Der Brief

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teccla

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Es war in den bunten Siebzigern. Ihr Mann leistete seinen Dienst in der Armee der DDR. Sie waren frisch vermählt. Das Baby schon unterwegs.
Seit 18 Wochen war sie ohne Nachricht von ihm. Sie wusste nur, er soll irgendwo in der Ukraine mit seiner Einheit sein...
Jeden Tag wartete sie ungeduldig auf den Postboten. Jeden Tag schaute sie vergeblich in den leeren Briefkasten.
Und nun lag dieser Brief vor ihr.
Der Absender war seine Kaserne in der Nähe von Potsdam. Sie traute sich nicht den Brief zu öffnen.
Auf den Küchentisch fielen ein paar matte Strahlen der Wintersonne.
Die Küchenuhr tickte davon unberührt. Das Radio der Nachbarn war nur gedämpft zu hören.
Sie konnte sich einfach nicht überwinden, den Brief zu öffnen.
Wie lange saß sie nun schon in der kleinen Küche und starrte den Brief an?

Ein starker Kaffee, das wird gut sein. Wer weiß, was die mir mitteilen wollen...er hatte einen Unfall...oder es tut uns leid Ihnen mitteilen zu müssen...nein, ein Kaffee tut jetzt gut.

Das Baby im Leib regt sich. Sie hält sich den Bauch.
Nein, mein Kleiner, dein Papa wird wieder kommen, ganz gewiss.

Da klingelt das Telefon. Sie schreckt auf.
Die Schwiegermutti.
"Ja, ich habe ein Lebenszeichen … das heißt, ich weiß nicht, ob es eins ist. Wieso? Es ist ein Brief gekommen, ein amtliches Schreiben. So sieht es aus. Ja von seiner Kaserne. Bezirksamt Potsdam...Ja okay, ich mache dir einen Kaffee mit, dann warte ich auf dich."

Ruhe kehrt wieder ein. Die Nachbarn haben das Radio abgestellt.
Ab und zu brummt ein Auto vorbei. Sie hört das Rauschen des Schnees unter den Rädern.
Die Küchenuhr tickt geduldig. Der Kaffee röhrt durch die Maschine.

Ich werde sie mal wieder entkalken müssen.
Dieser Brief hat nicht mal ´ne Briefmarke.
Wie verschicken die so was?

Sie streicht sich über den Bauch. Der weiche Stoff vom Umstandskleid schmeichelt ihrer Haut. Der Kleine hat sich beruhigt.
Würde doch nicht ihr Herz so laut klopfen, sobald sie diesen bedrohlichen Brief berührt.

Ein Brief, was kann das schon sein..

So lange schon wartet sie auf seine Nachricht.
Nun liegt sie da.
Sie spürt den Bannkreis, der sie abstößt und jeden Versuch der Neugier und Sehnsucht nach zu geben, abwehrt.
Die Finger zittern, wenn sie danach greift.

Mein Gott, es ist kein Krieg.
Was hatte er erzählt … sie haben bei Übungen echte Granaten, richtige Waffen. Ja es gibt auch Unfälle... das hatte er erzählt.
Es soll immer ein LKW mit Särgen mitfahren, wenn sie zu einer Übung aufbrechen.

Und nun liegt dieser unselige Brief vor ihr.

Der Kaffee ist fertig, wo nur Luise bleibt, sie wollte doch sofort kommen.
Als sie sich kennen lernten, da war Luise ihr gleich sympathisch. Schon nach einer verliebten Woche hatte er um ihre Hand angehalten und sie seiner Mutter vorgestellt.

Luise ist eine Schmusemama, die man drücken und knuddeln kann. Diese Oma wird mein Kleiner lieben.

Als sie die zarte Porzellantasse aus dem Schrank nimmt, entgleitet ihr die Untertasse und zerspringt auf dem Boden in tausend Teile.
Auch das noch.

Die Türglocke singt ihr "Willkommen".
"Komm bitte rein, Luise. Entschuldige, ich war ungeschickt. Ich fege nur eben die Scherben zusammen... Ich bin aufgeregt? Ja, das bin ich. Bitte sage mir, dass dieser furchtbare Brief nichts Schlimmes bedeutet...Weißt du, ich hatte so einen merkwürdigen Traum letzte Nacht...“
„Auf unserer Hochzeit war ein Leutnant zu Gast. Er hatte zu später Stunde ziemlich getrunken. Erinnerst du dich? Warum ich das erzähle, Luise? Ich will dir erklären, warum ich so zittere, einen ganz normalen idiotischen Brief zu öffnen."
"Ja, der Blonde, der mit Dagmar flirtete. Der sagte, bei diesen Übungen rechnet man mit fünf Prozent Verlust an Mannmaterial.... Stell dir mal vor ´Mannmaterial´. Das sagte er. Und deshalb planen sie so viele Särge ein. Das ist einkalkuliert."
"Nein, ich bin nicht übergeschnappt."
"Gut, bitte, öffne du den Brief."
"Kann auch sein, er hat Mist gebaut und sitzt in Haft. Du kennst ja deinen Sohn."
Luise, die rundliche Frau fährt sich durch das ergraute Wirrhaar, streicht die Handflächen am Rock ab und nimmt den Umschlag, liest den Absender und zuckt die Schultern.

Sie schenkt Luise Kaffee ein und stellt die Tasse vorsichtig auf den Tisch. Den Blick immer wieder zu Luise und auf den Brief gerichtet, als würde sie keine Sekunde verpassen wollen.
Luise schaut sie an.
Was jetzt?
"Nein, ich möchte nicht selbst lesen, ich setze mich hier hin und du liest mir vor."
Luise wartet einige Sekunden, bis sie auf dem weißen Küchenstuhl eine gelassene Haltung präsentiert. Sie hält ihren Bauch, als könnte er abfallen, wenn sie nicht aufpasst.

"Meine liebe Maus. Ich hoffe dir und dem Kleinen geht es gut. Heute ist unser erster Hochzeitstag und ich denke schon den ganzen Tag an dich. Wir sind wieder in der Kaserne. Ich schiebe Dienst und hatte nur diesen Briefumschlag. Vielleicht merkt es keiner und ich spare die Briefmarken. Ich wünsche mir noch viele, viele Jahrestage mit dir. Der Urlaub wird noch eine Zeit..."

Luise schaut auf ihre Schwiegertochter, die schluchzend am Tisch in sich zusammenfällt und glücklich ins Taschentuch schnaubt.
"Danke Luise" heult sie lächelnd "du hattest Recht, es war kindisch von mir."
 

Clara

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hallo teccla
so kann man wohl nur reagieren, wenn man in Umständen ist - da gehts Frau schon mal durch

Insgesamt flüssig und anschaulich geschrieben -
der Schluss - hm, er mag ja noch ein Lausbub gewesen sein, der Göttergatte, und es war vielleihct der erste oder zweite Hochzeitstag - mag sein, dass es solche Männer gibt, die dann solche Worte verfassen - ich habe solche noch nicht kennengelernt. Insofern kommt es mir etwas gewollt daher. Zu glatt auch irgendwie.

Tee trinken zudem die meisten Schwangeren - in der DDR bestimmt noch eher . Irgendwie ist so ein Einsatz in Kambodscha in den bunten 70ern für mich ganz ganz fern - da ich da selbst erst 18 war und weiss gott eigene Probleme oder Abwechslung hatte.
 

teccla

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Clara

Ich danke dir für deinen Eindruck vom Text. Ja, solche Männer gibt es, besonders wenn sie noch recht jung sind. In der DDR wurde jung geheiratet (sonst bekam man keine Wohnung). Und der Hochzeitstag, es war der erste, denn sie erzählt ja von der Hochzeit im letzten Jahr.
Der Einsatz war eine Übung in der Ukraine, eine normales Manöver.
Viele Grüsse
angela
 

Retep

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Hallo teccla,
habe deine Geschichte gerne gelesen.
Kurze Einleitung mit notwendigen Hintergrundinformationen,besonderer Schauplatz, bestimmte Zeit.
Positiv fand ich den Zeitenwechsel in der Geschichte.
An einigen Stellen wird gezeigt, nicht erzählt.
Das Bewusstsein der Protagonistin wird nachvollziehbar widergespiegelt, der Leser kann Emotionen mitfühlen.
Eine schwangere Frau erhält eine Nachricht, befürchtet Schlimmes.
Ich war gespannt auf den Inhalt des Briefes.
Durch Einschübe hälst du einen Spannungsbogen bis zum Schluss.

Bei einer eventuellen Bearbeitung könntest du vielleicht noch mehr die Sinne ansprechen (5),
unnötige Adjektive vermeiden, den Schluss knapper gestalten.
(Die letzten drei Linien halte ich für unnötig.
Persönliche Meinung!)

Gruß Retep
 



 
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