Der Baum

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E

Epiklord

Gast
Im Herbst haben sie gedroht, ihn entfernen zu lassen, wie einen lästigen Pickel - dabei hatten sie sich in der Hitze des Sommers noch an ihm gelabt, hatten ihn einst sogar vor dem Nachbarshund geschützt. Jetzt im Winter ist es wieder ruhig um ihn geworden, man schenkt ihm kaum noch Beachtung.

Ich bin bereit, für ihn zu kämpfen. Nicht zuletzt, weil er mir nach einer durchzechten Nacht, wenn vielleicht nicht gerade das Leben, so aber doch meine Nase gerettet hat, auf die ich sicher gefallen wäre, hätte er mich nicht gestützt, als ich torkelnd und stolpernd im Fallen mich an ihn geklammert habe. Ja, ich mag den Hainbuchenbaum in unserem Garten.

Einen Inbegriff für Stärke und Standvermögen stellt er allerdings nicht dar. Hätte er gekonnt, wäre er mir wahrscheinlich ausgewichen, als ich im Sausebraus meinen Achtzig-Kilo-Körper an ihn heften wollte. Er ist mehr ein Baum wie ein Mann als ein Mann wie ein Baum. Sein Stamm erinnert an das Vorderbein eines halbwüchsigen Elefanten, die Rindenoberfläche fühlt sich auch ein wenig an wie eine Elefantenhaut und ist auch von schmutzig-graugrünlicher Farbe.

Eine Krone mit gleichdicken, fächerartig gespreizten Ästen schießt wie ein riesiger Strauch aus dem Stamm empor. Das ganze Baumskelett des Winters gleicht einem umgedrehten Buschbesen. Sieht man das Gebilde aber genauer an, erkennt man, dass seine Kontur genau der eines einzelnen Blattes vom Baum entspricht und von selten gleichmäßiger Symmetrie ist.

Jetzt lässt sich kaum erahnen, welche Unmenge von Blättern die vollbuschige Krone im Sommer beherbergt. Erst im Herbst wird es jeden Mieter zum Leidwesen klar, wenn der Wind die gigantische Anzahl von Blättern in den Laubengang vor die Wohnungstüren treibt.

Aber was regten sich die Leute bloß so auf? Alle anderen gleichaltrigen Solitäre aus der Umgebung sind viel stattlicher, aber die stehen eben nicht in unserem Garten. Mancher Hausbewohner bereut denn auch die Hilfsaktion vor einigen Jahren, mit der man der Buche das Leben gerettet hat. Man hat sie umzäunt, weil der blasenschwache Rauhaardackel vom Nachbargrundstück unser Bäumchen dermaßen begossen hatte, dass es schließlich seine Blätter geworfen hat wie ein angeschlagener Boxer das Handtuch.

Doch wenn man ihm im Herbst mit der Motorsäge droht - absägen würde ihn sowieso keiner. Wer regte sich nicht schon mal in ähnlicher Weise über seinen Ehepartner auf, ohne ihn/sie jemals umzubringen? Der Baum ist schon gut so wie er ist. Er lässt im Sommer noch genug Platz für Sonne und spendet auch denen kühlen Schatten, die schimpfen, dass er kein Licht in ihre Fenster lässt.

Mein Onkel hat als erfolgreicher Laubenpieper natürlich eine Erklärung für den minderen Wuchs unserer Hainbuche. Warum waren alle anderen gleichen Alters größer - warum wohl waren seine Kohlrabi und Salatköpfe so groß? Ganz einfach, weil er sie freundlicher als wir unsere Buche behandelte, ja zu ihnen zärtlich sprach. Nur so fühlten sich die Pflanzen wohl und gediehen prächtig.

Vergeblich suchte ich bei unserem Baum nach so etwas wie Ohren, womit er ein liebevolles, Wachstum förderndes Geschwätz vernehmen könnte. Doch mein Onkel meint, die Seele braucht keine Ohren. „Welche Seele“, fragte ich. Er antwortete: „Wenn sich hundert Meter von mir entfernt ein Fleischerladen befindet, den ich nicht sehe und rieche, bedeutet das nicht, dass es da auch keinen gibt.“ Ich solle in dem Fall meinen Hund fragen, der bestimmt einem Medium gleich anderer Meinung sei.

Will man meinem Onkel Glauben schenken, und wären die Mieter unseres Hauses das Gegenteil der bösen Raben gegenüber dem Baum gewesen, die sie nun einmal sind, hätte der es uns gedankt, indem er die Maße eines Mammutbaumes angenommen hätte, der uns den Himmel verdunkelt und uns im Herbst mit Laub erstickt. Und dann hätte man ihn garantiert zu Kleinholz verarbeitet. So sollen die Mieter ruhig weiterschimpfen, wenn ihnen wohl dabei ist.

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