Der Baum oder Traum?

Frieda

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Der Baum oder Traum?

Es war ein schöner, klarer Wintertag, als ich wie üblich in der Mittagspause im Park spazierenging. Die Sonne schient von einem strahlend blauen Himmel, als wollte sie der Welt beweisen, daß sie auch im Winter etwas zu bieten hätte. Und gegen die frostigen Temparaturen schützte mich mein dicker Mantel. Was also machte mich so unzufrieden, so ruhelos? Ich spürte ein ständiges Rumoren und Vibrieren in der Luft. Oder kam es gar nicht von außerhalb? Mir war etwas unheimlich zumute, die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen mir und der Umwelt schienen auf seltsame Weise zu verschwimmen. Was war passiert? Wie soll ich das Gefühl beschreiben, das mich damals vollkommen überschwemmte? Es war so etwas wie Sehnsucht, Erwartung, Ungeduld, aber es schwangen auch Stillstand und Resignation mit, süß und bitter zugleich, wunderbar und furchterregend.

So ging ich ganz in Gedanken versunken, ohne auf den Weg zu achten, und plötzlich knallte mir - PLUMS! - irgendetwas direkt vor die Füße. Himmel, war ich erschrocken! Ich sah mich um, kein Mensch in der Nähe. Nichts regte sich, trotzdem hatte ich das Gefühl, jemand wartete gespannt darauf, daß ich endlich etwas unternahm. Ein längliches, braunes Ding, etwas kürzer als meine Hand, lag vor mir auf der Erde. Neugierig hob ich es auf, es war eine Samenschote, keine Ahnung, von welcher Pflanze. In meiner Nähe stand ein großer Baum, der allerdings völlig kahl war. Wenn die Schote von ihm stammte, mußte sie die einzige gewesen sein, aber wo war sie sonst hergekommen? Nachdenklich betrachtete ich den Baum. Was? Hatte er mir gerade zugezwinkert? Quatsch, Bäume zwinkern nicht, bist wohl überarbeitet! Und doch hatte ich es deutlich gesehen. Hach, in Botanik war ich noch nie eine große Leuchte, jetzt hätte ich zu gern gewußt, was für ein Baum das war, und wie seine Früchte aussahen. Schön, ich würde die Schote mitnehmen und sie meinen Kollegen zeigen, einer würde es schon wissen.

Wenigstens hatte mich dieses Erlebnis aus meinen trüben Gedanken aufgeschreckt. Doch als ich meinen Spaziergang fortsetzte, spürte ich ein Pochen und Stoßen in der Hand, die die Samenschote hielt. Es fühlte sich an, als wollten die Samen gewaltsam ausbrechen, und gleich hier in meiner Hand anfangen zu keimen. Oh, nein, nicht schon wieder, jetzt bin ich wohl bald ein Fall für die Klappsmühle. Hastig öffnete ich meine Hand, aber die Schote lag still und unverändert darin. "Nun, wenn ihr Samen rauswollt, da kann ich euch wohl helfen", dachte ich. Sieben dunkelbraune, etwas plattgedrückte Kügelchen kullerten mir entgegen und sahen aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Kaum hatte ich aber die Hand geschlossen und meinen Weg fortgesetzt, da fing das Gezappel schon wieder an. Einbildung? Ich habe es doch deutlich gespürt! Bin ich denn jetzt wirklich bekloppt? Nein, ich mußte zurück zu dem Baum, sollte der sich um seinen Nachwuchs kümmern.

Der Baum erwartete mich schon. Was sollte das denn nun wieder? Woher konnte der wissen, daß ich kommen würde? Oh nee, hoffentlich wache ich bald auf aus diesem Traum! Irgendetwas ließ mich auf den Baum zugehen. Ich stellte mich ganz nahe an seinen Stamm und legte meine Hand auf die borkige Rinde, während die andere die Samen hielt. Plötzlich wußte ich, daß ich nicht träumte. Durch meine Hand hindurch, durch meinen ganzen Körper hindurch fühlte ich die gewaltige Kraft, die in dem Baum schlief. Auch in den Samen, so klein sie noch waren, ruhte dieselbe Kraft, auch sie würden einmal zu einem riesigen Baum heranwachsen, auch er war einmal ein winziger Samen gewesen. Ich spürte, wie meine Füße in den Boden einzusinken begannen. Zuerst zaghaft, doch dann immer drängender und ungestümer wanden sich meine Wurzeln zwischen den dicken Wurzeln des Baumes hindurch tief in das schützende Erdreich. Die gewaltige Kraft der Erde erfüllte mich ganz. Mein gerader, elastischer Stamm reckte sich stolz in die Höhe, meine schlanken, noch kahlen Äste streckten sich der fahlen Wintersonne entgegen. Ich hätte nicht übel Lust gehabt, alle meine noch kaum angedeuteten Knospen auf einmal aufbrechen zu lassen.

"Warte noch", sagte der Baum. "Es ist Winter, die Zeit der Ruhe, die Zeit des Sammelns. Wachstum und Leben sind die eine Seite. Doch auch Tod und Vergänglichkeit sind notwendig. Wie soll denn Neues entstehen, wenn das alte nicht Platz macht und liebevoll den Boden bereitet? Du bist an einem Punkt angekommen, wo es Zeit ist, innezuhalten. Sieh hier meine Samen. Sie tragen schon alles in sich, um ein erfülltes Leben zu führen, aber die Zeit ist noch nicht reif, sie warten auf den Frühling"
Für einen Augenblick gab es keine Fragen mehr, für einen Augenblick fühlte ich mich eins mit allem,was mich umgab. Ich wußte alles und ich war alles und ich war nichts, unmöglich, das mit Menschenworten auszudrücken. Ich hatte dem Schöpfer über die Schulter geschaut.

Ob der Baum damals wirklich mit mir gesprochen hat? Es zieht mich immer mal wieder zu ihm hin. Aber er hat jetzt keine Botschaft mehr für mich, er benimmt sich keinesfalls mehr ungewöhnlich, eben wie ein Baum.
 



 
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