Der Bettler

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Jeden Tag sitzt er an der gleichen Straßenecke. Oftmals gehe ich an ihm vorbei, als würde ich ihn nicht bemerken, aber eines Tages bleibe ich stehen.

"Sagen Sie mein Herr, haben Sie denn keinen Hut?"

Er hebt seine Augen und sieht mich an. "Warum sollte ich einen Hut tragen?"

"Nicht zum Tragen", sage ich nachsichtig, "einen, den Sie vor sich auf das Pflaster legen, damit der eine oder andere wohlwollende Mensch sein Mitleid bekunden und es klimpern lassen kann. Eine kleine Schüssel aus Blech, wenn möglich arg verbeult, erfüllt denselben Zweck."

Er blickt mich erstaunt an. "Ich bin doch kein Bettler, wie kommen Sie auf diesen abwegigen Gedanken?"

"Ja, ich dachte …, ich glaubte …, was treiben Sie sonst hier auf der Straße?"

Beinahe mitleidig sieht er mich an. "Aha, so denken Sie also über mich. Da irren Sie aber gewaltig, mein lieber Freund. Ich sitze nur hier, weil ich überzählig geworden bin. Es hat mich im Leben ausgehoben und ich brauche mir darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Keine Arbeit wartet auf mich und darum sitze ich hier. Es ist mein Glück und mit niemandem möchte ich tauschen."

"Aber sagen Sie", werfe ich ein, "stört es Sie denn nicht, wenn die Menschen immer so schräg auf Sie hinunter schauen?"

"Nein, keineswegs, es kommt immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet. Nehmen Sie Platz und sehen Sie selbst, mein Herr."

Ich schaue nach links und rechts und setze mich.
Als ich eine Zeit lang da so neben ihm sitze und hinauf zu den vorbeigehenden Menschen sehe, wird es mir begreiflich, was er meint. Auf einmal bin ich für niemanden von Interesse. Ein seltsames, leichtes Gefühl, das sich nirgendwo einordnen lässt, macht sich in mir breit.

Er bemerkt mein Staunen. Wir freuen uns zusammen und tuscheln hinter vorgehaltener Hand, wie zwei Verbündete, die mit ihrem Tuscheln alleine sein möchten.

Nach einer Weile sagt er zu mir, dass meine Kleider zu vornehm seien, und dass ich das Gefühl mit all seinen Vorzügen nicht richtig wahrnehmen könne. Aber er ist klug und weiß Rat. Wir tauschen unsere Sachen und ich gestehe mir ein, er hat recht. In seinen Lumpen finde ich es grandios.

Auf einmal steht er auf und sagt, er wolle sich die Füße ein wenig vertreten. Er geht davon und ich bleibe noch eine Weile.
 

Herbstblatt

Mitglied
Hallo Gernot,

das regt ja regelrecht zum Nachahmen an! Es ist ja für die verschiedensten Bereiche von Interesse, die Perspektive zu wechseln. Wie seinerzeit der Großvater in Erwin Strittmatters "Der Laden" seinen Enkel kopfüber an der Decke laufen ließ. :)

Was mich interessieren würde - ist er wiedergekommen, der Nicht-Bettler? ...


LG Herbstblatt
 
Hallo liebes Herbstblatt

Ich frage dich, ist es wichtig, ob der Bettler zurückkehrt oder nicht?

Wenn er nicht mehr kommt, dann war alles nur eine Lüge, wenn doch, dann ..., ja, was ist dann ..., ist es vielleicht doch die Wahrheit.

Für mich kommt er zurück. Sollte es erwähnt sein?

schöne Grüße

Gernot
 
Jeden Tag sitzt er an der gleichen Straßenecke. Oftmals gehe ich an ihm vorbei, als würde ich ihn nicht bemerken, aber eines Tages bleibe ich stehen.

"Sagen Sie mein Herr, haben Sie denn keinen Hut?"

Er hebt seine Augen und sieht mich an. "Warum sollte ich einen Hut tragen?"

"Nicht zum Tragen", sage ich nachsichtig, "einen, den Sie vor sich auf das Pflaster legen, damit der eine oder andere wohlwollende Mensch sein Mitleid bekunden und es klimpern lassen kann. Eine kleine Schüssel aus Blech, wenn möglich arg verbeult, erfüllt denselben Zweck."

Er blickt mich erstaunt an. "Ich bin doch kein Bettler, wie kommen Sie auf diesen abwegigen Gedanken?"

"Ja, ich dachte …, ich glaubte …, was treiben Sie sonst hier auf der Straße?"

Beinahe mitleidig sieht er mich an. "Aha, so denken Sie also über mich. Da irren Sie aber gewaltig, mein lieber Freund. Ich sitze nur hier, weil ich überzählig geworden bin. Es hat mich im Leben ausgehoben und ich brauche mir darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Keine Arbeit wartet auf mich und darum sitze ich hier. Es ist mein Glück und mit niemandem möchte ich tauschen."

"Aber sagen Sie", werfe ich ein, "stört es Sie denn nicht, wenn die Menschen immer so schräg auf Sie hinunter schauen?"

"Nein, keineswegs, es kommt immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet. Nehmen Sie Platz und sehen Sie selbst, mein Herr."

Ich schaue nach links und rechts und setze mich.
Als ich eine Zeit lang da so neben ihm sitze und hinauf zu den vorbeigehenden Menschen sehe, wird es mir begreiflich, was er meint. Auf einmal bin ich für niemanden von Interesse. Ein seltsames, leichtes Gefühl, das sich nirgendwo einordnen lässt, macht sich in mir breit.

Er bemerkt mein Staunen. Wir freuen uns zusammen und tuscheln hinter vorgehaltener Hand, wie zwei Diebe, die mit ihrem Tuscheln alleine sein möchten.

Nach einer Weile sagt er zu mir, dass meine Kleider zu vornehm seien, und dass ich das Gefühl mit all seinen Vorzügen nicht richtig auskosten könne. Aber er ist klug und weiß Rat. Wir tauschen unsere Sachen und ich gestehe mir ein, er hat recht. In seinen Lumpen finde ich es grandios.

Auf einmal steht er auf und sagt, er wolle sich die Füße ein wenig vertreten. Er geht davon und ich bleibe noch eine Weile.
 
Jeden Tag sitzt er an der gleichen Straßenecke. Oftmals gehe ich an ihm vorbei, als würde ich ihn nicht bemerken, aber eines Tages bleibe ich stehen.

"Sagen Sie mein Herr, haben Sie denn keinen Hut?"

Er hebt seine Augen und sieht mich an. "Warum sollte ich einen Hut tragen?"

"Nicht zum Tragen", sage ich nachsichtig, "einen, den Sie vor sich auf das Pflaster legen, damit der eine oder andere wohlwollende Mensch sein Mitleid bekunden und es klimpern lassen kann. Eine kleine Schüssel aus Blech, wenn möglich arg verbeult, erfüllt denselben Zweck."

Er blickt mich erstaunt an. "Ich bin doch kein Bettler, wie kommen Sie auf diesen abwegigen Gedanken?"

"Ja, ich dachte …, ich glaubte …, was treiben Sie sonst hier auf der Straße?"

Beinahe mitleidig sieht er mich an. "Aha, so denken Sie also über mich. Da irren Sie aber gewaltig, mein lieber Freund. Ich sitze nur hier, weil ich überzählig geworden bin. Es hat mich im Leben ausgehoben und ich brauche mir darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Keine Arbeit wartet auf mich und darum sitze ich hier. Es ist mein Glück und mit niemandem möchte ich tauschen."

"Aber sagen Sie", werfe ich ein, "stört es Sie denn nicht, wenn die Menschen immer so schräg auf Sie hinunter schauen?"

"Nein, keineswegs, es kommt immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet. Nehmen Sie Platz und sehen Sie selbst, mein Herr."

Ich schaue nach links und rechts und setze mich.
Als ich eine Zeit lang da so neben ihm sitze und hinauf zu den vorbeigehenden Menschen sehe, wird es mir begreiflich, was er meint. Auf einmal bin ich für niemanden von Interesse. Ein seltsames, leichtes Gefühl, das sich nirgendwo einordnen lässt, macht sich in mir breit.

Er bemerkt mein Staunen. Wir freuen uns zusammen und tuscheln hinter vorgehaltener Hand, wie zwei Diebe, die mit ihrem Tuscheln alleine sein möchten.

Nach einer Weile sagt er zu mir, dass meine Kleider zu vornehm seien, und dass ich das Gefühl mit all seinen Vorzügen nicht völlig auskosten könne. Aber er ist klug und weiß Rat. Wir tauschen unsere Sachen und ich gestehe mir ein, er hat recht. In seinen Lumpen finde ich es grandios.

Auf einmal steht er auf und sagt, er wolle sich die Füße ein wenig vertreten. Er geht davon und ich bleibe noch eine Weile.
 
Jeden Tag sitzt er an der gleichen Straßenecke. Oftmals gehe ich an ihm vorbei, als würde ich ihn nicht bemerken, aber eines Tages bleibe ich stehen.

"Sagen Sie mein Herr, haben Sie denn keinen Hut?"

Er hebt seine Augen und sieht mich an. "Warum sollte ich einen Hut tragen?"

"Nicht zum Tragen", sage ich nachsichtig, "einen, den Sie vor sich auf das Pflaster legen, damit der eine oder andere wohlwollende Mensch sein Mitleid bekunden und es klimpern lassen kann. Eine kleine Schüssel aus Blech, wenn möglich arg verbeult, erfüllt denselben Zweck."

Er blickt mich erstaunt an. "Ich bin doch kein Bettler, wie kommen Sie auf diesen abwegigen Gedanken?"

"Ja, ich dachte …, ich glaubte …, was treiben Sie sonst hier auf der Straße?"

Beinahe mitleidig sieht er mich an. "Aha, so denken Sie also über mich. Da irren Sie aber gewaltig, mein lieber Freund. Ich sitze nur hier, weil ich überzählig geworden bin. Es hat mich im Leben ausgehoben und ich brauche mir darüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Keine Arbeit wartet auf mich und darum sitze ich hier. Es ist mein Glück und mit niemandem möchte ich tauschen."

"Aber sagen Sie", werfe ich ein, "stört es Sie denn nicht, wenn die Menschen immer so schräg auf Sie hinunter schauen?"

"Nein, keineswegs, es kommt immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtet. Nehmen Sie Platz und sehen Sie selbst, mein Herr."

Ich schaue nach links und rechts und setze mich.
Als ich eine Zeit lang da so neben ihm sitze und hinauf zu den vorbeigehenden Menschen sehe, wird es mir begreiflich, was er meint. Auf einmal bin ich für niemanden von Interesse. Ein seltsames, leichtes Gefühl, das sich nirgendwo einordnen lässt, macht sich in mir breit.

Er bemerkt mein Staunen. Wir freuen uns zusammen und tuscheln hinter vorgehaltener Hand, wie zwei Diebe, die mit ihrem Tuscheln alleine sein möchten.

Nach einer Weile sagt er zu mir, dass meine Kleider zu vornehm seien, und dass ich das Gefühl mit all seinen Vorzügen nicht völlig auskosten könne. Aber er ist klug und weiß Rat. Wir tauschen unsere Sachen und ich gestehe mir ein, er hat recht. In seinen Lumpen finde ich es grandios.

Auf einmal steht er auf und sagt, er wolle sich die Füße ein wenig vertreten. Er geht davon und ich sehe ihm hinterher.

Es dauert jedoch nicht lange und er kehrt zurück. Er hat ein bisschen Brot und Wurst mitgebracht. Er setzt sich wieder neben mich und wir lassen es uns schmecken.
 
ich war gerade mit dem Auto unterwegs, da ist mir Herbstblatt und ihre Frage eingefallen "was ist mit dem Bettler geschehen" und dann ist mir Karinina eingefallen, die mir schrieb, es fehlt etwas (auch wenn es zu anderen Texten war) und dann traf es mich wie ein Projektil, verdammt, es fehlt was, ich fuhr beinahe in eine Mauer.

Geädert! Geändert!

Gernot
 

Herbstblatt

Mitglied
Ja, Gernot,
irgendwie hat es gefehlt. Mein erster Impuls beim Lesen war: siehste, und wieder einer reingelegt!

Ist es nicht schlimm, dass man immer gleich den schlechtesten Fall annimmt??? Ich sollte mir über mein Menschenbild Gedanken machen.. :)

Sonntägliche Grüße vom
Herbstblatt
 

Herbstblatt

Mitglied
Ach ja, Gernot, ich hab auch beim Fahren die besten Gedanken. Irgendetwas löst das monotone Summen des Motors scheinbar aus....

LG Herbstblatt
 
*smile*, vielleicht sollten wir es mal mit Bus oder Zugfahren versuchen, da könnte man nebenher gleich mitschreiben.

auch dir Herbstblatt einen schönen Sonntag

Gernot
 
Hallo Gernot,

genau, im Zug geht es ganz wunderbar mit dem Schreiben :). Ich habe immer alles mit für eventuelle "Ergüsse".

Also, deine Geschichte hat mich sehr angesprochen. Es ist so wichtig, beide Seiten zu sehen. Nur dadurch kann man mehr erfahren. Genau so wie dein Protagonist.

Wieso hatte ich diesen schlechten Gedanken: der Bettler kommt nicht wieder? Du glaubst nicht Gernot, wie ich mich freute, dass deine Geschichte anders ausging. Da bin ich wie ein Kind.

Lieber Gruß,
Estrella
 
Hallo Estrella

Das schöne am Schreiben ist, dass man in seinen eigenen Geschichten alles machen kann, was man will. Schreiben ist manchmal wie träumen, man schreibt sich seine eigene Welt.

Eine Welt, in der es dir gefällt.

schöne Grüße

Gernot
 

steyrer

Mitglied
Ich dachte der Bettler käme wieder und fragt: Sagen Sie mein Herr, haben Sie denn keinen Hut? ;-)

Schöne Grüße
steyrer
 
Hallo steyrer

auch deine gedachte Variante hat seinen Reiz und ist wirklich gut. Aber ich möchte es nun so belassen. Die Nähe steht im Vordergrund.

schöne Grüße

Gernot
 

Grand

Mitglied
Lieber Gernot,

ich finde deine Geschichte bewegend & beeindruckend.

Wie die anderen hatte auch ich erst nur den schlechten Gedanken im Kopf. Diese Auflösung gefällt mir aber um vieles besser. Für mich persönlich sagt der Text sehr gelungen aus, dass der erste Eindruck sehr leicht täuschen und in die Irre führen kann und man deshalb immer auch die Hintergründe erfragen muss.

Schönen Gruß,
Grand
 

Ternessa

Mitglied
Hallo Gernot,

er löst zu viel, der Text-so aber nur mein Eindruck und für dich ein nettes Hinterfragen.

Ich würde ihn an manchen Stellen schon vorher schließen, damit der Leser selber weiter denkt. Und die Ansätze der Schließens bietest du sehr oft.
Warum gibst du dem Leser so viele Hintergründe?

Liebe Grüße
Ternessa
 

Herbstblatt

Mitglied
Lieber Gernot,
(gern auch für Estrella:))
außer meinem Notizbuch habe ich neuerdings auch ein Diktiergerät bei mir. Ich muss beruflich viel fahren, weite zusammenhängende Strecken, da hat sich das Teilchen schon gut bewährt! Ich hasse es, wenn meine Gedanken wieder flöten gehen :)

LG vom Herbstblatt
 
hallo Grand

danke für deine lobende Worte. Ja, leider leben wir in einer Welt der Vorurteile. Ertappe ich mich doch selbst auch immer wieder dabei. Aber wenn man es sich selbst eingesteht, kann man daran arbeiten und wird sicherlich manchmal, von ein wenig mehr Vertrauen in das Gute des Menschen, positiv überrascht sein.

So wie der Text ursprünglich eingestellt war, liebe Ternessa, so meinst du? Da ließ ich es offen, aber ein jeder dachte doch, der Bettler kehrt nicht mehr zurück. Um diese Zweifel auszuräumen, änderte ich dann auch, als ich es selbst erkannt hatte.

hallo Herbstblatt
*smile*, du bist wohl eine Frau, die immer gut vorsorgt hat. Wenn ich so weit wie du in der Weltgeschichte umherfahren müsste, dann würde ich mir auch so ein Kästchen, in das man hineinsprechen kann, kaufen, da bin ich mir sicher.

schöne Grüße Euch

Gernot
 
@ Ternessa

Für mich waren es nicht zu viel Hintergrundinformationen, obwohl ich sehr gern meiner Fantasie Spielraum gebe.

@ Herbstblatt

Bitte, kannst du mir per Online-Nachricht Infos über dein Diktiergerät geben? :)

Liebe Grüße,
Estrella
 

Clara

Mitglied
Hallo Gernot

also diese Geschichte - gut. Wirklich.
Aber um das Nachdenken noch im nachhinein noch mal blubberln zu lassen, fände ich auch die Idee von St*?
Den Bettler mit Wurst - die Frage stellen zu lassen: Mein Herr, haben Sie keinen Hut?

Das ist auch witzig und zeugt nicht gerade von einem tranigen Menschen, der herumdröhnt. Und im zweiten Schub denkt man dann an den Perspektivwechsel - ihr da oben, wir hier unten.

als ständiger Fotograf täten mir auch die nur-Beine, Taschen, Schuhe, Leiber und Kinder in den Blick fallen - denn wenn man redet, schaut man normalerweise nur betend nach oben.
Aber das muss nicht in die Geschichte - eher noch Gesprächsinhalte, angedeutete.
 



 
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