Der Beobachter

Chinasky

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Der Beobachter

Felix Warnheimer, als Werbebeauftragter bei einer mittelständischen Firma frei angestellt, wachte eines Samstagmorgens, von einem natürlichen Bedürfnis geweckt, etwas früher als gewöhnlich auf. Als er die Tür seines Badezimmers öffnen wollte, war diese verschlossen. Er ging über den schmalen Flur zurück ins Schlafzimmer und legte sich wieder ins Bett, um das Ende des Traums abzuwarten. Nach zehn Minuten stand er erneut auf, zur Toilette zu gehen. Die Tür fand sich noch immer abgesperrt. Er drückte etwas kräftiger, um sicherzugehen, daß nicht nur der Rahmen verzogen war und so die Tür hakte. Aber auch, als er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie stemmte, betrug ihr Nachgeben höchstens einen Millimeter. Ebensoviel, wie das Schloß an Spiel haben mochte.
»Hach!«, rief er aus, schlug sich an die Stirn und wollte die Tür mit einem Lächeln aufziehen. Auch das klappte jedoch nicht, sie war zu beiden Seiten verriegelt. Er ging zurück ins Bett, legte sich hin und wartete. Das Schlafen gelang ihm indes nicht, vielmehr wurde das Drängen in seinem Unterleib heftiger und trieb ihn zum drittenmal an die Badezimmertür. Die verwehrte weiterhin den Zutritt, auch wenn er die Klinke etwas hochzog, mit dem Fuß unten gegen die Kante drückte, oder mit dem Handballen nahe dem Türrahmen klopfte.
Er lebte allein in seinem 3 1/2-Zimmerapartement im vierten Geschoß eines modernen Wohnkomplexes. Gestern abends war er recht spät aus der Druckerei gekommen, wo es Probleme wegen eines Plakates gegeben hatte, das für ein neues Produkt des Betriebes werben sollte. Bestimmte Farben waren anders als vorgesehen gedruckt worden. Eine wichtige Schriftreihe hatte schlichtweg gefehlt. Er lächelte in Erinnerung an das unglückliche Gesicht des Setzmeisters, der freilich alle Schuld auf den Lehrling abgeschoben hatte. Aus der Druckerei war Warnheimer direkt hierher nach Hause gefahren und wußte ganz sicher, daß er keinen Bekannten mehr eingeladen hatte. Warnheimer liebte Besuch nicht sonderlich und war meist froh, in seinen vier Wänden Ruhe zu haben. Soviel stand also fest, daß er allein in seinem Apartment war. Folglich konnte niemand anders auf dem Lokus sitzen. Da dieser aber versperrt war, konnte es sich nur um einen Traum handeln, den Warnheimer gerade träumte. Er stand, da ihm das wiederholte Laufen zurück ins Bett langsam blödsinnig vorkam, still und wartete, was nun geschehen werde. Der These mit dem Traum widersprach allerdings der Druck, welcher sich in ein handfestes Bauchgrimmen zu wandeln versprach, das ihn nervös von einem Bein auf das andere stapfen ließ.
Hatte er vielleicht unbewußt die Toilette abgeschlossen und den Schlüssel in Gedanken verlegt? Stecken tat er jedenfalls nicht von außen. War er Schlafwandler? Er bückte sich, um zu prüfen, was schlechterdings unmöglich war. Und doch: Der Schlüssel steckte von innen, von der anderen Seite.
Wie das?! Er überlegte schnell: Wer hätte von außen, im vierten Stock, durch das schmale Fenster im Bad einsteigen sollen, nur, um es abzuschließen? Aus welchem Grund denn auch?! Nein, wie absurd! Hatte sich vielleicht des Nachts, um ihn zu überraschen, ein Freund in die Wohnung eingeschlichen? Aber die Wohnungstür hatte er, wie es seine routinemäßige Angewohnheit war, abgesperrt, doppelt abgesperrt - der Schlüssel steckte ja noch - und obendrein ein Sicherheitskettchen vorgelegt.
Im übrigen gab es einen viel schwerwiegenderen Beweis: Es existierte gar kein Schlüssel für die Toilettentür. Den hatte er einst aus Vorsicht eigenhändig auf den Müll geworfen. Damals hatte er auch das Schild an der Tür befestigt, welches noch jetzt vor seiner Nase hing. Für den Fall, daß doch mal Gäste auftauchten. Wer dann das Klosett benutzte, mußte vorher das an einem starken Bindfaden hängende Schild umdrehen, sodaß Besetzt zu lesen stand, anstatt, wie zur Zeit: Freier Eintritt. Diese Einrichtung, welche schon für manchen Lacher seitens zufälliger Besucher gesorgt hatte, war von ihm aus Sicherheitsgründen gewählt worden. Für den Fall, daß er beim Baden einmal unglücklich ausgleiten und sich verletzen würde, so schwer, daß ihm womöglich das Aufsperren der Tür nicht mehr möglich sein könnte. Dann müßte es eventuellen Rettern erleichtert werden, ihm zur Hilfe zu kommen. Daher hatte er den Schlüssel gleich nach dem Einzug fortgeworfen. Mithin konnte er nicht von der anderen Seite...
Aber doch, kein Zweifel - er versicherte sich dessen ein zweites und drittes Mal - ging das mit rechten Dingen zu?
Er donnerte mit der Faust gegen die Tür: »Verdammt, was ist das? Steckt jemand da drinnen? Über solche Scherze kann ich gar nicht lachen! Wahrhaftig nicht!«
Nein, von Lachen konnte nicht die Rede sein. Vielmehr kniff der Bauch so, daß es ihm die Tränen in die Augen trieb. Nochmals trat er mit dem Fuß gegen die vermaledeite Tür, wobei er sich auch noch empfindlich an den Zehen weh tat. Darauf wollte er sich unverrichteter Dinge abwenden, als plötzlich leise, aber deutlich eine Stimme aus dem Badezimmer zu vernehmen war: »Geben Sie Ruhe, es ist ja lächerlich, wie Sie sich aufführen!«
Es - ... Es war also doch - doch jemand darinnen! Warnheimer, der gerade einen Fuß zum Schritt erhoben hatte, blieb vor Überraschung einen Moment in dieser Position; einbeinig wie ein Flamingo stand er und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.
»Also ist da doch jemand! Hören Sie, Sie befinden sich in meiner Wohnung! Wie immer Sie auch hineingelangt sind, ich fordere Sie auf, sofort zu öffnen und mich in mein Bad zu lassen. Sie haben kein Recht - ... Ich meine, es ist unerhört, daß - ... Ach was, ich halte hier doch keine langen Ansprachen! Raus, sage ich! Raus!!«
Keine Antwort auf sein Wüten. Er rief, befahl, brüllte, drohte - nichts. Er trommelte mit den Fäusten, stampfte und trampelte ohnmächtig vor Zorn - man würdigte ihn keiner Antwort. Vom Aufsperren ganz zu schweigen. Schließlich bewogen ihn die biologischen Naturgesetze, vorerst aufzugeben.
»Hören Sie, Sie können von Glück sagen, daß mich ein inwendiges Bedürfnis zwingt - ... Kurz, ich werde zur Frau Elsbach gehen und um Erlaubnis bitten, ihre Toilette benutzen zu dürfen. Wenn ich jedoch zurück bin, rate ich Ihnen, daß Sie sich dann hier nicht mehr vorfinden. Ohnehin werde ich natürlich die Polizei benachrichtigen. Der dürfte es kein Problem sein, diese Tür aufzubrechen und Sie wegzuschaffen! Nutzen Sie lieber die Frist, hauen Sie ab, solange Ihnen Zeit dazu bleibt! Und ich warne Sie, sich damit aufzuhalten, meine Abwesenheit zum Stehlen in meiner Wohnung auszunutzen. Erstens steht hier nichts, was von besonderem Wert wäre, und zweitens werde ich natürlich schnellstmöglich wieder zurückkehren und Ihnen nachsetzen, wenn irgendetwas fehlt. Also, trollen Sie sich lieber! Ich weiß nicht, warum ich Ihnen so freundliche Ratschläge erteile!«
***

Frau Elsbach öffnete erst nach dem dritten Klingeln. Aus allgemeiner Vorsicht hatte auch sie eine Sicherheitskette vorgelegt und lugte durch den Schlitz der Tür, um, als sie den Nachbarn erkannte hatte, nocheinmal zu schließen und mit einem Klicken das Kettchen zu lösen. Dann öffnete sie ganz.
»Ja, guten Morgen, Herr Warnheimer, das ist ja eine...! Was verschafft mir die Ehre? Ja, ich bitte Sie, kommen Sie doch herein! So in dem leichten Pyjama und barfuß! Da holt man sich doch den Tod im Treppenhaus! Wo die von der Hausverwaltung ja zu geizig sind, hier zu heizen. Aber bitte, bitte sehr, treten Sie ein, kommen Sie! Womit kann ich Ihnen dienen? Fehlt das Salz zum Frühstücksei? Hahaha, kleiner Scherz, hihihi... Kommen Sie, ja, nun ziern'se sich man nicht! Hier herein, ins Wohnzimmer! Mein Mann ist schon zur Arbeit, na, Sie wissen ja, diese neue Wochenendregelung. Wird aber gut bezahlt, kann ich Ihnen sagen, wirklich gut bezahlt. Und dafür hat er dann ja über die Woche drei Tage, wo wir zusammen in aller Ruhe einkaufen gehen können. Hat ja doch seine Vorteile, finn'se nicht? Ich sage immer, die Gewerkschaften solln sich nicht so anstellen. Das sind doch nur diese Funktionärsbonzen, die den Trubel veranstalten. Bloß um zu zeigen, daß die nicht umsonst von den Beiträgen aus der Gewerkschaftskasse... Ich meine, ich versteh davon ja eigentlich nicht so viel, meine Mann kennt sich bei sowas ja besser aus. Aber sagen Sie, Herr Warnheimer, was haben'se auf'm Herzen, ich sehe, daß es Sie drängt?!«
Er wischte sich einen Schweißtropfen von der Schläfe: »Wissen Sie, das ist so: Meine Toilettenspülung ist defekt. Da wollte ich höflich anfragen, ob ich vielleicht die Ihre benutzen dürfte? Sehen Sie, jetzt am Wochenende findet sich doch kein Installateur, der sowas ohne deftigen Zuschlag repariert, und - ja, da wollte ich Sie halt um Erlaubnis fragen...«
»Aber selbstverständlich, Herr Warnheimer! Ja, sowas bedarf doch keiner langen Erklärungen! Ich bitte Sie: Wozu hat man schließlich Nachbarn, nicht wahr? Ja kommen Sie nur, hier entlang, dort hinten, sehen Sie die letzte Tür, links, da ist unser gewissen Örtchen. hihihi... Allerdings - oh weh, das hatte ich ja ganz vergessen! Toilettenpapier fehlt. Ich wollte ja eben - Sie sehen mich ja schon im Straßenmantel - also eben wollte ich welches holen gehen, also nicht nur Toilettenpapier, man braucht ja auch sonst noch so einiges, aber eben auch das Papier. Tja, nun...«
Herr Warnheimer war der Verzweiflung nahe: »Das macht überhaupt nichts. Ich brauche eigentlich gar keines. Bei uns Männern sind die kleinen Geschäfte ja... Und übrigens habe ich zufällig zwei Tempotaschentücher hier in der Tasche (er ballte die Faust in der Pyjamatasche, um dort Volumen vorzutäuschen) - das geht schon in Ordnung, keine Sorge! Nur, ob ich jetzt vielleicht dürfte? Es ist wirklich ziemlich dringend, Sie verstehen?...«
Frau Elsbach, die über die kleinen Geschäfte der Männer kokett gelächelt hatte, war das personifizierte Verständnis: »Jaja, keine langen Worte, gehen Sie nur, es ist ja unverantwortlich, Sie hier aufzuhalten, also, hinten links, die Tür mit dem Zeichen, bitte schön, husch husch!«
Mühsam beherrschte er sich, die fünf, sechs Schritte bis zum Elsbacher Badezimmer in angemessener Würde zurückzulegen; als er nun drinnen war, schloß er mit einem erleichterten Aufatmen ab, um sich der Toilette zuzuwenden - - -.
Auf dem Rande der Badewanne saß ein sorgfältig und vornehm gekleideter Herr mit Zylinder und lächelte ihn an.
»Oh, Entschuldigung?!«, fragte Warnheimer, und in seinem Kopf war kein Gedanke.
»Guten Tag!«, grüßte der andere freundlich und lüpfte seine Kopfbedeckung. Ein aufwendig gezwirbelter Schnurrbart drehte sich in gewagten Spiralen weit über die seitlichen Grenzen des Gesichts hinaus.
»Guten Tag, ja.«, beeilte sich Warnheimer, die versäumte Höflichkeit nachzuholen. »Äh - Frau Elsbach sagte mir, ich dürfe die Toilette hier benutzen. Aber ich - ähem, ich - störe Sie wohl?«, erkundigte er sich vorsichtig und war im Begriffe, die Tür wieder aufzuschließen.
»Nein, warum? Überhaupt nicht! Bleiben Sie nur, von Stören kann keine Rede sein!«, beteuerte der fremde Herr und machte eine weitausholende Handbewegung, als wolle er Warnheimer zu einem Fest einladen.
»Sie - äh - Sie haben hier nichts Dringendes zu erledigen, Herr -...?«
»Nein, ich persönlich, ich habe hier nichts Dringendes zu erledigen.«, antwortete der Fremde und zwirbelte wie zum Zeitvertreib den außerordentlichen Schnurrbart. Auf die Idee, seinen Namen zu nennen, verfiel er nicht. Lange Zeit, jetzt die Absichten und Beweggründe des anderen zu prüfen, konnte Warnheimer sich unmöglich nehmen, schon spürte er einen Tropfen Feuchtigkeit, welcher sich gegen allen Widerstand bis in die Pyjamahose vorgekämpft hatte. Es bedurfte einiger Konzentration, den Schließmuskel zu beherrschen.
»Wissen Sie, Herr -... Es ist so, daß meine eigene Toilette funktionsuntüchtig ist, vielmehr die Spülung, und da war Frau Elsbach so freundlich, mir hier die Möglichkeit zu geben...«
»Ohne Toilettenpapier?«
»Oh ja, ich meine - äh - nein, also das ist so, also, hier habe ich ein Tempotaschentuch, wissen Sie, das, ich...«
»Hhm. Soso!«, sagte der mit dem Schnurrbart.
Warnheimer lief der Schweiß, als sei er eine lange Treppe heraufgestürmt. Er hatte wahrhaftig keine Zeit zu diskutieren. »Ach, ich bitte Sie, würden Sie mich entschuldigen... Ich meine, ich würde jetzt gerne die Toilette benutzen, wenn es Ihnen nichts ausmacht und Sie selber nichts Dringendes zu erledigen haben, wie Sie sagten... Freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben!«
»Tun Sie sich keinen Zwang an, das Klosett steht Ihnen zur freien Verfügung!«, lächelte der andere mehr, als daß er sprach. Dazu deutete er ein Platzmachen und Vortrittlassen an, indem er einen Fuß noch näher an die Badewanne zog und sich in seiner sitzenden Stellung leicht verbeugte.
»Aber verstehen Sie nicht? Ich muß Groß!«, rief Warnheimer ungeduldig.
»Ja doch, ganz wie Ihnen beliebt, klein oder groß - nur zu, auch wenn Ihnen vielleicht das Toilettenpapier fehlen sollte...« Der saß da wie festgemauert.
»Aber können Sie nicht bitte solange nach draußen gehen?« Warnheimer war ganz betroffen von solch einem Mangel an Taktgefühl.
»Nein, das kann ich nicht.«
»So, das können Sie also - äh - nicht?« Es handelte sich um einen Scherz, sicher war das ein Scherz, der sich gleich aufklären würde. Warnheimer lächelte vorsichtshalber verkniffen. Weshalb die Leute immer in den falschen Momenten scherzen mußten? »Und wenn die Frage nicht indiskret erscheint - äh - wieso? Ich meine, welcher Grund hält Sie hier fest?«
»Sie.«, sagte der andere. Als langweile ihn das Gespräch über alle Maßen, stocherte er mit irgendeinem Span hinter vorgehaltener Hand zwischen den Zähnen.
»Ich? Ich sollte Sie hier...? Aber - ach so!« Warnheimer wollte befreit auflachen, was allerdings nur halb gelang. »Natürlich, die Tür! Aber ich sagte doch, ich meine, sofort, ja gleich. Werde Sie hier doch nicht einschließen! Bitte schön, schon offen, die Tür ist auf, nicht wahr, Sie können gehen. Oh, was für ein dummes Mißverständnis, hier, bitte, kein Problem... Möchten Sie jetzt nicht gehen? Ich halte Sie nicht!«
»Sie mißverstehen.«, sagte der Schnurrbärtige, stand auf, legte die Hände hinter seinem Rücken ineinander und begann, in dem beschränkten Raum des Badezimmers auf und ab zu gehen. So, wie einst der Grundschullehrer Warnheimers. Mit dem hatte der Zylinderträger, wenn man vom Schnurrbart absah, verblüffende Ähnlichkeit. Besonders, wenn er nun so hin und her schritt, den Blick wie in Gedanken über den Spiegel, die Ablage mit den Kämmen, Bürsten und Tuben, das Milchglasfenster, die weinroten Fliesen, die blauen Gardinen, die verloren wirkende Zimmerpalme schweifen lassend. »Ich bin allein Ihretwegen hier. Was hätte ich sonst wohl in einem mir völlig fremden Badezimmer zu schaffen? Ich habe auf Sie aufzupassen.«
»Auf mich aufpassen!«, wiederholte Warnheimer und probierte ein ungläubiges Schnauben durch die Nase. Ein Scherz! Ganz sicher, ein Scherz. Der allerdings etwas weit ging. »Nun hören Sie mal, mein Herr! Sie wollen mir Ihren Namen nicht nennen, was zu akzeptieren ist. Ich heiße Warnheimer und sehe keinen Grund, dies zu verhehlen. Nun gut. Sie überraschen mich in einer fremden Toilette und eine vage Ahnung sagt mir, daß ich Sie noch in Verbindung mit anderen Toilettenangelegenheiten zu sehen habe. Worüber wir jetzt aber nicht weiter sprechen wollen, weil das zu weit führte. Zu weit geht aber auch der Spaß, den Sie sich mit mir machen. Ich möchte das Klo benutzen, und es ist wirklich sehr - also sehr dringend ist es, falls Sie verstehen. Daß ich nachher, bei der Auflösung des Scherzes und Rätsels, welches Ihre Anwesenheit und Worte für mich noch sind, mitlachen, vielleicht am lautesten und unbeschwertesten lachen werde, glaube ich bestimmt. Aber nun möchte ich Sie vorerst bitten, mit dem Spaß sozusagen eine Pause einzulegen, denn irgendwo sind gewisse Grenzen. Passen Sie auf Leute auf, mit denen Sie zu tun haben! Ich jedoch bin Ihnen wildfremd. Sie waren zuerst hier im Bad, nun gut. Allerdings hat Frau Elsbach mir nichts von Ihnen gesagt, was zumindest ein fragwürdiges Licht auf Sie wirft. Streiten will ich mich indes nicht mit Ihnen, Sie mögen Gast der Familie Elsbach sein, ja schön, mit all diesen Dingen habe ich nichts zu tun. Da aber Frau Elsbach mir ihre ausdrückliche und, wie ich betonen will, freundlichste Erlaubnis erteilt hat, so besitze ich doch wohl auch irgendein Recht, das zu beachten und tolerieren ich Sie bitte. Passen Sie meinetwegen später, nach Erledigung meiner - meines Geschäftes, also wenn ich das erledigt habe, können Sie mit Ihrem Aufpassen fortfahren, wenn es Ihnen Vergnügen bereitet. Jetzt jedoch verlassen Sie bitte, ich bitte Sie inständigst, dieses Badezimmer!«
Warnheimer, der selten so lang an einem Stück sprach, und dessen Stimme ein wenig heiser geworden war, fühlte sich auf eine unbestimmte Weise im Unrecht. Daher war er bemüht gewesen, möglichst gewählt und freundlich zu formulieren. Nichtsdestotrotz hatte er sich wohl deutlich genug artikuliert und dieser Schnurrbartträger würde nun sicherlich... Aber nein, er machte keine Anstalten, sich zu entfernen, sondern blieb bei seinem gemessenen Aufundabschreiten durch das Badezimmer, während er Warnheimer belehrte: »Sie irren sich zum wiederholten Male. Es handelt sich keineswegs um einen Scherz, wenn ich Ihnen der Wahrheit gemäß entdecke, daß mein Auftrag lautet, Sie zu beobachten. Ich wüßte auch nicht, war daran scherzhaft zu nennen wäre? Nein, vielmehr steht als Tatsache fest: Ich wurde beauftragt, Sie zu beobachten. Und zwar in jedem Augenblick, jeder Sekunde. Nicht für einen Wimpernschlag darf ich Sie aus den Augen lassen. Weshalb es mir auch nicht erlaubt ist, Sie hier im Badezimmer allein zu lassen. Andererseits hindere ich Sie nicht, hier Ihrem doch nur natürlichen Bedürfnis zu entsprechen. Was sollte ich dagegen einzuwenden haben? Benützen Sie bitte schön diese Toilette und bekümmern Sie sich nicht weiter um mich!«
»Aber das ist doch...«, bemühte Warnheimer sich um Fassung, »Wer sollte Sie denn beauftragt haben? Es kann sich doch nur um eine Verwechslung handeln! Einen Eingriff in meine Intimsphäre, der durch nichts gerechtfertigt ist! Eine dumme Verwechslung, die mich hindert, eine Toilette zu -... Wer hat Sie beauftragt, das will ich jetzt sofort wissen!«
»Meine Auftraggeber darf ich Ihnen natürlich nicht benennen. Dabei handelt es sich um ein Dienstgeheimnis.« Der Fremde schüttelte bei diesen Worten den Kopf, wie aus Verwunderung, daß ein erwachsener Mann solch naive Fragen stellen konnte.
»Aber seien Sie versichert, es handelt sich auf keinen Fall um eine Verwechslung. Dafür garantiere ich Ihnen. Ein Fehler ist meinen Auftraggebern noch nie unterlaufen. Ich wurde Ihnen, Herrn Felix Warnheimer, zur Beobachtung zugeteilt, und das hat seine Richtigkeit. Was den Eingriff in Ihre Intimsphäre anbelangt, so ist der unter den vorliegenden Umständen schwerlich zu verhindern. Allerdings darf ich Ihnen versichern, daß meine Beobachtungen weitestmöglich geheim gehalten werden. Kein Unbefugter wird an Informationen über Sie gelangen.«
»Aber das ist doch Wahnwitz!«, rief Warnheimer in einem Tonfall aus, als bringe er ein unwiderlegbares Argument vor. Da der Fremde keine Anstalten machte, hierauf etwas zu erwidern, sondern nach wie vor mit aufreizender Gelassenheit auf und ab wanderte, mit leicht interessierten Blicken auf die buntgemusterten Waschlappen an den blitzenden Chromhaken - da für ihn also alle fraglichen Punkte zur Genüge erörtert schienen, mußte Warnheimer sich etwas einfallen lassen.
»Hören Sie! Was immer Sie oder Ihre obskuren Auftraggeber sich ausgedacht haben mögen, ich lasse es nicht zu! Abgesehen davon, daß Aktionen wie diese Beschattung von Einzelpersonen sicherlich gesetzwidrig sind, gegen das Grundgesetz verstoßen! Da es mir aber zum jetzigen Zeitpunkt aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist, mich an staatliche Institutionen - an die Polizei beispielsweise - zu wenden, werde ich, falls Sie nicht endlich meiner Aufforderung, das Bad zu verlassen, Folge leisten, meinen Interessen mit eigener Hand Nachdruck verleihen und also auch vor Gewaltanwendung nicht zurückschrecken!«
Das war nur so gesagt, als äußerste Drohung, als verzweifeltes Mittel, in der Überzeugung, vor solcher Entschiedenheit und unbändiger Entrüstung werde der Zylindermann kapitulieren und endlich das Zimmer verlassen. Vom Wort zur Tat zu schreiten, wäre Warnheimer nie eingefallen, in seinem ganzen Leben, auch als Knabe, war er noch nie in eine handgreifliche Auseinandersetzung geraten, die ernstzunehmende Ausmaße angenommen hätte. Wie erschrak er nun, als der Schnurrbärtige, anstatt sich beeindruckt zu zeigen, sein Aufab unterbrach und sich mit verschränkten Armen vor ihm aufbaute! Warnheimer schaute zu ihm empor wie zu einem Lastwagenkapitän, der droben in seiner Fahrerkabine thront.
»Mein lieber Freund!«, begann der Fremde, ein Schmunzeln nicht wirklich verbergend, »Zur Anwendung physischer Gewalt kann ich Ihnen kaum raten. Ihre Erzürnung verstehe ich nicht richtig; es mag sein, daß der mir unverständliche Zorn Ihnen außergewöhnliche Kräfte verleiht. Selbst in diesem Falle aber bestünde die Außergewöhnlichkeit Ihrer Kraft nur für Ihre Verhältnisse. Indes können Sie schon mit eigenen Augen sehen, daß ich Sie an Körperlänge um einen halben Meter, wenn nicht mehr, überrage. Sollte Ihnen dieser Unterschied noch nicht aufgefallen sein, so weise ich Sie jetzt darauf hin. Etwaige Hoffnungen, meine Körperkraft könnte meinem Maß nicht entsprechen, muß ich zunichte machen. Vielmehr bin ich für meine Aufgaben selbstverständlich vorbereitet worden. Meine Muskeln sind gut entwickelt, ich bin in mehreren fernöstlichen Kampfsportarten geübt, wo ich sogar Meistergrade errang. Das bedeutet nicht, daß ich zu Gewalttaten neigte, vielmehr bin ich durchaus friedliebend, pazifistisch, wenn Sie so wollen. Nur kann ich mich meiner Haut erwehren und sehe daher keine statistisch erhebliche Chance Ihrerseits, mir mit körperlicher Gewalt beizukommen. Nein, wirklich nicht.«, fügte er bestätigend hinzu, so, als prüfe er nocheinmal den Wahrheitsgehalt des Gesagten. »Im Übrigen bleibt es Ihnen unbenommen, die Polizei oder sonstwen einzuschalten, auch wenn ich mir nicht klar darüber bin, was Sie damit bezwecken sollten. Ich bewege mich bei der Ausübung meines Amtes vollkommen im Rahmen der Gesetze. Aber guter Freund, ich sehe Ihrem Gesichte an, daß andere, körperliche Sorgen Sie traktieren, und schlage darum vor, sich dieser zu entledigen. Ach ja, Sie können auch Ihr eigenes Bad wieder benutzen, für dessen Okkupation vorhin ich mich entschuldigen muß. Ich hatte dort einige Vorbereitungen zu treffen. Doch sehe ich ein, im Unrecht gewesen zu sein, als ich Sie deswegen ausschloß. Man rügte und tadelte mich deswegen schon, und es wurde mir für die Zukunft befohlen, jede ähnliche Einmischung und Einflußnahme zu unterlassen. Sie sehen, meine Auftraggeber sind um Disziplin und Rechtmäßigkeit sehr besorgt. Von nun ab werde ich nur noch als neutraler und wertfreier Beobachter an Ihrer Seite sein, darum bemüht, Ihren normalen Alltag, wie immer der auch aussehen mag, unberührt zu lassen. Sie dürfen - und sollen sogar - zukünftig leben und handeln wie bisher. Beachten Sie mich einfach nicht weiter. Gewaltanwendung - hier möchte ich meine Warnung lieber wiederholen - wäre aber ziemlich aussichtslos. Sie würden nur Kräfte vergeuden und vielleicht Ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.«
Das sah Warnheimer ein. Eine Prügelei hatte er ja ohnehin nicht ernsthaft erwogen. Alles andere lag aber nach wie vor im Dunkeln. Wer war dieser Kerl, der da weit über zwei Meter hinausragte, dessen Zylinder nur zwei Hand breit unter der Badezimmerlampe schwebte, auf üppigen Locken, welche zusammen mit dem Schnurrbart einen martialischen Eindruck erweckten? Wer war er, daß ihm offensichtlich die Fähigkeit verliehen war, durch Wände zu gehen (wie hätte er sonst an Warnheimer und Frau Elsbach vorbei von einem Bad in das andere kommen können?) und der die unsinnige und gleichzeitig freche Absicht hegte, ihn, Warnheimer, der dazu doch überhaupt keinen Anlaß bot, zu beobachten? Da reimte sich auch rein gar nichts! Wer zum Beispiel mochten die ominösen Auftraggeber sein, von denen der Beobachter sprach, als seien sie unfehlbar und als hätten ihre Anordnungen gleichsam Naturgesetzcharakter? War von dieser Seite vielleicht sogar Hilfe zu erwarten?
Aber all diese Fragen waren jetzt, wenn schon nicht nebensächlich, so doch zweitrangig. Die Aufregung hatte Warnheimers Bedürfnis nur noch dringender gemacht, es war ein schier nicht mehr aufzuhaltender Druck in seinen Gedärmen entstanden. Falls das Hin und Her so weiter ging, würde er noch in den Pyjama machen, trotz der ehemals besuchten Kurse für autogenes Training. Auf welche Weise auch immer - dieser Beobachter mußte fort.
»Hören Sie, ich kann unmöglich vor Ihnen die Hose herunterlassen und - also das können Sie doch nicht von mir verlangen, das verstößt gegen alle Anstandsregeln und... Mein Gott, Sie wollen doch nicht, daß ich in die Hose scheiße, oder?!« Warnheimer war dem Weinen nahe. Sein Beobachter machte ein mitleidiges Gesicht, aber unter dieses Mitleid war eine gute Portion Verständnislosigkeit gemischt. Er hob die Schultern und kehrte die Handflächen nach außen, wie um seine Machtlosigkeit, an den Umständen etwas zu ändern, zu beweisen.
»Sie müssen nicht in Ihre Hose machen, wer sollte sowas von Ihnen verlangen? Sie können doch die Toilette benutzen, sogar Ihre eigene, in Ihrer Wohnung, da haben Sie auch genügend Klopapier!«
»Aber ich kann nicht in Ihrer Anwesenheit, verdammt nochmal!«, schrie Warnheimer, Tränen in den Augen. Dann, wie gehetzt, fragte er: »Und wenn ich Ihnen Geld gebe? Es ist doch nur für zwei Minuten. Sie können meinetwegen vor der Tür warten. Wir sind hier vier Stockwerke über der Straße, da kann ich Ihnen aus dem Fenster nicht entwischen. Ich will auch nicht kleinlich sein. Tausend Merk biete ich Ihnen, ja wirklich, tausend Mark für zwei Minuten! Zwar habe ich die nicht hier, aber in meiner Wohnung sind sechshundert in bar und mehrere Euroschecks... Nur bitte, lassen Sie mich für zwei Minuten allein, ich flehe Sie an!«
Der Beobachter hatte sich auf die Fensterbank gesetzt, das eine Bein angewinkelt und mit dem Arm umschlungen. Er schaute durch die Scheibe, als könne er durch deren Struktur, die das Licht tausendfältig brach, etwas sehen. Mit abgewandtem Gesicht sagte er - und seine Stimme ließ die Scheibe leicht klirren: »Sie brauchen keine Bestechungsversuche zu unternehmen. Ich bin unbestechlich. Jede Sekunde habe ich Sie zu beobachten, so lautet mein Auftrag. Und zwei Minuten Versäumnis dieser Pflicht wären ein unentschuldbares Versagen bei der Ausübung meines Amtes. Ob es Ihnen nun angenehm ist oder nicht, Sie müssen Ihr Geschäft schon in meiner Gegenwart verrichten, wofür Sie sich aber nicht zu schämen brauchen. Keiner Handlung brauchen Sie sich vor mir zu schämen. Sie sind in keinerlei Weise eingeschränkt, selbst darin nicht, Verbrechen zu begehen. Damit fordere ich Sie nicht zu Verbrechen auf, informiere Sie aber - und das geht schon weit über meine Pflichten hinaus, ich könnte es Ihnen ebensogut auch verschweigen - daß Sie von mir auch beim Begehen eines Mordes nichts zu befürchten hätten. Ich bin sozusagen eine neutrale Kamera, betrachten Sie mich wie die Luft, die Sie umgibt. Solange meine Auftraggeber aber ihren Befehl nicht ändern oder widerrufen, sollten Sie sich damit abfinden.«
»Dann will ich in mein eigenes Klosett scheißen!«, rief Warnheimer mit einer grausamen, masochistischen Genugtuung bei dem Wort scheißen und behielt noch den Schimmer einer Hoffnung, Frau Elsbach werde, wenn er jetzt an ihr vorbeiginge, mit ihrer kräftig-natürlichen Alltäglichkeit den ganzen Spuk in Luft auflösen. Er betätigte die Spülung - woraufhin sich im Gesicht des Beobachters kein Fältchen verzog - schloß die Tür auf und ging den Flur entlang zur Küche, wo er mit Recht Frau Elsbach vermutete, die, in ihren Straßenmantel gehüllt und den Einkaufskorb in der Hand, wohl nur aus Höflichkeit und vielleicht auch aus Mißtrauen so lange auf ihn gewartet hatte.
»Ich danke Ihnen!«, sprach Warnheimer sie an, »Sie haben mir wirklich aus einer Verlegenheit geholfen.«
Er drehte sich, um zu erfahren, ob der Beobachter ihm folge, was zu seiner großen Betrübnis der Fall war. »Was diesen Herrn angeht, der da hinter mir kommt, so -...«
»Jaja, ich kenne ihn!«, beeilte Frau Elsbach sich zu sagen, als befürchte sie, Warnheimer könne im Falle des Weitersprechens Unanständiges äußern.
»Sie kennen Ihn?«, fragte Warnheimer überrascht, »Sie kennen Ihn wirklich? Nun, eigentlich logisch, schließlich traf ich ihn in Ihrer Wohnung an. Stellen Sie sich vor, er behauptet, den Auftrag zu haben, mich ständig zu beobachten. Haben Sie schon je so etwas gehört?!«
»Jaja!«, antwortete Frau Elsbach, hätte jedoch ebensogut neinnein sagen können. Ihr kam es ersichtlich darauf an, endlich zum Einkaufen zu kommen. Das Verhältnis des Nachbarn zu ihrem turmhohen Bekannten interessierte sie anscheinend überhaupt nicht.
»Sie können jederzeit wiederkommen, solange Ihre Spülung defekt ist. Wozu hat man schließlich Nachbarn, sag ich immer. Auch, wenn Sie sonst mal was brauchen, klingeln Sie ruhig! Mein Mann und ich, wir sind ja gern behilflich. Kommen Sie doch irgendwann mal zum Abendessen zu uns, Sie und Ihr Freund, mein Mann würde sich sicher auch darüber freuen.«
Während sie das alles einem harten Wasserstrahl gleich hervorsprudelte, war es Frau Elsbach irgendwie gelungen, Warnheimer und seinen Beobachter vor die Wohnungstür zu bugsieren, die sie nun von außen abschloß. Warnheimer wollte sie ins Vertrauen ziehen, um Hilfe bitte, auf die unmögliche Situation hinweisen, in die er durch den dreisten Beobachter geraten war - sie jedoch redete und redete, ließ sich einfach nicht unterbrechen, stieg schon, immer noch im Reden, die Treppenstufen hinab, war gleich vom Geländer verdeckt, hob zum Abschied nocheinmal die Hand, einen weiterhin angenehmen Tag wünschend, und war verschwunden. Nur die Absätze ihrer Schuhe konnte man noch durch das Treppenhaus hallen hören, wie sie auf die Stufen aus Marmorimitat klickerten.
»Frau Elsbach, so hören Sie doch!«, rief Warnheimer ihr nach, die sie doch seine einzige Aussicht auf Hilfe war, aber als Antwort wurde das Absatzklickern leiser und verhallte. Noch zwei, drei Sekunden stand er da, mit entmutigt hängenden Armen, dann, mit einem Satz, so schnell und weit, wie er ihn noch nie getan hatte, war er an seiner eigenen Wohnungstür, riß sie auf, schlüpfte hindurch, knallte sie raschestmöglich zu, drehte den Schlüssel zweimal um und ließ das Vorhängekettchen einrasten. Mit einem Seufzer der Erleichterung drehte er sich um.
Da stand sein Beobachter, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Kopf hin und her wiegend, als warte er schon länger. Das konnte doch nicht wahr sein! Ein Alptraum, ein schrecklicher Alptraum, gewiß! Warnheimer schossen jetzt die Tränen in die Augen. Tränen der Verzweiflung, der Ohnmacht und Angst. Er konnte sie nicht mehr zurückhalten, ebensowenig wie den Kot, der ihm jetzt, während er ergeben zur Toilette schlurfte, doch noch in letzter Sekunde den Pyjama besudelte.
Auf dem Klobrillenrand hockend, überließ er sich ganz dem Drang der Natur, der Entleerung des Darmes. Die verschmutzte Hose warf er wütend nach dem Beobachter, der ihr jedoch geschickt auswich. So saß er beim Kacken, der Herr Warnheimer. Ging es noch würdeloser? Der fremde Mann aber stand da und betrachtete ihn kühl, seinem Auftrag folgend.

***

Der Beobachter hatte sich im Badezimmer eingerichtet, sofern man von einer Einrichtung sprechen konnte. Über der Badewanne lag quer ein rohes, unbehandeltes Brett, auf welchem sich einige Papierblätter, ein Tintenfaß und eine altertümliche Schreibfeder fanden. Warnheimer warf alles miteinander selbstredend aus dem Fenster. Dies war seine Wohnung.
Kam er zwei Stunden später zurück ins Badezimmer, so waren jedoch ein neues Brett, neue Schreibutensilien aufgetaucht. Dabei hatte Warnheimer den Beobachter doch seinerseits die ganze Zeit über fest im Auge behalten. Schweigend ging er hin, nahm das Brett und warf es aus dem Fenster, unbekümmert, ob unten vielleicht jemand verletzt würde. So ging das drei, vier Male, dann wurde Warnheimer des Spielchens überdrüssig und beließ Brett, Faß und Feder an ihrem Platz. Allerdings nur so lange, bis er ein Bad zu nehmen gedächte, das schwor er sich: Dann würde der Krempel wieder hinausfliegen! Der Beobachter nahm diese Ankündigung ebenso gleichmütig hin, wie alle anderen Drohungen, Beleidigungen und Flüche, mit denen er bedacht wurde.
Natürlich haßte Warnheimer ihn. Vom ersten Augenblick an, wo er in Elsbachs Badezimmer gestanden hatte, bestand auf Warnheimers Seite eine unüberwindliche Abneigung gegen seinen Beobachter. Dieser Haß resultierte zuallererst aus seiner Ohnmacht, seinem Unvermögen, ihn loszuwerden.
Während der ersten Tage probierte er wahrlich alles aus. Nachdem die Toilettenangelegenheit - würdelos, unvergleichlich würdelos! - ihr Ende gefunden hatte, war sein erster Gang der zum Telefon. Er rief die Polizei an, schilderte den Sachverhalt. Ein ihm völlig fremder Mann sei in seine Wohnung eingedrungen und erdreiste sich, ihm überall hin, gleichsam als Schatten, zu folgen. Man versprach, einen Beamten vorbeizuschicken. Wirklich waren kaum zwanzig Minuten vergangen, bis es an der Wohnungstür schellte. Als Warnheimer öffnete, wollte er vor Genugtuung beinahe juchzen: gleich zwei Streifenmänner! Sie sahen sehr kräftig aus. Der zuerst Eintretende hatte die Arme etwas vom Körper abgespreizt, wie das bei Gewichthebern, Ringern und anderen Sportlern mit starken Armmuskeln manchmal der Fall ist. Der andere verhakte die Daumen lässig in den Hosentaschen und lenkte so den Blick auf die schwarz drohende Tasche am Gürtel, aus welcher vielsagend ein Pistolengriff ragte. Wie wollte der Beobachter sich solcher Autorität widersetzen?
»Bitte sehr, meine Herren!«, rief Warnheimer in Vorfreude auf die Verhaftung, »Dort ist er, der mich verfolgt und belästigt. Er hat meinen Hausfrieden gebrochen und ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn verhaften und lange einsperren!« Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Beobachter, und aus seiner Miene hätte man schließen können, es handele sich um ein ekles Insekt, das da gebeugten Hauptes hinter ihm am Rahmen der Küchentür lehnte.
Schon gingen die Hüter des Gesetzes schweren, wiegenden Schrittes auf dieses Insekt zu, gleich würden sie die Handschellen hervorziehen und den Alptraum einfach ins Gefängnis fortführen. Jetzt hob der breitarmige Sportler die Hand, jetzt streckte er sie aus, jetzt - gab er dem Beobachter freundschaftlich grüßend die Hand. Auch der Revolvermann klinkte den rechten Daumen aus der Hosentasche aus und begrüßte auf lockere, lässige Weise den Eindringling. Warnheimer war, in der sicheren Annahme, es werde eine gewalttätige Auseinandersetzung geben, ein paar Meter weit zum Schutz in das Treppenhaus zurückgetreten und konnte jetzt aus der Entfernung nicht verstehen, was Polizisten und Beobachter da leise miteinander verhandelten. Vielleicht sollte der Beobachter durch freundliche Appelle, durch vernünftiges Zureden zum Mitkommen bewegt werden. Beamte hatten in solchen Fällen sicherlich langjährige Berufserfahrung. Erst, als die drei gemeinsam lustig auflachten, wurde Warnheimer mißtrauisch.
»Wollen Sie jetzt dieses Subjekt bitte sehr verhaften, ich sage doch, daß er mich belästigt und ich Anzeige gegen ihn erstatten will!«, rief er den Beamten zu, die ihm mit lächelnden Mienen, so, als wirke ein guter Witz noch unter ihren Dienstmützen nach, entgegenkamen.
»Jaja, Herr Warnheimer, ist ja schon alles gut!«, sagte der eine zu ihm und hatte schon beide Daumen wieder fest verankert. Beim Sprechen neigte er den gesamten Oberkörper andeutungsweise vor und zurück und machte Pausen, um ein Kaugummi im Mund mit der Zunge zu verschieben. »Wir haben mit ihrem Freund alles besprochen und es besteht kein Anlaß zur Beunruhigung. Alles klar und geregelt, alles total geregelt, sag ich Ihnen! Wenn Sie mal wieder Probleme haben - nur keine falsche Scham - rufen Sie wieder bei der Wache an. Sie wissen ja: Die Polizei, dein Freund und Helfer. Wozu wären wir sonst auch da, nä?!«
Auch der zweite drückte sich an Warnheimer vorbei auf die Treppe und grüßte zum Abschied, indem er kurz zwei Finger an den Schild seiner Mütze führte: »Alles klar, nech!«
»Nein, nichts ist klar!«, rief Warnheimer verzweifelt und so laut, daß sich der Breitarmige die Ohren erschrocken mit flacher Hand zuhielt. »Was heißt klar und in Ordnung und anrufen, wenn ich Schwierigkeiten habe?! Sie sollen den da mitnehmen, jetzt sofort, er ist mein Problem! Deswegen habe ich Sie ja angerufen. Verdammt nochmal, verstehen Sie nicht?! Er ist der freche Eindringling, der penetrante Störenfried meiner Privatsphäre, ich verlange seine Fortschaffung und gestatte nicht, daß Sie mit ihm gemütlich plaudern!«
Die Beamten verständigten sich gegenseitig mit Blicken, ratlosem Augenbrauenheben und nachsichtigem Schulterzucken. So, wie man sich wortlos über ein schreiendes Kind einigt, welches partout ein süßes Eis haben will, obwohl das schließlich die Zähne ruiniert. Dann, um der peinlichen Situation zu entkommen, nickten sie nochmal mit verbindlichem Grinsen Warnheimer zu, legten zwei Finger an die Mützen und sprangen, jugendlich schwungvoll, die Treppen hinab, vier, fünf Stufen auf einmal nehmend.
Warnheimer lief hin zum Treppengeländer, beugte sich hinüber, so, daß er noch die Zwischenräume hinab bis ins Erdgeschoß durchblicken konnte, und schrie ihnen wild durcheinander Bitten, Flüche und Befehle nach. Ohne Erfolg.
Als er sich erschöpft zurückbeugte, bemerkte er, daß der Beobachter gleich ihm am Geländer stand und hinabgestarrt hatte, mit interessiertem, aber sonst ausdruckslosem Gesicht.
»Weg, weg!«, schrillte Warnheimer, dem Zusammenbruch nahe, und machte Handbewegungen, als wolle er eine Gruppe Hühner verscheuchen. Der Beobachter trat schnell einen Schritt zur Seite.

***

Wohin Warnheimer auch ging, der Beobachter folgte ihm. In die Geschäfte, die Straßenbahn, ins Postgebäude, den Fahrstuhl. Betreffend die Firma hatte Warnheimer befürchtet, sein Schatten werde dort auffallen und ihm auf diese Weise schaden. Deswegen hatte er sich telefonisch für zwei Tage krank gemeldet, während derer er im Stadtverkehr, bei einem Spaziergang im Wald, einem Besuch der städtischen Kunstsammlung und beim Schwimmen im Wellenbad versuchte, den Ungeliebten abzuschütteln. Vergeblich.
Als er nun am Mittwoch in die Firma kam - auf alle Ewigkeit hätte er es doch nicht rausschieben können - stellte sich bald heraus, daß sein Verfolger niemanden in irgendeiner Weise störte. Bei der auffallend großen Gestalt, dem Zylinder und dem Schnurrbart würde der doch Aufsehen erregen müssen, hatte Warnheimer gedacht. Nichts dergleichen: Selbst, als er zum Prokuristen ins Büro trat, hatte jener kaum einen Seitenblick für den Fremden übrig und kam sofort auf geschäftliche Dinge zu sprechen. Nicht, daß der Beobachter geradezu wie Luft behandelt worden wäre. Die meisten Mitarbeiter grüßten ihn wie einen flüchtigen Bekannten durch Kopfnicken, ein Lagerarbeiter hielt ihm sogar, als er Warnheimer einmal in zu weitem Abstand folgte, eine automatisch sich schließen wollende Tür auf. Wenn Warnheimer längere Besprechungen über irgendwelche Plakate hatte, sich mit seinen Gesprächs- und Geschäftspartnern über Entwürfe, Notizen und Akten beugte, geschah es, daß der Beobachter sich ein wenig zurückzog und hinten im Zimmer leise mit den Sekretärinnen tuschelte und scherzte. Er schien bei ihnen sehr beliebt zu sein und brachte mitunter kleine Geschenke für sie mit. Eine Blume, eine Schachtel Pralinen, auch mal ein hübsches Armband oder interessantes Buch.
Darüber war Warnheimer besonders erbost. Er stellte, da ihn der Versuch einer Einflußnahme auf den Beobachter inzwischen zwecklos dünkte, die Mädchen (alle Sekretärinnen waren außerordentlich jung) zur Rede: Was es für einen Grund habe, daß sie sich beschenken und beturteln ließen von einem Manne, dessen offensichtliches Bestreben es doch sei, sein, Warnheimers, Leben zu ruinieren? Ob sie sich alle gegen ihn zu verbünden beabsichtigten?
Die Mädchen waren beleidigt und gaben spitzig zur Antwort, daß sie Geschenke empfangen dürften, von wem es ihnen beliebe. Daß dies eine reine Privatangelegenheit wäre und sie nicht im geringsten an Warnheimers Leben interessiert seien. Im übrigen, sagte die hübschste und jüngste von ihnen, leise und zur Wand gewendet, aber doch so, daß Warnheimer es verstehen mußte - im übrigen frage sie sich, was an seinem Leben schon groß zu ruinieren sei? Dabei schüttete sie demonstrativ nachlässig Pulver aus einer Blechbüchse in den Filter der Kaffeemaschine.
Das tat Warnheimer weh, denn gerade in Bezug auf dieses Fräulein hatte er sich einst Hoffnungen gemacht. Wegen ihr war er früher unnötig gut angezogen, penibel gepflegt und betont langsam durch das Vorzimmer seines Arbeitsraumes gegangen und hatte obendrein überreichlich Kaffee getrunken (der ihm gar nicht gut bekam). Diese letztere Angewohnheit legte er nun, wo man seinem Beobachter zuweilen eine Tasse anbot, gänzlich ab.
Durch den Beobachter begann Warnheimer zu spüren, wie fremd er eigentlich in der Firma war. Man hielt dienstlich große Stücke auf ihn, keine Frage. Sein Wissen und Können wurden allseits anerkannt, in seinen Aufgabenbereich, die Werbung, die PR-Kampagnen, gab es keine Einmischung. Seine Kompetenz war gefragt. In der Produktgestaltung bat man manchmal um seinen Rat. Es standen erhebliche finanzielle Mittel zu seiner Verfügung: Der Werbeetat betrug mehr als ein Drittel der Investitionen. Man war also an seiner Mitarbeit interessiert, die sich für die Firma mit einigen Gewinnpunkten auszahlte. Niemand verweigerte ihm dafür einen entsprechend großzügigen Lohn. Der berechnete sich auf Umsatzbasis und wuchs fast mit jedem Quartal um zweistellige Prozentzahlen. Inflationsbereinigt...
Dieser rosigen geschäftlichen Seite entsprach das persönliche Verhältnis zu den anderen Angestellten der Firma nicht, wie er jetzt feststellen mußte. Man behandelte ihn respektvoll und freundlich, aber auch unverbindlich und distanziert. Aus beruflichem Ehrgeiz hatte er früher meist die Mittagspausen durchgearbeitet, anstatt sich zu den Mitarbeitern in die Kantine zu setzen. Sofern er nicht überhaupt geschäftlich unterwegs gewesen war. Mit Vornamen kannte er nur eine Hand voll Leute. Allein den Produktionsleiter, einen einsilbigen, langen Menschen mit Brille und Ellbogenschonern, duzte er, ohne ihm dadurch aber wirklich nahe zu stehen.
Was man mit ihm beredete, waren sachliche, firmenbezogenen Angelegenheiten. Schon über die Bundesligaergebnisse unterhielt man sich nicht mehr mit ihm. Und als in diesen Tagen ein langjähriger Bürogehilfe seine hölzerne Hochzeit feierte, fragte man Warnheimer zwar, ob er sich an dem Präsent mit ein paar Mark beteiligen wolle, zu dem gemeinsamen Kegelabend und nachherigen Essen in einem nahegelegenen Gasthaus lud man ihn jedoch nicht mit ein. Wohl, weil er früher ähnliche Angebote mit fadenscheinigen Ausreden ausgeschlagen hatte.
Solche Abkapselung und Absonderung waren ihm ehemals nicht aufgefallen. Oder wenn, waren sie ihm ganz recht gewesen. Auf diese Art hatte er seine Ruhe gehabt und den Vorzug, nach der Arbeit ganz von dieser gelöst zu sein und nicht während des Feierabends noch durch privaten Kontakt zu Firmenmitgliedern an geschäftliche Dinge erinnert zu werden. Aus dieser strengen Zweiteilung von Arbeit und Freizeit hatte er die Kraft und Konzentration geschöpft, die ihn in seinem Beruf so voranbrachten.
Seit er aber beobachtet wurde, zeigten sich die negativen Auswirkungen: Niemand unterstützte ihn, niemand tröstete ihn, es gab nicht mal jemanden, mit dem er sich über den Beobachter auch nur hätte unterhalten können. Man hörte einfach nicht zu, wenn er auf 'den Kerl mit seinem Zylinder' zu sprechen kam, der ihn 'auf unverschämte Weise' verfolge und belästige. Hier stellte es sich auch als Nachteil heraus, nur als freier Mitarbeiter eingestellt zu sein: So wichtig und wertvoll Warnheimer auch für die Firma war - er stand außerhalb jeder Hierarchie, hatte weder wirkliche Vorgesetzte, noch ihm unterstellte Mitarbeiter, die von seinem Wohlwollen abhängig, und damit gezwungen gewesen wären, auch auf seine persönlichen Probleme einzugehen.
Es war beispielsweise ein offenes Geheimnis, daß der Chef zur Zeit seines Scheidungsverfahrens oft einen Leiter der Buchhaltung in sein Büro zitiert hatte, zu dem einzigen Zweck, sich sein Herz zu erleichtern. Zwar hatte man darüber heimlich gespottet. Aber andererseits schien es dem Chef doch auch geholfen zu haben. Solche Möglichkeiten standen Warnheimer nicht offen.
Er aß jetzt des öfteren in der Kantine, um an der Tischunterhaltung teilzuhaben und um seinen persönlichen Kummer gegebenenfalls in diese einzubringen. Doch sosehr er auf alle Themen der anderen einging, um sie sich und seinem Anliegen gegenüber aufgeschlossener zu machen - er informierte sich neuerdings eingehend über Fußballergebnisse, Autofabrikate und die Partnerschaftskrisen des englischen Thronfolgers - sobald er auch nur die leiseste Bemerkung bezüglich des Beobachters machte, wendete man sich von ihm ab, sagte: »Jaja, schon gut!«, oder nicht einmal das, und guckte woanders hin, peinlich berührt und verärgert, wie wenn Warnheimer etwas ganz und gar Unfeines getan hätte. Die Botschaft solchen Benehmens war nur allzu klar: Man wollte keinesfalls in seine Angelegenheiten hineingezogen werden. Ob allerdings aus Furcht vor dem Beobachter und seinen Auftraggebern, oder weil man Warnheimer für jemanden hielt, der an krankhaftem Verfolgungswahn litt, war nicht zu entscheiden.
Obzwar Warnheimer der eigentlich Betroffene war, wußte er über den Beobachter wahrscheinlich am allerwenigsten. Nicht einmal die allgemeine Meinung über ihn kannte er. Daß sich alle Leute auf die gleiche, unverständliche Weise verhielten, sobald Warnheimer den Fremden erwähnte, zeigte doch, daß sie sich einig waren in ihrer Beurteilung und den daraus zu ziehenden Konsequenzen. Sicherlich tauschten sie sich in Abwesenheit des Beobachters äußerst gründlich über ihn aus und sprachen untereinander ihr Verhalten, ihre Reaktionen bis in Kleinigkeiten ab. Und der Umstand, daß sie sich so ganz und gar einig waren, belegte doch, daß es ausreichende und sehr überzeugende Gründe gab, den Beobachter so und nicht anders einzuschätzen. Allen, außer Warnheimer, waren diese Gründe bekannt: Der Frau Elsbach, den Polizisten, dem kleinsten Lagerarbeiter, dem Fahrkartenkontrolleur in der Straßenbahn (der den Beobachter nie nach seinem Fahrausweis fragte und diesbetreffende Bemerkungen Warnheimers mit einem bloßen, nachsichtigen Lächeln quittierte) und sämtlichen anderen Menschen, mit denen Warnheimer zusammentraf. Eine Zeit lang suchte er diese Kontakte, um möglichst von vielen Mitmenschen die Reaktionen zu überprüfen und vielleicht aus diesen sozusagen statistischen Anhalten hinter das dahinterliegende Gesetz zu kommen. Auch hegte er die Hoffnung, irgendwann einmal jemanden zu treffen, der uneingeweiht war, der ganz natürlich und instinktiv beim Anblick des Beobachters zusammenzucken, staunen und sich wundern würde. Den wollte Warnheimer dann ansprechen, von seiner Not unterrichten und eventuell um Hilfe bitten.
Weil davon auszugehen war, daß man zuerst seine gewöhnliche und nähere Umgebung eingeweiht hatte, wandte er sich gerade dorthin, wohin er bislang keinerlei Beziehung gehabt hatte. Er besuchte die verschiedensten Vereine, politischen und kulturellen Gruppierungen. Zu lärmenden Rockkonzerten pilgerte er und zu literarischen Lesungen. Aber weder in den brüllenden Massen der Fußballfans, noch bei Ballett- und Kinovorstellungen (bei denen Warnheimer sich immer in die erste Reihe setzte, hoffend, der Beobachter werde mit seinem Hut - den er nie abnahm - die hinter ihm Sitzenden wenigstens zum Schimpfen bewegen) zeigten sich Reaktionen hinsichtlich seines Begleiters. Im Theater beispielsweise wechselten die hinter Warnheimer und dem Beobachter Sitzenden entweder ihre Plätze, oder beugten sich ein wenig zur Seite. Sie murrten nie, wobei der Beobachter sich allerdings auch nach Kräften zusammenkrümmte oder aus Rücksicht auf die Treppen und Gänge hockte.
Selbst in den anrüchigsten Kneipen, Bars und Night-Clubs verhielt man sich, als nehme man den Beobachter nicht wahr, oder als gehöre er dazu, wie ein unter dem Tisch liegender Hund, der die Ohren spitzt und niemanden durch seine Gegenwart stört. Man sah ihn, aber er interessierte nicht. Ein ungeheures, ein gewaltiges Desinteresse galt dem Beobachter. Dieses Desinteresse, diese Ignoranz trieb Warnheimer zum Äußersten. Eines Nachts - denn daß dies nur nachts möglich sei, war ihm selbstverständlich - ging er zu einer Prostituierten.
Er folgte ihr hinauf in das für solche Zwecke eigens eingerichtete Zimmer eines billigen Hotels, das von ähnlicher Kundschaft zu existieren schien. Als sei er derartige Geschäfte gewohnt, hatte er der Dirne angekündigt, er ziehe die harte Tour vor und wolle auch gut zahlen. Worauf sie eine ganz sachliche Verhandlung begonnen hatte, über die Aufpreise diverser, Warnheimer kaum dem Namen nach bekannter Extras, darüber, daß sie sich nicht ernstlich verwunden lassen würde, wegen der Aids-Gefahr, daß die Sache ohne Gummi dreifach schon im Grundpreis kommen würde, und daß sie überdies seinen Personalausweis fordere, um im Falle einer Ansteckung ihn als Täter und Ansteckungsherd ermitteln und gegebenenfalls auf Schadensersatz verklagen zu können.
Warnheimer sagte zu allem Ja und Amen, die ganze Szene war ihm unsäglich peinlich. Auf einem abgewetzten Plüschsessel, genau unter der schweren Gardine des von einer Jalousie verschlossenen Fensters hatte der Beobachter sich gesetzt und sah wie immer ohne ersichtliche Beteiligung zu. Er störte die Nutte kaum, bellte und knurrte ja nicht einmal...
Als man nun handelseinig war, die Dame sich ihrer ohnedies nur dürftigen Kleidung ungeniert entledigte und Warnheimer aus einem Wandschrank ein Stachelhalsband reichte, daß er ihr bitte umlegen möge, verfiel dieser auf eine Idee: Sie solle zuerst mit seinem Begleiter geschlechtlichen Verkehrs pflegen, er wolle dabei zusehen, weil ihn sowas außerordentlich errege. Dabei blickte er aus den Augenwinkeln zum Beobachter, um dessen Reaktion zu erfahren. Es gab aber nichts zu erfahren. Jener verzog nicht eine Braue, als wisse er, daß die Frau die Angelegenheit für ihn regeln werde. Das tat sie auf die denkbar einfachste Weise. Sie fragte ihn einfach, ob er einverstanden sei, worauf er ruhig, aber bestimmt mit dem Kopf schüttelte. Als habe man einem Diabetiker ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte angeboten, so lehnte er bedauernd ab: »Nein danke!«
Gegen seinen Willen, so erklärte die Frau, könne sie selbstverständlich niemanden zum Geschlechtsverkehr zwingen. Womit das Thema für sie erledigt war.
»Ich wille es aber so!«, schrie Warnheimer, und es war schwer auszumachen, ob er die Beherrschungslosigkeit nun spielte oder nicht.
»Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen.«, erwiderte sie kühl. »Wenn Sie es wünschen, kann ich einen mir bekannten Boy rufen und Ihnen mit dem eine Sondervorstellung geben. Ich weise Sie jedoch darauf hin, daß Sie in einer Videokabine den Spaß wesentlich billiger haben könnten!«
Schon hatte sie die Hand auf einen ziemlich anstößig geformten Telefonhörer gelegt und sah ihn fragend an.
In Warnheimers Kopf drehte sich vor Enttäuschung, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung und Schamgefühl alles, und er kreischte, nun wirklich und ungespielt die Beherrschung verlierend: »Wenn Sie meine Wünsche nicht erfüllen wollen, dann pfeife ich auf Ihren ganzen Service! Stecken Sie ihn sich in... - an... - an den Hut meinetwegen!«
Worauf er aus dem Zimmer stürzen wollte, jedoch ersteinmal vergeblich an der Tür rüttelte, welche von dem Mädchen vorhin abgesperrt worden war.
»Ich will hier raus!«, brüllte er besessen, mit sich überschlagender Stimme. Der Schlüssel steckte, man hätte ihn nur herumdrehen brauchen. Wie einem vor der Tür heulenden Hunde kam der Beobachter Warnheimer zu Hilfe, drehte den Schlüssel im Schloß und öffnete mit einer einladenden Geste. Dabei nickte er der Prostituierten leicht, wie zum einvernehmlichen Abschied, zu. Jedenfalls meinte Warnheimer etwas derartiges zu bemerken - genau überprüfen konnte er es aber nicht mehr, denn schon setzte er, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab. Diese war steil, die Stiege war aus knarschendem Holz, ausgetreten und tückisch, und er war ganz damit beschäftigt, einen Sturz zu vermeiden. Von der Tür des Zimmers her, aus welchem er eben geflüchtet, drang rotes Licht in das ansonsten bis auf zwei Notausgangsleuchten dunkle Treppenhaus, sowie die Stimme der Dame, welche ihm nachrief: »Altes Arschloch!«
In einem Tonfall, als informiere sie ihn nur.

***

Nachts, wenn Warnheimer sich zum Schlafen niedergelegt hatte, zog der Beobachter sich ins Badezimmer zum Schreiben von Berichten zurück, wobei er allerdings Schlafzimmer- und Toilettentür offenstehen ließ, um den Blickkontakt nicht zu unterbrechen. Anfangs hatte Warnheimer einige dieser Berichte gestohlen: Einfach aus der Hand des Beobachters hatte er sie gerissen. Jedoch waren sie in einer Geheimschrift verfaßt, die mit keiner Warnheimer bekannten Schriftart irgendeine Ähnlichkeit aufwies. Die Anzahl der verschiedenen Zeichen schien unendlich zu sein, nicht zwei gleiche waren zu entdecken.
»Was ist das für eine Sprache, in der du da schreibst?«, fragte Warnheimer den Beobachter, den er seit kurzem duzte, um seine Verachtung für ihn auszudrücken. Der Beobachter, der - vielleicht aus Höflichkeit, nicht jedoch aus Überraschung - vom Badewannenrand aufgestanden war, antwortete, die Hände hinter dem Rücken ineinander verflochten: »Es ist die Sprache meiner Auftraggeber.«
»Und«, fragte Warnheimer in herrischem Inquisitionston weiter, »welcher Art ist die Sprache deiner Auftraggeber?«
»Das Ihnen zu sagen, bin ich nicht befugt.«
»Hhm.« Warnheimer strengte sich an, wenigstens in diesem Gespräch ruhige Überlegenheit und Sachlichkeit zu bewahren. Er schickte dem Beobachter einen abschätzigen Blick zu, wie einst den weniger bedeutenden Mitarbeitern, was sich allerdings schon allein des Größenunterschieds wegen lächerlich ausnahm.
»Berichtest du in diesem Geschreibsel über mich?«, wollte er wissen und zerriß eines der Blätter demonstrativ in kleine Schnipsel, die er ins Toilettenbecken streuselte und darauf die Spülung betätigte. Der Beobachter machte keine Anstalten, ihn an dieser Vernichtungsaktion zu hindern, sondern bestätigte nur: »Ja, das sind Berichte über Sie.«
»Und was steht in diesen Berichten?«
»Das bin ich nicht befugt, Ihnen zu sagen.«
»Nicht befugt, nicht befugt, so ein Unfug!«, empörte sich Warnheimer und hatte das Gefühl, seine Überlegenheit gleichsam auf einem Schiff fortfahren zu sehen (während er sie selbst die Gangway hinaufgeschoben hatte). »Ich müßte doch wenigstens das Recht zu wissen, welche Informationen du über mich weitergibst, haben!«, versuchte Warnheimer, sich durch komplizierte Syntax wieder einzufangen, das Schiff zu stoppen.
»Nein, dieses Recht haben Sie nicht.«
»Und warum nicht, wenn es gestattet ist zu fragen?!« - Ironie, Inquisition...
»Weil diese Berichte geheim sind. So geheim, daß außer meinen Auftraggebern niemand sie lesen darf. Schon, daß ich sie schreibe und also auch lesen kann, ist eigentlich ein Verstoß gegen die Geheimhaltungspflicht, läßt sich aber nicht vermeiden. Durch meine Anwesenheit soll Ihr alltägliches Leben so weit als möglich unberührt bleiben, wozu auch gehört, daß Sie nicht mehr von sich selbst erfahren, als vorher. Auch Ihnen gegenüber gilt also strikteste Geheimhaltung. Wüßten Sie, was über Sie berichtet wird, oder wie man Sie beurteilt, so könnten Sie leicht auf die Idee verfallen, das Gegenteil beweisen zu wollen, sich mithin unnatürlich verhalten.«
»Ich verhalte mich ohnehin unnatürlich, seit du anwesend bist!«, warf Warnheimer ein, »Wenn deine Auftraggeber an meiner normalen Lebensführung interessiert wären, so pfiffen sie dich zurück, weil du mich ja gerade daran hinderst.«
»Falls dies ihre Absicht ist, werden sie es tun. Im übrigen kann ich Sie nur ermuntern, sich durch mich nicht gestört zu fühlen. Finden Sie sich doch einfach damit ab, daß ich in Ihrer Nähe bin. Schließlich tue ich Ihnen nichts zu Leibe.«
So oder ähnlich verliefen viele Gespräche, die Warnheimer mit dem Beobachter führte. Am Ende war er immer so klug wie zuvor, nur noch ein Stück verzweifelter und hoffnungsloser. Auch konnte er die Abreise des Schiffes nie verhindern.
Einige Male noch stahl und vernichtete er die Berichte des Beobachters, dann ließ er es irgendwann bleiben. Ohnehin konnte der Beobachter seine Berichte ja während der Schlafenszeit Warnheimers verfassen und abschicken. Alle abzufangen war unmöglich. Hatte es einen Sinn, wahllos die einen zu beschlagnahmen und die anderen passieren zu lassen, obwohl nicht auszumachen war, welche ihn, Warnheimer, lobten, und welche ihn tadelten? War es nicht am besten und vernünftigsten, den Beobachter seinen Auftrag möglichst schnell zu Ende bringen zu lassen? In manchen Augenblicken überkam Warnheimer sogar der Verdacht, bei den Berichten handele es sich nur um Scheinberichte, die der Beobachter schrieb, um sich wichtig zu machen, oder seiner unverfrorenen Handlungsweise so etwas wie einen seriösen, verwaltungsartigen Anstrich zu geben. Wenn er seinen Verdacht aussprach, zuckte der Beobachter mit den Schultern. Was meinen sollte, daß es ihm schließlich egal sei, was Warnheimer von ihm halte. Er ginge lediglich seiner Arbeit nach.
An manchen Abenden lauschte Warnheimer dem Kritzeln der Feder, bis er in Schlaf versank, in einen Schlaf allerdings, welcher unruhig, von bösen Träumen durchsetzt und meistens nicht sehr stärkend war. Einst hatte er gut, fest und mit nur vereinzelten, aber immer schönen Träumen geschlafen. Doch seine Nerven waren nun auch während des Schlafes durch den Beobachter belastet, und dann wachte er mitten in der Nacht auf, das Pyjamaoberteil klebte ihm am zitternden Körper, oder er hatte das Bettzeug durch seinen Samen verunreinigt. Die Träume, die zu solchen Ergüssen führten, waren blutig, grausam, furchterregend; das Schlimmste an ihnen aber war, daß er sich oft nicht mehr an sie erinnern konnte.
Dies kam natürlich daher, daß er sich in Anwesenheit des Beobachters unmöglich befriedigen konnte. Ein paarmal war er drauf und dran, nur um den Beobachter zu schockieren, sich ein Porno-Video auszuleihen und bei dessen Betrachtung ausgiebigst zu onanieren. Aber das war denn doch zu tollkühn, und er ahnte, daß er unter den unerbittlichen Augen des Beobachters unmöglich zu einer Erektion gelangen werde. So mußte er die nächtlichen Peinlichkeiten in Kauf nehmen, sie gar vertuschen. Denn stand er aus seinem Bett auf, kam der Beobachter sofort aus dem Badezimmer, um zu überprüfen, was vorginge.
Schlaf schien der nicht zu brauchen, ebensowenig wie Nahrung. Der Beobachter benutzte nie die Toilette, wechselte nie die Kleidung. Man hätte annehmen können, es handele sich weniger um einen Menschen, als vielmehr um einen Geist. Wenn nicht seine Haare und sein Bart gewachsen wären. Einmal pro Woche stutzte er sie, das fand Warnheimer heraus. Vor dem Spiegel im Bad stehend, schnippelte der Beobachter mit einer kleinen Schere, hielt geschickt die Hand unter und warf die aufgefangenen Haarspitzen in die Toilette. Das Ergebnis dieser Frisiertage ließ sich immer sehen. Selbst am Hinterkopf vertat sich der Beobachter nie.
So begann Warnheimer seinerseits, den Beobachter zu beobachten. Wenn er des Nachts im Bett lag, überlegte und rechnete er, welche seiner Beobachtungen ihm zur Aufklärung des Rätsels dienen könnten. Zum Beispiel kam es doch ab und an vor, daß der Beobachter, während Warnheimer im Betrieb gerade besonders beschäftigt war, mit den Sekretärinnen und anderen jungen Mitarbeiterinnen einen Kaffee trank oder auch ein Stück Kuchen verzehrte. Nicht, ohne dessen Qualität ausdrücklich zu loben (denn die Mädchen hatten diese Kuchen ja eigenhändig gebacken). Wenn Warnheimer, zwar äußerst selten, aber doch dann und wann, in einem Restaurant oder Café etwas verzehrte, so bestellte auch der Beobachter etwas. Meist nur ein Getränk und wohl mehr aus Höflichkeit - aber immerhin. Warnheimer lud ihn auf diese Beobachtung hin ein, mal so richtig auf seine Kosten zu völlen. Dieses Angebot wurde angenommen, und zwar mit einem der Größe des Beobachters entsprechenden Appetit.
Wann jedoch benutzte er die Toilette? Und was befähigte ihn, tage- ja wochenlang auch ohne Nahrung auszukommen? Weshalb stank er noch nicht, wo Hemd, Hose und Jackett eindeutige Spuren der Benutzung trugen? Wäre der Fremde gleichsam zeitlos gewesen, hätten sich an ihm keine Zeichen der Veränderung durch die Zeit erkennen lassen, hätte er ganz auf jede Speise verzichtet - Warnheimer hätte sich damit abfinden könne. Es hätte sich um einen Geist, eine Halluzination und Einbildung gehandelt. Aber diese Verwischung zwischen Traumfigur und unbestreitbarer, habtischer Präsenz, diese Unentschiedenheit, Zwitterwesenheit zwischen Geist und Körper - sie machten den Beobachter unerträglich. Die Auftraggeber verschwanden immer mehr im Dunkeln.
Anfangs hatte Warnheimer geglaubt, irgendein Konkurrent könne dahinter stecken, andere Firmen, welche auf dem gleichen Markt wie die seine um Anteile kämpften. An unlauteren Wettbewerb hatte er gedacht, aber die Art und Weise, wie der Beobachter im Betrieb aufgenommen worden war, und der Umstand, daß er sich für die geschäftlichen Dinge nur insofern kümmerte, als sie Warnheimer angingen, schienen diese Möglichkeit auszuschließen. Als nächstes hatte Warnheimer an staatliche Verfolgung gedacht. Die Bemerkung des Beobachters, er bewege sich ganz auf dem Boden und innerhalb der Grenzen des Gesetzes, hatte den Schluß nahegelegt, es handele sich um einen Beamten vom BKA, vom Verfassungsschutz oder gar von Interpol. Deren Aktivitäten waren bekanntlich so undurchsichtig und oft auch einfach unmotiviert, daß es durchaus nicht unwahrscheinlich erschien, wenn sie ihn, Warnheimer, der per Zufall in ihre Computer geraten sein mochte, nun im Rahmen einer flächendeckenden Kampagne gegen Terrorismus oder Drogenhandel fälschlicherweise verdächtigten oder nur vorsorglich überprüften. Diese Erklärung hatte Warnheimer eine ganze Weile beschäftigt, er hatte sich in den Gesetzesbüchern der Stadtbibliothek kundig gemacht. Daraufhin schrieb er verschiedene Stellen an, bat um ein polizeiliches Führungszeugnis und darum, zu erfahren, was über ihn in öffentlichen Dateien gespeichert sei. Die Ergebnisse waren gleich Null. Die Schufa konnte ihm nur mitteilen, daß er ganz gewiß kreditwürdig sei, der Polizei lagen keine besonderen Informationen über ihn vor. Und als er sich nur probehalber bei einem Großbetrieb, der mit hochempfindlicher Rüstungstechnik handelte, um eine Stelle bewarb, bekam er überraschend schnell positiven Bescheid: Man suche in der Tat kompetente Mitarbeiter seines Faches und sein bisheriger beruflicher Weg sehe ja ganz vielversprechend aus... Staatliche Organe schienen nicht ihre Hände im Spiel zu haben.
Aus dem Beobachter indes war nach wie vor nichts Hilfreiches herauszubekommen. Oft suchte Warnheimer ihn in Gespräche zu verwickeln. Darauf ließ sich der Beobachter auch ein. Seine Antworten waren jedoch immer lakonisch, und zu den Fragen, deren Beantwortung Warnheimer weitergebracht hätte, äußerte er nur sein Bedauern, in dieser Hinsicht nicht befugt zu sein, Auskunft zu geben. Von sich aus stellte er nie Fragen.

***

Mit Warnheimer ging es stetig bergab. Sein Privatleben wurde trostlos, trostloser als je zuvor. Bei Frauen hatte er noch nie Erfolg gehabt. Die paar Ausnahmeepisoden ließen sich an einer Hand abzählen. Bis zum Erscheinen de Beobachters hatte Warnheimer sich jedoch wenig um das Liebesglück geschert, es war ihm vor allem um seine Karriere zu tun gewesen. Seine Rechnung hatte so ausgesehen, daß sich die Erfolge beim weiblichen Geschlecht ab einem gewissen beruflichen und somit gesellschaftlichen Stand ganz von selbst einstellen würden. Spätestens dann, wenn er mit dem Porsche bei der Firma vorführe.
Er hatte sich immer damit beruhigt, daß er ja gar keine Anstrengungen, jedenfalls keine gezielten, diese Bezeichnung wirklich verdienenden Anstrengungen auf diesem Sektor machte. Es wäre ihm - falls er gewollt hätte - doch jederzeit möglich gewesen, des Abends ins Theater, zum Tanzen oder zu anderen Veranstaltungen zu gehen, wo sich Kontakte von selber gefunden hätten. All die jungen Mitarbeiterinnen hatten ja danach ausgesehen, als warteten sie nur auf eine Einladung zum italienischen Essen bei Kerzenschein Diese bloßen Optionen hatten Warnheimer schon gereicht. Daß er sie niemals genutzt hatte, war wohlbegründet gewesen. Es hätte doch trotz aller Leichtigkeit unnötig Energien in Anspruch genommen. Man wußte ja, wie das so war: Frauen kosteten Zeit, Geld und Nerven. Für eine Handvoll Geborgenheit, Zweisamkeit und Sex mußte man übertrieben viel zahlen und opfern. Warnheimer hatte es vorgezogen, Fehlinvestitionen zu vermeiden, sich nicht auf solche Weise unnötig zu plagen, sich keinen weiblichen Klotz ans Bein zu binden und den ganzen Beziehungskistenkram, wie er nicht nur aus Bekanntenkreisen, sondern auch aus den Zeitschriften zur Genüge bekannt war, weit von sich zu halten.
Seine biologischen Bedürfnisse hatte er still und etwas verschämt vor den nächtlichen Ausstrahlungen eines einschlägigen Privatfernsehsenders, oder vor monatlich erscheinenden Hochglanzbroschüren ausgelebt. Das war billig und im Ergebnis ausreichend gewesen. Wenn er gewollt hätte, hätte er gekonnt, und das hatte ihm genügt.
Nun aber sahen die Dinge anders aus. Unvorstellbar, ein Rendevous mit einer Dame im Beisein des Beobachters zu haben. Welche nicht käufliche Frau hätte es ihm denn jetzt wohl erlaubt, intim zu werden? Die Mitarbeiterinnen, die ihm einst als so billige Beute erschienen waren - nun waren sie in unerreichbare Ferne entrückt. Die Jüngste, auf deren Beachtung Warnheimer ja auch schon vorher Wert gelegt hatte, die ihm damals immer den Kaffee gekocht und ihn (wie er sich mit leichtem Stolz eingeredet hatte) mit besonderer Aufmerksamkeit und Liebenswürdigkeit behandelt hatte, gerade sie war das deutlichste Beispiel für den Wandel. Sie grüßte ihn nach dem Zwischenfall mit den Geschenken nur noch beiläufig, um jeden Gefallen im Zusammenhang mit der Arbeit mußte er zwei- oder dreimal betteln, ehe sie scheinbar widerwillig und träge kooperierte. Anstattdessen flirtete sie unverhohlen mit dem Beobachter und ging eines Tages soweit, jenen mitten in der Arbeitszeit zu küssen. Das ließ Warnheimer natürlich nicht zu. Lautstark stellte er sie zur Rede. Was sie sich denke, ob sie vielleicht dafür bezahlt werde, hier herumzuknutschen? Warnheimer, auf dessen ersten Verweis der Beobachter sofort, wie erschrocken, von dem Mädchen weggetreten war, sodaß es aussah, als sei Warnheimer sein Herr und weit über ihn gestellt, Warnheimer spielte seine Macht aus. Er bewirkte beim Personalchef die Entlassung des Mädchens.
Was ihm bei den anderen überhaupt keine Sympathien verschaffte. Seitdem begrüßte man ihn nicht mehr oder nur unwirsch. Man behinderte ihn in seiner Arbeit, wo's möglich war, ohne daß es auffiel. Sowas hatte Auswirkungen, zumal Warnheimers Kräfte sichtlich litten und nachließen unter der zusätzlichen Belastung durch den Beobachter. Seine Nerven waren ständig auf's äußerste angespannt, er rieb sich an dem ergebnislosen Kampf beim Forschen nach den geheimnisvollen Auftraggebern auf. Sein Schlaf verdiente diese Bezeichnung kaum mehr, und, was erschwerend und Warnheimers Verfall stark beschleunigend hinzukam: Er aß kaum.
Dies hatte den einfachen Grund, daß jeder Gang zur Toilette für Warnheimer zu einer unbeschreiblichen Schmach wurde, zu einer Peinlichkeit, die ihm das Blut aus Verzweiflung in den Kopf trieb und in den Ohren toben ließ. Zuerst hatte sich sein Körper gesperrt, er hatte unter Verstopfung gelitten, unter Darmkrämpfen und Magendrücken, dann wieder hatte seine Verdauung eine Wende um hundertachzig Grad gemacht, das Gegessene war schnell und kaum verdaut in flüssiger Form wieder zu Tage getreten, von den unzähligen Malen, wo er sich übergeben mußte, gar nicht zu reden.
Der Beobachter sah bei all dem ungerührt, gnadenlos, ohne Kommentar zu, wie man einem Insekt zuschaut. Wenn Warnheimer auf der Toilette saß, vor Scham sich die Ohren zuhaltend, um die Geräusche, die sein Unterleib verursachte, nicht auch noch hören zu müssen, die Augen geschlossen, das Fenster zur sofortigen Belüftung aufgerissen - so stand der Beobachter dabei, blickte interessiert und machte sich vielleicht gar Notizen. Das war unmenschlich! Längst hatte Warnheimer es aufgegeben, den Beobachter anzuflehen, solange vor der Tür zu bleiben. Er beließ es jetzt dabei, diese Akte tiefster Demütigung nach Möglichkeit in ihrer Anzahl zu begrenzen.
Deswegen aß er kaum noch. Es schmeckte ihm nicht mehr. Anstattdessen trank er viel, Mineralwasser, Frucht- und Gemüsesäfte, Rinderbouillon und so weiter. Alles, was kräftigte, sättigte und in flüssiger Form im Pissoir wieder ausgeschieden werden konnte. Letztlich zehrte diese 'Ernährung' aber doch an seinen Kräften, er wurde zusehends hagerer, seine Wangen fielen ein, unter seinen Augen, die jetzt zumeist nervös zwinkerten, bildeten sich dunkle, lappige Ringe. Eine Müdigkeit, die ihm den Tag über wie eine Bürde aus Holz auf den Schultern lag, die aber nachts das Einschlafen nicht erleichterte, machte seine Hände zittern. Es kam häufiger vor, daß er kaum noch von einem Stuhl, in welchem er gesessen, aufzustehen vermochte, weil seine Knie weich und schwach nachgaben. Überhaupt schmerzten ihn viele Knochen im Körper, besonders die Schultergelenke schienen wie mit körnigem Sand bestreut zu sein und krachten bei vielen Bewegungen. Füße und Achselhöhlen begannen, übertrieben viel Schweiß zu produzieren. Trotz aller Verwendung von Deodorants meinte Warnheimer festzustellen, daß man in seiner Gegenwart sprichwörtlich die Nase zu rümpfen begann.
Als dann, von einem Tag auf den anderen, Kopfschmerzen eintraten - die Warnheimer insgeheim schon furchtvoll erwartet hatte - Migräneanfälle, deren Heftigkeit an die Schläge eines Hammers erinnerte, konnte von konzentrierter, erfolgreicher Arbeit in der Firma keine Rede mehr sein. An dem Tag, an welchem er um Urlaub hatte bitten wollen, wurde er zum Personalchef zitiert. Die Unterredung, der Warnheimer, trotz aller Bemühungen sich zu konzentrieren, nicht genau folgen konnte, hatte zum Ergebnis, daß ihm gewissermaßen gekündigt wurde: man habe eine Agentur gefunden, deren Ideen und Vorschläge eher zum Wesen der Firma paßten. Als einem Freiberufler, der Warnheimer ja rechtlich gewesen war, standen ihm auch keine großartigen Abfindungen oder Resturlaubszeiten zu. Der Chef, dessen freundschaftliche Haltung ihm gegenüber Warnheimer einst mit nicht geringem Stolz erfüllt hatte, ließ sich nun verleugnen, war für seinen Ex-Werbebeauftragten nicht mehr zu sprechen. So schnell ging das.
Warnheimer war arbeitslos. Drei Monate blieben ihm, dann würde er auf die Stütze angewiesen sein. Auf die neuerliche Bewerbung bei dem Rüstungskonzern, dessen erstes Angebot er dummerweise aus Loyalität abgelehnt hatte, bekam er nicht mal eine absagende Antwort. Schon war der Tag abzusehen, wo Warnheimer seine Wohnung nicht mehr würde halten können, wenngleich vorerst einige Ersparnisse da waren, die aufgezehrt werden konnten. Die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz indessen betrieb er halbherzig und nur mit dem zehnten Bruchteil seiner ehemaligen Kräfte. Ziellos irrte er auf Zeitungsannoncen hin durch die Stadt, aber jedem Bewerbungsgespräch folgte mit bedrückender Regelmäßigkeit eine mehr oder minder bedauernde Absage: ...müssen wir Ihnen leider mitteilen, daß wir uns bei der Besetzung der Stelle anderweitig entschieden haben. Wir wünschen Ihnen trotzdem viel Glück in ihrer beruflichen Laufbahn und verbleiben mit freundlichen Grüßen, Ihre Firma soundso...
Wenn Warnheimer an den spiegelnden Glasscheiben irgendwelcher Kaufhausauslagen vorbeiging, erschrak er manchmal richtig über seine Gestalt: Dürr wie er war, schlabberten seine Kleidungsstücke um ihn, als seien sie für jemand anders bestimmt. Seine Haare waren wirr und ungepflegt, am Kinn schattete Stoppelbart. Kurz hinter ihm aber schritt, mit unbeteiligter Miene, der Beobachter, hochaufragend über Warnheimer, wie ein Vater über seinen fünfjährigen Knaben.
Zu spät erst fielen ihm Möglichkeiten ein, die er gehabt hätte, den Beobachter loszuwerden. Wäre es nicht möglich gewesen, ihn mittels Intrigen zu diskreditieren? Hätte Warnheimer ihn nicht anonym anzeigen, schwerer Verbrechen beschuldigen können? Hatte nicht eine Gelegenheit bestanden, dem Beobachter zu entkommen, während der sich die Haare schnitt? Vor ein paar Wochen hätte Warnheimer da gewiß noch gute Chancen gehabt. Jetzt allerdings, wo ihn die entkräfteten Füße kaum mehr trugen, war es aussichtslos. Und überhaupt: Wohin hätte Warnheimer laufen sollen? Letztendlich hätte er ja doch wieder heimkehren, der Beobachter einfach nur im Bad auf ihn warten müssen. Und - so dämmerten jetzt abstruse Einfälle durch sein Hirn - was hätte Warnheimer ohne den Beobachter anfangen sollen?
Er vernachlässigte sich und hatte zu trinken begonnen.
Pickel, Ausschlag und Hämorrhoiden plagten ihn, er hustete oft, Schweißausbrüche stellten sich plötzlich und ohne erkennbare Anlässe ein. Eines Tages, wohl auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch, mußte er mitten auf der Straße zusammengebrochen sein.


***

Als er erwachte, lag er, rasiert, gewaschen und in einen hellblauen, frisch duftenden Pyjama gekleidet, im Bett des Krankenhauses. Gerade kam eine hübsche Schwester, deren Augen lustig blitzten, ins Zimmer. Als sie sah, daß er wach war, kam sie an sein Bett, tätschelte mit ihren gepflegten, schmalen und weichen Händchen seine eigene, knochige, von Ausschlag verunzierte Pranke und erkundigte sich, wie er sich befinde. Ob und was er denn zu essen wünsche? Sie zählte drei verschiedene Gerichte auf, zwischen denen er wählen durfte. Er entschied sich für die Königsberger Klopse in Kapernsauce mit Petersilienkartoffeln, kleinen Möhren und Erbsen. Worauf die Schwester sogleich einen appetitlich hergerichteten Teller unter einer Wärmehaube von dem fahrbaren Chromtisch, welchen sie hereingeschoben hatte, nahm und auf einen kleinen Tisch stellte, der mit einer sinnreichen Mechanik Warnheimer direkt und bequem vor die Brust geschwenkt werden konnte. Sie wünschte ihm guten Appetit, und Warnheimer versicherte, den zu haben. In seinem Nachbarbett lag ein älterer Herr mit Hörgerät, der sich gleichfalls für die Königsberger Klopse entschieden hatte. Die Schwester verabschiedete sich, und nun war Warnheimer mit diesem älteren Herrn allein. Jener erklärte, froh zu sein, endlich Gesellschaft zu haben, erzählte von den Gepflogenheiten in diesem Krankenhaus und fragte, ob Warnheimer wohl Schach spielen könne. Das konnte er und sicherte zu, gleich nach dem Mittagsschlaf für eine Partie zur Verfügung zu stehen.
Als Nachtisch gab es Pfirsichkompott, und Warnheimer, der von der Schwester gelobt wurde, weil er das Hauptgericht ratzputz, wie sie sich ausdrückte, aufgegessen hatte, wurde, so er mochte, sogar eine Extraportion Kuchen für den Nachmittag versprochen. Dann, sie wollte schon wieder gehen, erinnerte die Schwester sich an etwas, schnippte mit den Fingern und kam nochmal zu Warnheimer ans Bett.
»Hier, diesen Brief sollte ich Ihnen doch aushändigen!«, sagte sie und zog einen dünnen Umschlag tatsächlich aus dem Ausschnitt ihrer Bluse hervor. Er war hautwarm und duftete nach einem dezenten Parfüm. Die Schwester streichelte Warnheimer zum Abschied über die Stirn und schwebte dann aus dem Zimmer.
Warnheimer öffnete den Umschlag, darin ein kleiner, zusammengefalteter Zettel enthalten war:

Entschuldigen Sie meine Abwesenheit, wurde überraschend zum Empfang neuer Anweisungen abbeordert, kehre so rasch wie möglich zurück. Gruß,
Ihr Beobachter

Er las den Brief zweimal, lehnte sich zurück, wischte mit dem Ärmel etwas Speichel von den Lippen und fragte dann den Alten, ob der etwas dagegen habe, wenn das Fenster geöffnet würde. Hatte er nicht.
Von hier oben schweifte der Blick über einen herrlich weitläufigen Park in englischem Stil, drüben, von einem glitzernden See her, hörte man das Schlagen von Flügeln. Ein paar Schwäne erhoben sich schwerfällig vom Wasser in die Luft. Warnheimer sah ihnen nach, bis sie, unerträglich frei, im endlosen Blau des hellen Himmels sich verloren.
 



 
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