Der Baumkronenpfad

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Lyrischa

Mitglied
Marlies Kühr

Der Baumkronenpfad / Ein Märchen

Mitten in Deutschland gibt es einen kleinen Urwald, den Nationalpark Hainich.
Vor vielen Jahren war das Land von fremden Truppen besetzt. Der Hainich war Sperrgebiet für die Bevölkerung, niemand durfte ihn betreten. Nur in einer kleinen baufälligen Hütte, da wo die Landstraße einen Bogen in den Wald hinein macht, wohnte ein alter Einsiedler. Der Mann achtete sein Leben lang darauf, dass die Pflanzen und Tiere keinen Schaden durch die Menschen nahmen. In den Dörfern ringsum wurde er für seine Erfahrung geschätzt. Die Leute erzählten sich, dass bei ihm schon der gestiefelte Kater und die sieben Zwerge ein- und ausgegangen seien. Das Militär aber bekam ihn nie zu Gesicht.
Panzer zerwühlten den Waldboden und Kanonenkugeln zerfetzten die Bäume. Bei jedem Einschlag klirrten in den Dörfern ringsum die Gläser in den Vitrinen und das Geschirr in den Schränken. Die Menschen fragten sich:"Wird das niemals ein Ende nehmen?"
Eines Tages kam ein neuer Herrscher an die Macht. Der schenkte den kleinen Völkern die Freiheit. Alles Militär wurde abgezogen, mehrere Jahre wurde Schrott und alte Munition eingesammelt und abtransportiert und ganz allmählich, nach allen Räumarbeiten und Sicherungsmaßnahmen kehrte Ruhe im Lande ein.
Die Menschen begannen, Schritt für Schritt die sich wieder entfaltende Natur zu erobern. Sie pflückten Blüten und Kräuter, sammelten Beeren und Pilze und besuchten wieder häufiger den alten Waldhüter. Seine kleine Hütte hatte die bedrohliche Zeit überstanden. Der Wald hier ist so still und dicht, die Buchen Jahrhunderte alt, ihre Kronen hoch, gewaltig und sattgrün, die Luft erholsam duftend.Die Nachkommen des gestiefelten Katers, die Wildkatzen, haben heute hier ihren Kinderspielplatz. Für Fledermäuse, Marder und andere Baumbewohner ist da ein ideales Zuhause.
In den Wipfeln zwitschert, pfeift und klopft es, segelt, flattert, schwirrt und flirrt es. Hier ist das Paradies für die Kleinen, die Vogel- und Insektenwelt. Viel weiß der Naturschützer über dieses Leben und Reich zu erzählen.
"Wenn ich den Menschen, den Wanderern diese Schönheit doch ganz nah, von oben zeigen könnte!", dachte er manchmal. "Wie würden sie da staunen über dieses Paradies!" Doch der betagte Mann wusste, dass ihm das nicht mehr gelingen würde, seine Tage waren gezählt, er fühlte sein Ende nahen.
Bald erkrankte er schwer. Er rief seine langjährige Vertraute Henriette, die in den schweren Jahren der Besatzung immer Kontakt zu ihm gehalten und ihm mit ihrem Sohn Mirek stets zur Seite gestanden hatte, und bedankte sich bei ihr für ihre Unterstützung und Treue.
"Liebe Henriette, du warst all die Jahre für mich da, hast gewaschen und gekocht, die Tiere versorgt, Nüsse und Früchte zum Wintervorrat gesammelt. Dafür hast du drei Wünsche frei, die ich dir erfüllen werde. Such dir aus, welche Dinge aus meinem Häuschen du haben möchtest."
Henriette überlegte nicht lange.
"Ich wünsche mir den runden Tisch, an dem wir gern gesessen haben, den kleinen Grillrost und die alte Buddel, aus der wir gemeinsam manchen Schluck genommen haben, dort vom Schrank."
Er gewährte ihr die Wünsche mit den Worten: "Wenn du es verstehst, diese Dinge richtig einzusetzen zum Wohl und zur Freude der Menschen, die dieses Haus betreten, werden sie auch dir dein Leben lang Freude, Sicherheit und Wohlstand bringen. Denk aber daran, es wird nicht leicht sein, Mühe und Arbeit gehören dazu. Leb wohl und behalt mich in guter Erinnerung." Mit diesen Worten segnete er das Zeitliche...
Henriette und Mirek aber hielten das kleine Haus auch zukünftig in Ordnung. Sie arbeiteten fleißig tagein-tagaus. Sie säten und ernteten, schufen Wintervorräte und sammelten Kräuter und Beeren für Tees und Säfte und Tropfen. Sie bewirteten Reisende und Wanderer, die von Unwetter oder der hereinbrechenden Nacht überrascht worden waren, gaben ihnen ein warmes Plätzchen am Feuer.
Sie waren glücklich über ihre Aufgabe, froh anderen Menschen helfen zu können. So erfüllte sich im Laufe der Zeit das Vermächtnis des Einsiedlers.

Einmal saßen sie spät abends müde und geschafft an ihrem Tisch, nahmen einen Schluck aus der Buddel des Alten und tranken auf sein Wohl. Darauf sind beide eingeschlafen.
Am anderen Morgen blickten sie aus dem Fenster und trauten beinahe ihren Augen nicht. Henriette fragte ihren Sohn:"Siehst du auch, was ich sehe? Diesen hohen, hellen Turm, von einer Treppe umwunden, mitten im Urwald, der über die Baumriesen hinausragt?" Sie glaubte, sie träume noch.
Doch ihr Sohn Mirek bestätigte ihre Wahrnehmung.
"Ja, und sieh doch nur, zu dem Turm führt ein Pfad mitten durch die Baumkronen, mit Geländer zu beiden Seiten." Da machten sie sich auf, um den Weg und den Turm zu erkunden und wurden reichlich belohnt. Um sie herum und unter ihnen ein wahres Landschaftsparadies! Ihr Urwald so wunderschön, wie sie ihn noch nie gesehen hatten und wie sie ihn sich kaum hätten vorstellen können.

Auch ringsum in Lande blieb der leuchtende Ausblick und sein eigenartiger Zugang nicht unbemerkt und täglich kamen mehr Interessierte, die sich das Naturpanorama von der Nähe anschauen wollten. Sie fanden in dem Ranger Mirek einen klugen Wegbegleiter, der ihnen lebendig und anschaulich die Tier-und Pflanzenwelt in dieser Höhe zeigte.
Henriette und ihr Sohn hatten alle Hände voll zu tun, die durstigen Wanderer und Reisenden, die sich von jetzt an die Klinke in die Hand gaben, mit Tee, Kaffee und Säften zu versorgen. Bei schönem Wetter wurde es richtig eng in ihrer kleinen Hütte .
An den kommenden Regentagen nutzten die beiden die gewonnene Zeit, ihr Häuschen zu ordnen und zu putzen und sich wieder einmal richtig auszuruhen. Sie gingen früh schlafen. Über Nacht brach ein heftiges Gewitter herein, so dass sie sich die Bettdecken über die Ohren zogen. Dann fielen sie in einen langen, tiefen Schlaf.
Als sie am Morgen erwachten, leuchteten Sonnenstrahlen ins Zimmer und vergoldeten die Wände. Sie standen auf, setzten sich wie gewohnt zum Frühstück an ihren Tisch und wieder trauten sie ihren Augen kaum. Statt in der kleinen Waldhütte saßen sie in einem prächtigen, rustikalen Restaurant, wundervoll in Holz gehalten, mit großen hellen Fenstern.
Die Zahl der Reisenden und Wanderer, Naturfreunde und Schüler, die sich für diesen schönen Flecken Erde interessieren, wächst seitdem von Jahr zu Jahr. Sie finden Unterkunft und Kost, können sich an heißen und kalten Getränken - Bier und Wein - an Pizza, Nudeln, Sauerkraut, Wild, Thüringer Klößen mit Schweinebraten und anderen kulinarischen Spezialitäten laben.

Eines Tages hatte Mirek Kinder aus dem Nachbarland Hessen nach Hause gefahren. Spät abends kam er von seiner langen Fahrt zurück. Jetzt hatte er einen Bärenhunger. Doch die Küche war schon kalt und kein Essen mehr übrig. Da besann er sich auf den alten Grillrost, zündete trockene Späne an und legte Holzkohle darauf, damit sie durchglühte. Inzwischen nahm er aus dem Eisfach drei Würstchen, um sie zu grillen. Als er sie auf den Rost legte, durchfuhr ihn ein Blitz. Konnte er auch diesmal glauben, was er da sah? Aus seinem klapprigen Grill war eine moderne Anlage geworden, die auf einem geräumigen Gelände inmitten von Tischen und Stühlen stand. Und gleich daneben befand sich ein großer Spielgarten mit Wippe, Holzhäuschen, Kletteranlage und allem, was Kindern gefällt.
Obwohl es schon spät nachts war, weckte er seine Mutter, um sich zu vergewissern, dass er nicht träume.

Seitdem können die Besucher des Baumkronenpfades - große wie kleine - nicht nur im Restaurant herrlich speisen und Kaffee trinken und dazu von Henriette selbst gebackenen Kuchen essen. Nein, sie können auch im Freien, schon bevor sie den Baumkronenpfad betreten und den Turm besteigen, die herrlichsten Original Thüringer Rostbratwürste und andere Grillspezialitäten vom Wildschwein bis zur Forelle genießen. Und ihre Kinder toben sich gern im Wildkatzenspielgarten aus.

Von Jahr zu Jahr kommen mehr Menschen aus Nah und Fern, um sich an diesem modernen Garten Eden zu erfreuen. Er gibt ihnen Entspannung, Erholung und neue Erkenntnisse.
So hat sich der Traum des Einsiedlers aus dem Hainich erfüllt. Henriette und Mirek haben - wie vorausgesagt - Freude und Wohlstand gefunden. Und wenn sie nicht gestorben sind,
so leben sie noch heute... beim Baumkronenpfad am Nationalpark Hainich im Thüringer Land..

Autorin Marlies Kühr
 



 
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