wie ein Feigling aussehen. Sie waren harte Männer, das war gewiss, furchtlos und risikobereit. Einer von etwas vierschrötiger Gestalt, schon jenseits der Brüstung, ließ los und stieß sich ab. Im Sprung ging er in die Hocke, juchzte laut und landete mit einer gewaltigen Fontäne in der weiß aufspritzenden Gischt. „Hey, Alter“, schrie er Oskar entgegen „Ich krieg deine Braut!“ und lachend begannen sie, sich gegenseitig unter Wasser zu drücken.
Nun wollte sich keiner mehr eine Blöße geben und nacheinander sprangen sie. Es begann ihnen Spaß zu machen. Sie sprangen in die Strudel, schwammen ans Ufer, kletterten durch niederes Buschwerk zurück auf die Brücke, strafften sich und sprangen wieder. Dazwischen floss das mitgebrachte Bier und alle grölten: „Wir sind die Größten, wir sind die Größten!“ und "Deutschland den Deutschen!"
Wieder war die Reihe an Oskar. Er balancierte auf der Brüstung, schwankte ein wenig, lachte darüber, stellte sich in Positur und sprang. Aber diesmal hatte er die Entfernung zum Brückenpfeiler falsch abgeschätzt. Das Bier und der Wodka mochten ihre Wirkung getan haben, die Körperbeherrschung sank, das Reaktionsvermögen auch. Er taumelte, stürzte, stieß im Fallen mit dem Kopf an den Pfeiler, das Wasser überschwemmte ihn, er kam nicht mehr hoch, benommen wirbelte er mit dem Strudel abwärts, wurde wieder ausgespuckt und trieb leblos in der Strömung. Panisch schrieen die Jungen auf. „Scheiße, scheiße, scheiße! Der ersäuft! Was machen wir jetzt?“ Einer, der bereits die Brüstung überklettert hatte, kletterte zurück und rief: „Weg hier, schnell! Ich hab noch Bewährung!“ und dann liefen sie auf und davon.

Ein junger Radfahrer auf dem Uferweg hatte den Unfall beobachtet. Er sprang ab, warf sein Rad ins Gras und ohne zu zögern stürzte er sich in den Fluss. Als guter Schwimmer erreichte er, die Strömung kreuzend, den Ertrinkenden flussabwärts, packte ihn an den Haaren, die färbten seine Hand rot, hievte ihn so weit aus dem Wasser, dass der Kopf sichtbar wurde, packte ihn unter den Achseln und brachte ihn mit kräftigen Beinstößen ans Ufer. Er schleppte ihn ins Gras und verschmierte sich mit dessen Blut, das aus einer Platzwunde am Kopf rann. Dann erinnerte er sich seines Erste-Hilfe-Kurses und begann mit Wiederbelebungsversuchen. Er presste rhythmisch den Brustkorb des Verunglückten und blies ihm abwechselnd seinen Atem in die Nase, bis der sich bewegte und begann, das ganze geschluckte Wasser zu erbrechen. Da fiel dem Retter sein Handy ein; er lief flussaufwärts zum Fahrrad, holte es aus der Jackentasche, rief Feuerwehr und Polizei, wusch sich im Fluss und fuhr davon. – Er hatte die Tätowierungen am Körper des Verunglückten gesehen und machte sich so seine Gedanken. In diese Sache wollte er nicht hineingezogen werden. Er war Moslem, in Deutschland aufgewachsen, hier zur Schule gegangen und hatte eine Lehrstelle als Bauzeichner bei einem türkischen Architekten gefunden. Seine Lebensrettungsaktion fand er nicht der Rede wert. Jeder hätte so gehandelt wie er.
Jetzt war er auf dem Weg zur Familie seiner Freundin, mit der er verlobt war. Heute war Samstag, er war zum Essen eingeladen und später wollten sie zum Stadion, ein Fußballspiel besuchen. Seine Freundin würde sich wundern, wo er so lange blieb und warum seine Kleider nass waren.

Oskar wurde im Notarztwagen versorgt und sofort ins nächste Unfallkrankenhaus gebracht. Eine Blutuntersuchung brachte einen Alkoholspiegel von zwei Promille zu Tage. Der Patient wurde geröntgt, seine Kopfwunde verbunden. Er hatte noch einmal Glück gehabt. Der Schädel und andere Knochen waren heil geblieben. Später wurden die Personalien aufgenommen und überprüft; dabei kam heraus, dass er schon mehrfach wegen Gewalttaten und Prügeleien aufgefallen war. Die Polizei befragte ihn nach dem Unfallhergang, er erzählte eine herzzerreißende Geschichte, die ihm niemand glaubte, nach der er in tiefstem Liebeskummer in selbstmörderischer Absicht sich von der Brücke gestürzt hatte, weil seine Braut mit einem anderen durchgebrannt sei. Heimlich lachte er sich ins Fäustchen.
Am nächsten Tag erschien die Geschichte in der Lokalzeitung. Man fahndete nach seinem Retter. Doch niemand hatte anscheinend den Vorfall beobachtet. Lediglich der Autofahrer, der die Gruppe auf der Brücke angesprochen hatte, meldete sich und erzählte den wahren Hergang. So wurde die ganze Sache publik. Die Polizei erstattete Anzeige gegen die Kumpanen des Verunglückten wegen unterlassener Hilfeleistung und veranlasste, dass die Brüstung der Brücke mit einem mannshohen Drahtgitter gesichert wurde.

Oskar hatte seine Gehirnerschütterung in der Klinik auskuriert, nun traf man sich wieder. Es gab da einen speziellen Club, da kamen nur sie und andere Gleichgesinnte hinein. Man kannte sich untereinander und es wurde sehr lustig. Die meisten hatten ihre Braut dabei, die Musik, Bassgedröhn mit hetzerischen Texten, zerhämmerte ihnen das Hirn. Sie grölten in stampfenden Rhythmen mit und Bier und Schnaps flossen in Strömen. Oskars Freundin fand die Idee geil, als Preis für den mutigsten Springer ausgerufen worden zu sein. Der war auch da, forderte seinen Preis, schob seine Hand unter ihren Lederrock und presste sie an sich. Sie küsste ihn aufreizend langsam mit ihrer Zunge, die sich sichtbar schlangengleich bewegte, denn ihre geöffneten Lippen berührten die seinen nicht, nestelte am Gürtel seiner sich ausbeulenden Hose und beobachtete aus dem Augenwinkel Oskar, wie der den beiden interessiert zusah. Schließlich verdrückten sie sich in einen der hinteren Räume auf ein Monstrum von Couch. Oskar war scharf geworden, mitgegangen und wollte auch; sie schickten ihn aber rüde weg. „Verschwinde! Das war nicht Teil der Abmachung.“
Es juckte ihn, mit Gewalt dazwischen zu gehen, doch knurrend verzog er sich und stürzte sich in die Party. Vorne, auf einem Podest des rauchgeschwängerten Saals, stand Einer und erzählte was von Türken und Negern, die die arische Rasse versauten und den Deutschen die Arbeit wegnähmen. Vor Eifersucht wild stänkerte Oskar herum, suchte Streit und fand ein paar Kumpane, mit denen zusammen er die nächtliche Stadt aufmischen wollte. Sie beschlossen rauszugehen ‚Ausländer jagen’. Das würde Spaß machen. Ausgerüstet mit ein paar Baseball-Schlägern, Sprühflaschen mit schwarzer Farbe und Bierflaschen zogen sie in die City. Auf ihrem Weg hoben sie ihre Arme zum Hitlergruß und schrieen wie gewohnt ihr eintöniges: „Deutschland den Deutschen!“, bedrängten Frauen und Mädchen, die noch unterwegs waren, hebelten Gulydeckel aus, sprühten Hakenkreuze an Wände, zerkratzten Autotüren, schlugen mit ihren Fäusten gegen Schaufensterscheiben, dass sie vibrierten.
Eine Gruppe junger Türken kreuzte ihren Weg. Sie kamen gut gelaunt aus dem Kino, hörten türkische Musik aus ihren Handys und wollten nach Haus. Einer rief erschrocken: „Hey, passt auf! Da sind Skins! Die haben Baseball-Schläger!“ Das war das Startsignal. Mit Geheul stürzte sich die Gruppe Skins auf sie. Panisch stoben die jungen Türken auseinander. Einige verdrückten sich in eine Toreinfahrt und riefen bebend per Handy Freunde und Verwandte zu Hilfe. Die kamen schnell und brachten ihre Klappmesser mit. Plötzlich waren an die zwanzig Leute da. Es entwickelte sich ein erbitterter Kampf mit blutenden Verletzten auf beiden Seiten. Oskar packte einen der Türken am Kragen, der war unbewaffnet, drehte sich zu seinem Angreifer um – und starrte entsetzt in zwei mordlustige Augen. Die kannte er. Er starrte - und starrte -. Der Sekundenbruchteil des Erkennens dehnte sich zu einer Ewigkeit. Es war der verunglückte Springer, den er aus dem Fluss gezogen hatte, der durch seine Hand nicht gestorben war.
Oskar schwang den Schläger für einen mächtigen Hieb und – hielt mitten im Schlag inne. Dieses Gesicht – er kannte es, wusste nicht woher. Aus dem Nebel der Wut stieg Erinnerung auf. Undeutlich. Er war von der Brücke gesprungen - war mit dem Kopf an Beton geknallt und ohnmächtig geworden, fühlte sich undeutlich gepackt, ins Gras geschleift. Jemand drückte immerzu auf seinen Brustkorb. Es tat weh, er wollte das nicht. Dieses Gesicht – es legte sich immer wieder auf sein Gesicht und hauchte ihm seinen Atem in die Nase, bis er Rotz und Wasser spie. Er hatte den Atem eines Türken in den Lungen gehabt und der hatte ihm das Leben gerettet.
Oskar hielt inne, konnte den Schlag nicht weiterführen. Öffnete den Griff seiner Faust. Augenblicklich floh sein Lebensretter.
„Was ist los? Hast du ein Gespenst gesehen?“, fragte einer aus seiner Bande. Oskar wusste nicht, wie er antworten sollte, knurrte nur: „Mir ist schlecht.“ Blitzartig war ihm klar geworden: Wenn der Türke nicht gewesen wäre, wäre er irgendwann als Wasserleiche ans Ufer geschwemmt worden. Er rief laut: „Scheiße!“, warf den Knüppel weg und ging.
 



 
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