Der Bürokrat

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Haarkranz

Mitglied
Der Bürokrat

Die Zukunft lag geplant und sicher vor Ottos Auge. Er würde im gehobenen Dienst der Zollbehörde seinen Weg machen, sich je nach opportunen Angeboten weiter qualifizieren. Die ersten zehn Jahre würden schwer werden, Illusionen machte er sich keine. Illusionen waren ihm in den bereits abgedienten Jahren abhanden gekommen. Nur so werden wie die Kollegen, hatte er sich geschworen, würde er nicht. Sein unmittelbarer Vorgesetzter, zwanzig Jahre älter als er, war ein freundlicher umgänglicher Mann, der nach Dienstschluß gerne mit dem jungen Kollegen ein Bier trank, um ihn für die Tiefen und Untiefen des Amtes manöverierfähig zu machen, wie er sich ausdrückte.
Nur waren die Hinweise und Erklärungen, die Kurt Solm, so hieß der Kollege, Otto zukommen ließ, in keiner Weise nach dessen Geschmack. Was er garnicht mochte, waren Kurts Erläuterungen zum Aktenstrecken, wie er das nannte.
Aktenstrecken ist die Basis eines glücklichen Beamtenlebens, war eine von Kurts Maximen. Finde dein Glück im Beruf, der Berufung, so wächst dir Tüchtigkeit von allein zu. Ottos Einwände und sein Widerstreben bügelte Kurt mit dem Hinweis auf seine zwanzigjährige Erfahrung nieder. Hätte ich diese Kunst nicht perfektioniert, wie es mir gottlob gelungen ist, säße ich heute nicht in geistiger und körperlicher Frische vor dir! Anders gehst du auf dem Amt ein, einfach ein, ich schwör‘s dir.
Wenn Kurt sein Quantum von vier Pils und vier Korn, nie trank er mehr, intus hatte, lief er zu hoher Form auf. Konnte Stunden damit verbringen, die Kunst des Aktenstreckens bis in die zartesten Verästelungen zu erläutern.
Meist begann er mit den Worten: Ein Bogen Papier ist erst dann amtlich, wenn du ihn oben in der rechten Ecke mit deiner winzigen Paraphe markiert hast. Diese Paraphe muss, wie gesagt, von äußerster Diskretion, für ein fremdes Auge fast unsichtbar sein. Diesen Bogen heftest du auf jedes, dir zu Bearbeitung zugeführte Aktenstück. Notieren wirst du in einer nur dir bekannten, von dir noch zu erfindenden Chiffre, folgendes:
Datum der Kenntnisnahme. Datum der Übernahme. Datum der ersten Einsichtnahme. Datum der ersten, zweiten, dritten ff Bearbeitung, ff fortfolgend ein wichtiger, nein der wichtigste Begriff im Zuge der Bearbeitung, weil durch viele ff Vorgänge die Bearbeitungszeit gestreckt wird, der Akt an Bedeutung gewinnt. Gewinnt, weil der Bearbeitende nicht immer zu gleicher Aufmerksamkeit, gleichem Durchblick fähig ist. So ist gewährleistet: Der Vorgang wird, wenn er weiterläuft zum nächsten Kollegen, bei Beurteilung und Bearbeitung in keiner Weise einer Laune, Unpässlichkeit oder sonstiger Trübung der Urteilskraft eines Einzelnen ausgesetzt.

Dagegen mag der Unerfahrene halten, man könne den, dem Vorgang innewohnenden Sachverhalt, auf der Stelle durchschauen, verstehen, beurteilen und abschließen!
Hört sich gut an, aber weit gefehlt. In Praxi äußerst verderblich. Die Komplexität der Gesetze und die ihnen innewohnende Gewalt, ist ein Laie nicht im Stande zu verstehen, geschweige zu beurteilen. Die Verabschieder der Gesetze, Parlamentarier, sämtlich ahnungs, nein arglos, in vielen Fällen hirnlos. Anwälte, beurlaubte Richter, überhaupt juristisches Personal, sowie Lehrer, dazwischen eingestreut Repräsentative. Auch Handwerker, Spediteure, Gewerkschaftler, Frauen als solche usw. usw., wie gesagt, Ahnungslose, im Grunde Unbefugte, jedenfalls nur auf Zeit Befugte.
Allemal zu kurz die Zeit, um in den Abgeordneten der gesetzgebenden Körperschaft ein Gefühl, ein Wissen, ich übernehme mich nicht, wenn ich behaupte, eine Gipfelschau auf die Gesetze und die ihnen Unterworfenen wachsen zu lassen. Von Gedeihen lassen, will ich nicht reden. Für Gedeihen sorgen kann nur der Beamte, der Beamte auf Lebenszeit.
Eine hohe Verantwortung, auch Ehre, Otto, das zeitlebens Beamter sein. Beamter bis zur Bahre! Welcher Berufsstand kann sich solcher Verbundenheit mit dem durchlebten, täglichen Tun berühmen? Wir, Otto, mit uns allenfalls noch die Priester!
Zurück zur Akte und dem ff.. Müssig in Abrede stellen zu wollen, dass kein Mensch der Welt schlüssig den Zustand von wichtig und unwichtig bestimmen kann. Immer werden bei Erörterung des warum und weshalb die Meinungen aufeinanderprallen. Trivialste Gründe werden zur Verteidigung der einen oder der anderen Anschauungsweise ins Feld geführt. Warum das so ist ? Wer weiß es? Beobachte eine Stunde lang drei seit Jahren befreundete Skatspieler, sogleich wirst du erkennen, wovon ich rede.
Wie diese dem ff innewohnende geheime Kraft dem Aktenstrecken entgegenkommt, wird von der Beamtenschaft verinnerlicht, verfestigt und an die nachfolgende Generation beamteter Diener des Gemeinwesens weitergereicht. So ist gewährleistet, dass amtliche Dienste auch in kommenden Epochen, vom Ethos des Beamtentums getragen, von unverändert hoher Qualität sein werden.
Soweit Kurt, und noch viel mehr. Nach ersten Versuchen zu widersprechen, Einwände zu formulieren, deren logische Kraft Kurts Thesen erschüttern sollten, so meine Hoffnung, gab ich auf.
Er hörte meiner Argumentation zwar gespannt und aufmerksam zu, um sogleich, nachdem ich geendet hatte, in seinen Erläuterungen und detaillierten Anmerkungen und Ausführungsbestimmungen das Aktenstrecken betreffend, fortzufahren, als ob ich nichts entgegnet, den Mund nicht aufgetan, nur ganz Ohr, ergeben ihm und seinen Ausführungen, gelauscht hätte.
Ich erkannte, mit der Zeit würde ich den immer und immer wieder vorgetragenen Argumenten meines älteren Kollegen und Förderers erliegen. Es war nämlich nicht nur Kurt, der mich zum Experten im Aktenstrecken machen wollte. Beileibe nicht! Alle Kurt Gleichgestellten, Simons, Baumans, Assmus, Brohl. Jeder von ihnen an einer Schnittstelle der Arbeitsorganisation des Amtes angesiedelt, waren Aktenstrecker, hatten die Aufgabe meiner Ausbildung lediglich an Kurt delegiert.
Es war nicht so, dass Aktenstrecken eine offizielle, vom Ministerium vorgegebene Arbeitsweise gewesen wäre. Wäre dem so, hätte sich das in dem umfangreichen Schrifttum, mit dem wir täglich von „oben“ bedacht wurden, niedergeschlagen. Zudem wäre es in den Ausbildungslehrgängen, unterrichtet worden. Andererseits drängte sich mir der Verdacht auf, auch die über uns angesiedelten Bediensteten waren eingefleischte Aktenstrecker.
Ich versuche es an einem Beispiel zu erläutern.
Eines morgens erhielt ich einen Vorgang zurück, den ich wegen des unwichtigen Inhalts im vorgegebenem Kästchen mit einem Haken versehen, direkt weitergeleitet hatte. Auf den Vorgang war ein Bogen geheftet, auf den mit grüner Tinte quer über die ganze Seite, „Sorgfalt!“ geschrieben stand.
Keine weitere Erläuterung. Ich untersuchte den Text Wort für Wort, ohne wirklich zu verstehen, wo ich es an Sorgfalt hatte mangeln lassen. Der Vorgang bezog sich auf eine bereits seit Monaten praktizierte Tatsache, an Stelle des Vordrucks Gr-f67-ab4, den Vordruck Gr-f67-ab5 zu verwenden.
Die Vordrucke unterschieden sich insofern, als da, wo der Zollpflichtige durch eigenhändige Unterschrift zu erklären hatte, er habe alle Angaben nach
bestem Wissen gemacht, er diese Unterschrift auf einer gepunkteten Linie zu leisten hatte, und nicht auf einer Linie, deren Kennzeichnung kleine, voneinander abgesetzte Striche waren, wie bei Vordruck Gr-f67-ab4.

Der Vordruck Gr-f67-ab5 war, als uns die Weisung von höherer Stelle erreichte, schon lange in Verwendung. Dazu sei angemerkt, Änderungen im Formularwesen, deren es ununterbrochen neue gab, konnten von den anwendenden Beamten nur ausgeführt werden, weil es von der Druckerei, die die neuen Formulare druckte, inoffizielle Hilfestellung gab.
Meist lief das so, dass bei der Anlieferung der neuen Vordrucke der Sachbearbeiter der Druckerei sich mit unserem Amtsleiter kurzschloss, um ihn von der veränderten Bestimmung zu unterrichten.
Wenn dann Weisung, die neuen Formblätter betreffend, von übergeordneter Stelle bei uns eintraf, waren die schon in Gebrauch.
Ein solches Formular, hatte ich mit dem Bestätigungsvermerk versehen, zurückgeleitet. Nur wo war ich nicht sorgfältig gewesen?
Kurt, da konnte nur Kurt helfen. Ich legte ihm den Akt wortlos auf seinen Tisch, deutete auf das große, drohende, quergeschriebene „Sorgfalt!“
Kurt überflog mit einem halben Blick das Formblatt, drehte den Kopf zur mir, der ich neben ihm stand, hoch, stieß mir einen skeptischen, missbilligenden Blick ins Auge, als ob er bis in mein Gewissen durchdringen wolle.
Was zum Teufel hatte ich angestellt? Kurt antwortete, obwohl ich nichts gesagt hatte:„Scheiße gebaut! Nicht zugehört! Zuwiderhandelt!“
„Was, wie, wodurch?“ meine Frage machte Kurts Stimme scharf, als er antwortete: „Vorgang am Tage des Eingangs erledigt, weitergegeben! Vorgang nicht an Kollegen weitergereicht! So kann man nicht arbeiten! Dieser Vorgang hat drei Monate gebraucht, bis er bei uns eingegangen ist, und du gibst ihn am Eingangstage erledigt zurück! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Willst du unbedingt einen Negativvermerk in deiner Personalakte?
Außerdem, darauf bezieht sich die Abmahnung „Sorgfalt“, hast du in dem Kasten „erledigt“, den Haken in blau ausgeführt, vorgegeben ist die Farbe rot!
So geht das nicht, Otto! Hast du mir nie zugehört, all die Abende unseres zwanglosen Seminars? Ich möchte dich in aller Freundschaft, Freundschaft ist das was die Kollegen und ich noch für dich empfinden, in aller Freundschaft auf eine Tatsache aufmerksam machen:
Es geht auch anders! Ganz anders! Will sagen, ich beende meine Arbeit an deiner Person. Überlasse dich den Tücken, den Mahlströmen des amtlichen Räderwerks. Wie oft, glaubst du, wird ein von dir bearbeiteter Akt zurückgewiesen werden? Ich beantworte die Frage für dich: Ständig!
Also lenke ein. Mir ist schon klar, dass reiner Widerborst dein Antrieb ist. Meinst du ich hätte nicht bemerkt, wie du, geduldig zwar im Zuhören, nicht annahmst, was ich, noch geduldiger dir gepredigt?. Es gibt nur diesen einen Weg, willst du im Amt reüssieren. Anderes werden die Kollegen und ich nicht akzeptieren. Kollegen, sag ich, hoffe jedoch, dir ist klar, wie lange wir dir noch Kollegen sein werden?“
„Ich habe schon verstanden, Kurt,“ lenkte ich kleinlaut ein. „Aktenstrecken oder keine Zukunft. Nur eine Frage erlaube mir. Als du die ersten Schritte auf dem Parcour hier getan, ist es dir da so ergangen wie mir? Hat dich auch ein älterer Kollege aufgeklärt, auf die Kunst des Aktenstreckens vorbereitet? Wie standest du dazu? Hast du dir vorgestellt, dass so etwas wie Aktenstrecken möglich sein könnte? Im Grunde ist das doch...“
„Sprich es nicht aus,“ knurrte Kurt. „ Vergiss es! Noch ist nichts gesagt, was uns entzweien, auf immer entzweien würde! Ich könnte dir nicht mehr helfen, Otto. Von jetzt ab wärest du auf dich allein gestellt. Denk nach, vor jeder Handlung im Amt, denk nach! Sorgfalt! Sorgfalt, nicht Geschwindigkeit ist unsere Stärke!“

Zwanzig Jahre später stand Otto am Tresen nämlicher Kneipe, einen Arm freundschaftlich um die Schulter eines unbehaglich, aber bescheiden zuhörenden Eleven gelegt....... „Aktenstrecken eine höchste Sensibilität verlangende Kunst,“ dozierte er.
 
H

HFleiss

Gast
Du hast dir tiefe und weitumfassende Gedanken über die Psyche des Bürokraten gemacht, gottlob nur, was das Sachgebiet betrifft. Dabei bist du in die ewige Falle der Beamtenschimpfe geraten, es scheint, um dieses Klischee kommt einer wohl bei diesem Thema nicht herum. Ja, es scheint sogar, du verwechselst hier den Beamten mit dem Bürokraten. Und Grundsatz Nummer 1, "Duck dich, wo du kannst" kommt mir auch ein bisschen zu kurz.

Der Stoff für diese Geschichte würde auf einer A4-Seite untergebracht sein, bei dir sind es etliche mehr. Also eine viel zu lange Geschichte, die entschieden gerafft werden könnte. Naja, und die Pointe reißt mich nicht gerade vom Hocker.

Du hast dir viel Mühe gegeben, das sieht man dem Text an. Schade, bei mehr Komprimierung wäre mehr herausgekommen.

Gruß
Hanna
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Mhmtja.
Eigentlich fände ich den Text im Humor- und Satireforum besser aufgehoben. Allerdings ist das arme Beamtenklischee schon so gründlich totgeritten worden, dass Deine paar Gertenhiebe es kaum mehr in Trab bringen können. Also mag er einstweilen hier bleiben.

In der stillen Hoffnung, dass Du zumindest noch etwas an dem abrupten und unmotiviert erscheinenden Perspektivwechsel vom auktorialem zum Ich-Erzähler tun willst. Wenn es Dir dann noch gelingen würde, die Protagonisten und ihr Verhalten „echter“ zu gestalten, damit ich sie zumindest streckenweise als der Wirklichkeit entnommen glaube, könnte noch eine richtig gute Satire daraus werden. Das ist nämlich der Trick bei so abgewatschten Themen: Einen Mauerhaken in die Wirklichkeit schlagen und sich von dort langsam in den alltäglichen Wahnsinn abseilen. Grad’ so schnell, dass der Leser hinterher kommt. Je später er merkt, dass er sich längst in die Absurdität verstiegen hat, desto besser ;-))


Also sprach der Zwerg, klopfte an und verschwand im Berg
 



 
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