Der Erfolgreiche

Der Erfolgreiche​
Vergeblich hatten viele seit Wochen auf den Sommer gewartet. Die Bauern legten ihre Stirn in Falten; schon lockten die Freibäder mit besonderen Rabatten, und mancher Eisverkäufer hatte sich darauf verlegt, Tee und Kaffee anzubieten. Mit schwindender Hoffnung schauten die Schüler, deren Ferien bereits begonnen hatten, aus dem Fenster auf einen Himmel, in dessen trostlosem Aussehen sich ihre Stimmung spiegelte. Nicht einmal als besonders verregnet ließ sich das Wetter bezeichnen, weil die Folge der vielen grauen Tage durch gelegentliche heitere Stunden unterbrochen wurde. So blieb nichts als die Konsequenz, sich mit den unberechenbaren, insgesamt tristen Gegebenheiten abzufinden und die Ferne aufzusuchen – oder sie zumindest auf der Mattscheibe zu sehen.
Dies freilich kostete keine Überwindung. Geringer als sonst war folglich die Zahl der Hobbykünstler, die vornehmlich an Sonntagen den Stadtpark aufsuchte, um eine Baumgruppe, ein Blumenbeet, meist aber den Weiher mit den Schwänen zu zeichnen. Angesichts des Wetters kam keiner von ihnen auf die Idee, sich an zwei aufeinander folgenden Sonntagnachmittagen im August jeweils zur exakt selben Zeit an den Rundweg zu setzen, der um das Gewässer führte. Hätte dies einer getan, so wären ihm unter den vielen Passanten gewiss jene zwei aufgefallen, die zwischen 14 und 15 Uhr etwa alle fünf Minuten wiederkehrten, eben nach jeweils einer Umrundung: ein alter Mann im Rollstuhl und ein junger Mann, der denselben schob; und der – nur gedachte – Beobachter hätte wahrscheinlich, völlig zu Unrecht, von ihnen den Eindruck eines sehr ungleichen Paares im Gedächtnis behalten.

Kaum hatten sie den Park betreten, war Wollmann unruhig geworden. Es hing offenbar mit dem grünlichen Tümpel zusammen, einem von Schilf umgebenen und mit Hinweisschildern versehenen künstlichen Biotop, das die Stadtverwaltung im vergangenen Jahr zum Lebensraum zweier Schwanenfamilien ausersehen hatte. Zwei der Tiere schienen miteinander in Streit geraten zu sein. Ständig flogen sie auf und kehrten platschend ins Wasser zurück.
„Ein Bild des Übermuts“, krächzte der Alte in seinem Rollstuhl. „Sehen Sie, wie misstrauisch sich die beiden anvisieren? Was halten Sie davon?“
Konrad hatte bisher noch keine Gelegenheitsarbeit kennen gelernt, die keine Möglichkeit bot, sie in erträglicher Weise zu verrichten. Was die Altenbetreuung anging, hatte er gelernt, sinnlos wiederholte Belanglosigkeiten schon beim ersten Hören als solche zu erkennen. Daher musste die beste Lösung darin bestehen, ihn einfach reden zu lassen. Eine halbe Runde verging.
Die Schwäne hatten sich wieder beruhigt, als sich Wollmann schließlich unterbrach: „Na, was glauben Sie?“ Umständlich versuchte er sich in seinem Rollstuhl umzudrehen; es gelang ihm gerade so weit, dass seine weit aufgerissenen Augen Konrad entgegenfunkelten. Offenbar beharrte er auf einer Antwort.
„Vielleicht geht es um ein Weibchen“, meinte Konrad. Wollmann lachte heiser triumphierend auf: „So sind die jungen Leute. Nichts anderes hätte ich von Ihnen erwartet, Sie schlauer Bengel –“ Seine Stimme versagte; heftig hustend warf er sich in seinem Rollstuhl vor und zurück, laut schnappte er nach Luft, die Übertreibung war offensichtlich und überdauerte die ganze fünfte Runde. Es lohnte sich nicht einzugreifen. Der Alte hätte sonst nicht gezögert, bei der nächsten Gelegenheit dieselbe Strategie anzuwenden.
Als sich die anderen Passanten merklich zu wundern begannen, ließ es sich nicht mehr vermeiden, ihn nach seinem Befinden zu fragen.
„Alles bestens“, krächzte Wollmann. „Nicht schlecht von Ihnen, mich die Lunge aus dem Leib husten zu lassen – aber doch nur fürs Erste.“
Die Sache schien erledigt; doch nur für wenige Minuten. Seine Stimme nahm einen herausfordernden, wenn auch keineswegs tadelnden Tonfall an: Wollmann ließ nicht ab von den Schwänen.
„Woher wollen Sie denn wissen, dass es um ein Weibchen geht?“
Konrad zuckte die Achseln: „Es war einfach das Erste, was mir eingefallen ist“, antwortete er.
Der Alte erregte sich. Mit einem deutlich schmatzenden Geräusch saugte er den Speichel aus seinem Gebiss hervor; seinen Husten steigerte er enthusiastisch bis zu einem Röcheln; erneut hob er seine Stimme: „Das ich nicht lache! Wenn Ihnen auch nur ein Gedanke dazu spontan eingefallen ist, will ich nicht Wollmann heißen. Denken Sie zurück, Sie schlaues Bürschchen, und sagen Sie mir, wer Ihnen die Idee mit dem Weibchen in den Kopf gesetzt hat.“ Wiederum hatte er sich während seiner Rede zu jener unbequemen Haltung gezwungen, in der er Konrad unerbittlich anzustarren vermochte.
„Vielleicht ein Schullehrer“, vermutete Konrad, „oder irgendein Tierfilm; ich weiß es nicht.“ Obwohl er es albern fand, die Runden zu zählen, bemerkte er zu seiner Erleichterung, dass sie die neunte begonnen hatten.
„Bestens, alles bestens!“, jauchzte Wollmann, „Sie haben beinahe völlig Recht – jedoch das ‚mehr’ vergessen: Sie wissen es nicht mehr! Selbst wenn es Ihnen Ihre Mutter bei jedem Windelwechseln erzählt hat.“ Mit der geballten Rechten schlug er bei seinen Worten auf einen unsichtbaren Widerstand ein: „Was andere gesagt haben, ist Ihnen zum Vermeintlich-Eigensten geworden, als wäre es Ihr Fleisch und Blut –“
Die Ohren des Alten glühten; seine Nackenhaare sträubten sich; Konrad lachte und wollte wissen: „Kann es nicht sein, dass ich von ganz allein darauf gekommen bin?“
„Sehr wohl“, rief Wollmann aus, „da haben wir’s! Sie denken an Ihre eigenen Erfahrungen, was ‚Weibchen’ angeht? – Sagen Sie mir: Wer hat Ihnen erzählt, dass für Schwäne dasselbe gilt?“
Dass der Pflegedienst, bei dem Arbeitslose ihre Kräfte zum Stundensatz von einem Euro anboten, Wollmann als „originellen, zuweilen etwas verschrobenen“ älteren Herrn vorgestellt hatte, schien nun immer verständlicher; aber weil Konrad auch ganz andere Arbeitsbedingungen kannte, hatte er dennoch nicht gezögert; und auch jetzt bereute er es nicht, sonntags Wollmann bei seiner Ausfahrt in den Park zu begleiten: Der Dank der älteren Leute hatte ihm schon manch schöne Überraschung beschert. Es kam nur darauf an, sie durch unverstelltes Interesse zu erstaunen.
„Und Ihnen“, setzte Konrad an, da eine nüchterne Antwort dieser Absicht widersprochen hätte, „wer hat Ihnen beigebracht, dass es sich um ‚Übermut’ handelt?“ Er bedauerte nun beinahe, mit ihm schon die zwölfte Runde zu beginnen.
„Sie haben eine Woche Zeit, darüber nachzudenken“, versetzte Wollmann, „und auch wenn Sie jetzt auf eine Antwort brennen: Gedulden Sie sich eine Woche.“ Konrad fügte sich, als Wollmann auch ihn zu schweigen hieß.

„In Ihrem Alter noch, junger Mann, sah ich die Welt mit anderen Augen“, raunte Wollmann Konrad zu, als sie eine Woche später wiederum ihren Spaziergang antraten, „bei allem, was ich durchgemacht habe: Als ich in Ihrem Alter war, konnte mir das nichts anhaben; da war ich auf der Höhe.“ Er setzte sich zurecht und erzählte Konrad seine Geschichte enthusiastisch und detailreich, wobei er sich mehrmals umdrehte, um sich der Aufmerksamkeit seines Begleiters zu vergewissern.
Streng erzogen, sei ihm schon mit acht Jahren die Aufsicht über seine Geschwister zugefallen, ließ die Familie seiner Kindheit doch keine Zeit: Der Vater, der sich als untauglich erwiesen hätte, die Leitung des Betriebes seiner Eltern zu übernehmen, sei arbeitslos geblieben und habe vor jeder Verantwortung kapituliert, während sich die Mutter in ihrer Verzweiflung und um der damals üblichen Zuwendungen willen aufs Gebären verlegt habe, ohne zu bedenken, wer ihre letztendlich fünf überlebenden Kinder dauerhaft ernähren sollte. Ein wohlgeordnetes Leben zu erreichen, sei ihm schon damals der wichtigste Vorsatz gewesen. Und auch wenn seine Eltern den Kopf geschüttelt hätten, hätte er auf Drängen seines Lehrers das Gymnasium besucht.
Das Kriegsende machte jedoch die Hoffnung auf ein Abitur zunichte. Doch obwohl wiederum nur dazu bestimmt, nichts als das Überleben seiner Familie zu sichern, beugte er sich den Umständen der Zeit nie, um mehr zu erreichen, als möglich schien. Mit demselben Ehrgeiz, mit dem er sich schon während der Schulzeit für Elektronik begeistert hatte, gedachte er sein Interesse nun in bares Geld umzusetzen – auch als ihn die Einführung der Mark seiner ersten größeren Ersparnisse beraubte. Kaum zwanzigjährig, stand er mit zwei älteren Gleichgesinnten einer kleinen Fabrik vor, die Küchengeräte herstellte. Die Wirtschaft erholte sich, der Konsum stieg, das Unternehmen expandierte; längst war ihm das Fernsehen zur Gewohnheit geworden, als er wenige Jahre später ein Haus in der Vorstadt bezog und in dessen Garage das größte Auto seiner Straße unterstellte. Bald heiratete er und wurde Vater, maßvoll freilich: Zwei Kinder sollten genügen, denen er eine hervorragende Ausbildung zugedachte.
Schon rechtfertigte das beharrlich anwachsende Vermögen den heimlichen Plan, sich mit dem eigenen Kapital selbständig zu machen. Schon sah er die Wirklichkeit sich seiner Wunschvorstellung einer bürgerlichen Existenz hoffnungsvoll annähern – da machten ihm seine Geschäftspartner die heimliche Gewissheit zunichte, dass er den Horizont seiner Erwartungen beständig erweitern könnte. Im Geheimen hatten sie sich wohl schon seit längerem verbündet; nun befleckten sie mit intriganten Unterstellungen seine Person, diskreditierten ihn schamlos vor den Augen der Öffentlichkeit: Zu einem Niemand sank er herab im Nu. Dass er verraten worden war, bedeutete nichts angesichts seiner innegehabten Stellung.
Es war nur folgerichtig, dass ihn seine Frau mit den Kindern verließ, seine Freunde ihn verachteten, ja selbst seine Eltern keinen Umgang mehr mit ihm wünschten. Und mit ebensolcher Konsequenz begriff niemand, weshalb er wenig später sein Geldvermögen, das ihm bei allen Ansprüchen seiner vermeintlichen Vertrauten ein gesichertes Dasein ermöglicht hätte, in Scheinen auszahlen ließ, um es in der städtischen Kanalisation den Ratten preiszugeben. Alle weideten sich an ihren vorschnellen Erklärungen, als er die Spuren seines früheren Lebens tilgte und nicht nur auf sein Geld, sondern auch auf sein Eigentum und seinen Wohnsitz verzichtete. „Er bereut seinen Hochmut“, sagten sie, unterstellten ihm das Verlangen, sich abwenden zu wollen von aller Zerstreuung und glaubten an eine völlige Umkehr, die sie in ihrer vorgestellten Tragweite freilich selbstgenügsam belächelten.
Wollmann hieß Konrad anzuhalten, was noch nie zuvor geschehen war; mühsam wendete er sich in seinem Rollstuhl zu ihm um mit einem gequälten Lächeln: „Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? – Aber sie muss gesagt sein.“ Durchdringend musterte er ihn. „Nicht, junger Mann, entschieden hatte ich mich gegen das Erreichte. Die Fähigkeit, es zu wollen, hatte ich nie besessen; und daher zog ich aus. Das ist es, was keiner verstanden hat, und hätte es einer, so hätte ich in ihm meinen gesuchten Meister gefunden.“
Der Alte schwieg feierlich. –
Als er von neuem die Stimme erhob, hatten sie gerade die siebte Runde begonnen. „Sie verstehen es gut, den Mund zu halten“, meinte er. „Umso mehr muss Ihnen das Wort gehören.“
Und Konrad redete – ohne alle Skrupel. Dass nicht Hunger, sondern ständiges Sattsein den Antrieb der jungen Generation ausmachte; dass deren Ziele sich nie aus der Not ergaben; dass sie diese wiederum nicht nur zu finden, sondern auch zu suchen unfähig geworden war: Dies war es, was der Alte hören wollte. Es kam ihm nur entgegen, dass Konrad Scham nicht kannte. Er umriss sein Leben wie ein eiliger Porträtmaler mit einem einzigen Pinselstrich, der genügt, um alles zu erkennen. Als Sohn eines Großunternehmers, begünstigt mit allen materiellen Segnungen und für eine glanzvolle Zukunft ausersehen, hatte er schon in der Schule damit begonnen, völlig zu versagen – ohne sich je darum zu sorgen; und als ihm dank einvernehmlicher Gespräche seiner Eltern mit dem Direktor dennoch das Abitur ausgestellt wurde – da kam es ihm niemals in den Sinn, sich bei ihnen zu bedanken; nachdem er ein brot- und aussichtsloses Studium begonnen und, da ihm die Wissenschaft zu schwerfällig, die Prüfungen zu lächerlich erschienen waren, wieder abgebrochen hatte – da kümmerte es ihn nie, dass er allen Arbeitgebern als gescheiterte Existenz erscheinen musste. Wollmann saß angespannt in seinem Rollstuhl, seine Nackenhaare sträubten sich; er sagte nichts, schmatzte jedoch leise mit seinem Gebiss und ließ ein tiefes Knurren aus seiner Kehle vernehmen, das keine Unterbrechung duldete. Allmählich steigerte es sich, während Konrad gleichmütig schilderte, wie er – ein Mensch in der Blüte seiner Jugend und im Zenit seiner geistigen und körperlichen Kräfte! – offenbar alles daran gesetzt hatte, jegliche Möglichkeit zu versäumen, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden. Ohne sich um den schandvoll befleckten Ruf seiner Familie zu kümmern, hatte er schließlich seine Eltern verlassen, auf einen festen Wohnsitz verzichtet und nie an die Sorgen des nächsten Tages gedacht.
Wollmann hatte die Rechte zu einer Faust geballt und sie wild auf und ab bewegt, als wollte er sie auf einen Tisch niedersausen lassen; er wankte in seinem Rollstuhl hin und her, sodass sich beinahe die Räder vom Boden hoben. „Junger Mann“, rief er laut, „wie haben Sie denn Ihr Geld verdient?“
Konrad grinste.
„Gelegenheiten“, sagte er kurz, „man muss sich nur zu warten überwinden.“
„Ihre Naivität ist beeindruckend.“
„Es ist mir egal, wie Sie es nennen. Sie verstehen es doch selbst, von der Hand in den Mund zu leben, wenn ich Ihnen Ihre Geschichte glauben darf.“
Abrupt schien das Gespräch beendet. Nach einigen Minuten indes begann Wollmann erneut zu sprechen, wobei seine Stimme jedoch alle Schärfe verloren hatte.
„Lassen wir das mit dem Weggehen und Herumwandern. Wie viele der Einzelheiten stimmen, die ich Ihnen erzählt habe, tut nichts zur Sache. In Wirklichkeit sind Sie es, der kennen zu lernen ist. – Hören Sie mir also zu. Denken Sie sich einen Menschen, der niemals auskosten können wird, was er beständig vermehrt. Ich weiß, dass Sie ihm das ansehen. Doch in dem Moment, in dem Sie ihm begegnen, liegt sein Leben ganz in Ihrer Hand. Vielleicht ist seine Jacht gekentert, oder sein Sportwagen schwebt mit den Vorderrädern über einem Abgrund.“ Wollmann richtete sich auf und wandte sich um, langsam zwar, aber weiter, als es sein Äußeres zu erlauben schien, fixierte den jungen Mann mit einem durchdringenden Blick und fragte unduldsam: „Was würden Sie tun?“
Konrad überlegte nicht lange.
„Ich würde ihn retten“, sagte er.
„Tatsächlich?“
„Freilich. Unter der Bedingung, dass er mir sein ganzes Vermögen überschreiben würde.“ Er grinste. „Und zwar am besten auf der Stelle.“
„Wozu denn, wenn Sie das Geld doch gar nicht brauchen, nach allem, was Sie mir erzählt haben?“
„Nur um es mit vollen Händen zu verschleudern“, antwortete Konrad heiter und ohne zu zögern. „Ich glaube, ich würde dafür keine Woche benötigen.“
„Und was hätten Sie dabei gewonnen?“
„Nichts“, meinte Konrad, „aber ganz sicher hätte ich nichts dabei verloren.
Wollmann schwieg. Während zweier ganzer Umrundungen verharrte er zusammengesunken in seinem Rollstuhl, bis ein Einfall seine Erstarrung beendete. Er richtete sich auf, um seine gewohnt steife Haltung einzunehmen, und wiederum krächzte er mit einer hohen, beinahe schrillen Stimme: „Sie glauben wohl, Sie hätten die Lebensweisheit mit Löffeln gefressen? Sie tun so, als gäbe es niemals ein Morgen oder Übermorgen – als wären Sie eine Marionette Ihres Schicksals!“ Herausfordernd wandte er seinen Blick Konrad zu. „Bei allen Späßen, die ich mir erlaubt habe, junger Mann, habe ich es niemals versäumt, mir etwas zurückzulegen. Heute noch können Sie ruhig schlafen; aber wer garantiert Ihnen, dass Ihnen Ihre Leichtfertigkeit nicht eines Tages abhanden kommt?“
Allmählich gewann er auch die Aufmerksamkeit der übrigen Passanten, die misstrauisch zu den beiden herüberblickten, welche sich davon nicht beirren ließen.
„Niemand“, erwiderte Konrad mit gesenkter Stimme und mittlerweile ganz und gar nicht mehr heiter, „wollen Sie vielleicht andeuten, dass –“ Er schluckte.
Wollmann klatschte in die Hände. „Richtig!“, rief er aus, „Sie scheinen allmählich zu begreifen! Befreien Sie sich von dem trüben Schleier Ihrer Illusionen und denken Sie an Ihre Sicherheit …“
„Meine Sicherheit“, wiederholte Konrad mechanisch.
Wollmann lachte irrwitzig auf und schlug mit der Hand auf seine dürren Schenkel, über die eine Decke gebreitet war. „Nur, was Sie für später horten, wird Ihnen keiner nehmen können. Hüten Sie sich davor, zum Sklaven Ihrer augenblicklichen Gelüste zu werden! Entsagen Sie, und tun Sie dies beständig: Denn Schwäche lohnt nicht. Horten Sie, um leben zu können!“
Konrad war sehr leise geworden; so leise, dass nicht einmal der Kies unter seinen Schuhen knirschte.
„Horten“, stieß er sachte hervor, „horten, um leben zu können …“
„Ja, richtig. – Ein ums andere Mal kann ich es nur wiederholen, bis ich weiß, dass Sie mich verstanden haben.“
„Wie viel“, flüsterte Konrad, „wie viel haben Sie denn gehortet?“
Wollmann hörte für eine Sekunde auf zu atmen. Mit derselben Großartigkeit, die sich in Konrads bedachtem Tonfall äußerte, offenbarte sich endlich, dass er sich in dem jungen Mann nicht getäuscht hatte. Er musste alles verstanden haben; er hatte alles verdient – vielleicht ohne es zu wissen: Daher hatte Wollmann das Spiel fortzusetzen, das beiden am Ende Erfolg bescheren musste. Er lachte und sprach großväterlich: „Die Menge tut nichts zur Sache; doch dass ich damit zehnmal länger leben könnte, als mir beschieden ist, habe ich oft genug ausgerechnet. Ich bin in Sicherheit und fürchte nichts. Der erste Schritt, den Sie in meiner Gefolgschaft tun müssen, besteht darin, dass Sie sich selbst erkennen.“
„Mich – erkennen“, wisperte Konrad und schluckte.
„Ja!“ Auf einmal sprach er wieder lauter, brüllte beinahe: „Ja – sich erkennen! Sie wähnen sich stark; sind Sie es?“
Konrad schniefte; der Alte erwartete keine Antwort. „Sie irren durch den Wald Ihres Lebens und wähnen sich, ein Wolf zu sein; sind Sie es?“
Als er hörte, wie der junge Mann hinter ihm laut schluckte, hieß er ihn mit einer Handbewegung stehen zu bleiben. Sie wandten sich dem Weiher zu, auch wenn Wollmann jegliches Interesse an den Schwänen verloren hatte. „Sie wähnen sich, nichts lernen zu wollen; doch belügen Sie mich nicht“, herrschte er ihn an, und als er weitersprach, betonte er jedes Wort mit besonderem Nachdruck: „Wollen Sie – und sprechen Sie deutlich! – wollen Sie ein Knabe bleiben?“
Er wartete. Eine halbe Minute verging, ehe Konrad, der wieder und wieder schluckte, mit leiser zitternder Stimme hervorstieß: „Nein. Nein, ich will kein Knabe bleiben ...“
„Ja!“, brüllte Wollmann, „ja, du verstehst, Stäubchen du, das meinen Blick trübt! – Auf die Knie, sage ich dir, sink auf die Knie!“
Die Gestalt hinter ihm, eben noch ein junger Mann, sank und sank zusammen, wurde geringer und geringer, kniete zu Füßen des einstigen Krüppels, war ein Nichts vor der Größe des Greisen: ein Häuflein Elend, das winselte.
„Was habe ich getan“, schluchzte Konrad, „was habe ich unwiederbringlich getan – mit meinem Leben?“
Reue brach aus ihm hervor, verschaffte sich Bahn mit Klagen und Stöhnen, nichts blieb von ihm denn ein Bild jammervoller Selbstzerknirschung: Laut heulte er auf und erfüllte die Passanten mit Scham. Bald blieben sie allein an dem Weiher zurück.
„Meine teure Jugend“, schluchzte Konrad, „all die Jahre – verschleudert habe ich sie für nichts …“
Nachdem er einige Minuten wimmernd zu Füßen Wollmanns verbracht hatte, schien dieser darüber milde gestimmt worden zu sein. Sachte strich er ihm mit der Hand durchs Haar. „Ruhig, Junge“, meinte er, „es ist nie zu spät zur Umkehr. Lerne von Menschen, die die Erfahrung gelehrt hat, und tu dies spontan. – Sag: Willst du nein sagen zu Übermut und Verschwendung?“
Mit tränenerfüllten Augen blickte Konrad ihn an. „Ja“, sagte er mit zitternder Stimme, vorsichtig, als könnte er dadurch seinen Weinkrampf zurückhalten.
„Sehr gut“, lobte Wollmann, „nah ist deine Einsicht. – Sag: Willst du dich abkehren vom nutzlosen Müßiggang, vom Vergeuden deiner Zeit wie deiner Jugendkraft?“
Konrad schüttelte sich; mühsam stieß er hervor: „Ja. Ja, ich will mich davon abkehren –“
„Du bist auf dem besten Weg dazu“, sprach Wollmann anerkennend. Feierlich hob er seinen Ton: „Sag, und tu dies ehrlich: Glaubst du, dass du lernen kannst – oder willst du ein Staubkorn, ein lumpiges Molekül bleiben im elenden Sumpf der Ignoranz, erbärmlich anzuschauen?“
Erneut begann Konrad zu weinen, wobei er sich so sehr krümmte, dass er kniend das Gleichgewicht verloren hätte, hätte ihn nicht der Alte an den Haaren gepackt. „Antworte“, herrschte er ihn mit glühendem Blick an, „sei ein Mann, kein winselndes Nichts!“
Vage ließen sich einige Worte inmitten allen Jammerns und Klagens vernehmen: „Ja – ja, ich will lernen …“
„Sehr gut“, schrie Wollmann; mit eisernem Griff riss er Konrad an den Haaren und zwang ihn so, ihm entgegenzublicken. „Du lernst; so sag nur noch dies: Erkennst du deinen Meister?“
Es war ein müßiger Umstand, dass Konrad und der Alte längst alle Passanten aus ihrer Nähe vertrieben hatten. Deutlich hoben sie sich in ihrem bizarren Schauspiel von ihrer Umwelt ab. „Ja“, schrie Konrad, so laut er es vermochte, „ja, du bist mein Meister – lass dich mein Meister sein!“
Eilends verließen sie den Park, obwohl sie den Weiher gewiss keine zwölf Mal umrundet hatten – sie hatten vergessen zu zählen. Gewiss hätte sich der fiktive Hobbykünstler, der sie nun schon zum zweiten Mal beobachtet hätte, darüber gewundert, wie sehr sie mittlerweile einander allein aufgrund ihrer gleichermaßen angespannt, wenn nicht gar wahnwitzig wirkenden Mienen ähnlich geworden waren. Und hätte er tiefer in ihr Bewusstsein dringen können, wäre ihm klar geworden, dass sie nur äußerlich ruhig waren, tatsächlich aber vor Emotionen bebten, einander gleich in dem Bewusstsein, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.

Eine Woche später hatte, buchstäblich wie aus heiterem Himmel, der Sommer Einzug gehalten. Erleichtert schickten Eltern ihre Kinder an die frische Luft; die Eiscafés füllten sich, und die Freibadbetreiber freuten sich über bessere Bilanzprognosen. Tausende strömten täglich in den Park, Dutzende Liebespaare suchten den Pavillon auf, so mancher Hobbykünstler ließ sich nun täglich am selben Standort blicken. Wollmann blieb an diesem Sonntag zu Hause, zum ersten Mal seit sechs Jahren. Er war allein, denn das Sozialamt hatte ihm noch keinen neuen Betreuer vermitteln können; doch ihm lag ohnehin nichts mehr an seiner Spazierfahrt in den Park.
Vor zwei Tagen war Konrad verschwunden. Er war der erste Mensch, der ihn ohne Zweifel verstanden hatte, auch wenn es noch dauern sollte, bis ihm diese Erkenntnis voll bewusst würde. Tagelang hatte sich der Junge zurückgehalten, die Zweihundertfünfzigtausend in bar aus einer Schatulle zu entwenden, deren Schlüssel er an einem problemlos auffindbaren Ort zum Schein verborgen hatte. Schon hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihn notfalls zum Alleinerben zu bestimmen. Doch schließlich war die Schatulle leer gewesen: Konrad hatte sich nicht von Skrupeln überwältigen lassen. Wollmann hatte sich tatsächlich nicht in ihm getäuscht. Zufrieden saß er an seinem Fenster und sah den Menschen auf der Straße bei ihren sinnlosen Besorgungen zu. Er würde sich keine Pflege mehr leisten können. Man würde ihn in einer öffentlichen Anstalt langsam und anonym dahinsterben lassen, und sein Tod wäre nicht weniger konform und verfehlt als sein Leben. Aber es gab keinen Grund, dass er sich daran störte: Denn er hatte seinen Meister gefunden. Wie spät dies geschehen war, tat für seinen Erfolg nichts zur Sache.
 

axel

Mitglied
Hallo Roland.
Stell dir mal vor, dass schon die einleitenden Schilderungen des Wetters und des Parks in die Beschreibung deiner beiden Protagonisten eingebunden wären.
Die Schüler, Eisverkäufer oder Hobbymaler brauchst du doch gar nicht, es sei denn, du beschreibst sie mit den Augen von Wollmann oder Konrad, bzw. lässt die beiden über das Wetter oder die Menschen im Park reden, um ihre Persönlichkeiten oder ihr Verhältnis zueinander auf diese Weise plastisch darzustellen. Bei den Schwänen tust du das ansatzweise, wobei ich allerdings sagen muss, dass mir das Verhalten und die Argumente (von beiden!) an dieser Stelle nicht viel bis überhaupt nichts sagen.
Kurz darauf machst du einen gewaltigen Sprung, den ich sehr schade finde, denn so wird überhaupt nicht deutlich, warum Konrad sich auf einmal für Wollmanns Geschichte interessiert. Stattdessen kommt die Lebensgeschichte chronologisch, in einem Rutsch und (und das ist das Schlimmste: ) in indirekter Rede. Es liest sich wie ein Referat, ohne dass man als Leser emotional beteiligt wäre. Ein Beispiel: Wenn Konrad jetzt doch interessiert ist, warum fragt er dann nicht nach, als es um die angeblichen oder tatsächlichen Intrigen gegen Wollmann geht? Wer würde das an seiner Stelle nicht tun (selbst wenn er nur mäßig interessiert wäre)?
Das geht doch auch anders! Nehmen wir z.B. an, Wollmann bietet Geld dafür, dass Konrad zuhört und jeweils sagt, was er über das Gehörte denkt. Nach Konrads Reaktionen entwickeln sich jeweils mehr oder weniger heftige Streitgespräche über die heutige Jugend, die Gültigkeit von Werten damals und heute; man streitet darüber, ob man dieses Affentheater des bezahlten Zuhörens nicht besser abbricht (und denkt sich, dass man sich diesen Luxus leider nicht leisten kann), ehe Wollmann darauf besteht, endlich fortfahren zu können. Merkst du, worauf ich hinaus will?
Vom Ende aus gesehen wäre dieses Verhalten von Wollmann logisch, und dass Konrad (und die Leser) lange Zeit nicht wissen, welchen Zweck der Alte verfolgt, ist sicher nicht schlimm, sondern erhält die Spannung.
Um diese auf ein hohes Niveau zu bringen und dort zu halten, solltest du dir eine Dramaturgie überlegen, die Wollmanns (und Konrads) Geschichte häppchenweise zu Tage bringt und außerdem ein feines Geflecht zwischen den Personen spinnt, so dass jeweils plausibel wird, wer gerade (des)interessiert, über- oder unterlegen, ärgerlich oder unter Rechtfertigungsdruck ist und warum das so ist.
Als Anregung für ein solches Szenario möchte ich dir „Am Hang“ von Markus Werner empfehlen. Wenn du das Buch liest, wirst du wissen, was ich meine.
An der Biographie von Wollmann würde ich auch noch einmal kräftig feilen: Wenn er bereits einmal eine beträchtliche Geldsumme in der Kanalisation versenkt hat, warum braucht er dann jetzt einen Dieb, um sein Vermögen loszuwerden?
Wie wäre es mit einem Menschen, der geradlinig und zielstrebig seinen Weg gegangen ist, dabei zwar nicht in die erste Liga aufgestiegen ist, aber dennoch einen gewissen Erfolg vorzuweisen hat, sich deswegen im Recht wähnt, der Hartz-4-Generation ihre mangelnde Tüchtigkeit und ihren fehlenden Antrieb vorzuwerfen?
Dass auch diese Biographie nicht so ist wie es zunächst scheint, dass in der Auflösung der Geschichte gleichzeitig der Schlüssel für das Verständnis von Wollmanns Verhalten liegt, all das kommt nach und nach heraus und wird nicht referiert, sondern so aufbereitet, dass wir mittendrin stecken.
Das wäre sicher enorm viel Arbeit, aber du solltest sie nicht scheuen, denn bei allen Mängeln hat „Der Erfolgreiche“ doch gewisse Qualitäten eines Rohdiamanten, so dass die Mühe sich am Ende vielleicht lohnen würde.
Viele Grüße von Axel
 



 
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