Der Everestbezwinger

casagrande

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Der Everestbezwinger

Kim war ein drahtiger Enddreißiger. Was an ihm am meisten auffiel, er rauchte. Nicht dass dies eine auffallende Eigenart bei einem Koreaner wäre. Ungewöhnlich war der Ort. Es war auf dem Weg zum Mt. Halla, dem höchsten Berg Koreas auf Cheju Island. Er ist gerade einmal 1950 Meter hoch. Der Ausgangspunkt ist allerdings auf Meereshöhe.
Um auf diesen Berg steigen zu dürfen wird am Eingang zum Tal erst an einer Kontrollstelle der Eintritt abkassiert. Nach etwa zwei Stunden Fußmarsch auf einer leicht ansteigenden asphaltierten Strasse erreicht man das Basislager. Ein zweistockiges Haus, das eher einer Stadtpension denn einer Berghütte gleicht. Dort ist der Schuhverleih. Die Exemplare stehen aufgereiht vor dem Haus, etwa fünfzig Paare, keines jünger als zehn Jahre. Sie sehen aus wie ausrangiert, faltig und verzogen aber dick eingefettetes Leder. Der ranzige Geruch des Schuhfettes überlagert den Fußschweißdampf von Generationen der in der Sonnenhitze aus den Schuhen mieft. Die Entfernungen sind in Kilometern angegeben, anders als in den Alpen üblich, in Stunden. Dort rechnet man durchschnittlich für dreihundert Höhenmeter eine Stunde. Auf den Halla waren es vierzehneinhalb Kilometer. Ein deprimierendes Stundenmittel ließ sich daraus errechnen!
Kurz hinter dem Haus hört der Asphalt auf, ein schotteriger Weg beginnt, der zunehmend steiler wird und nach ungefähr einer Stunde in einen Steig übergeht. Dort scheint für einen Großteil der Wanderer Schluss zu sein. Ein letzter Stand mit Trockenfisch, dann war Ruhe.
Nach einer Stunde begann der Schnee, zuerst nur Stellenweise, dann richtiges Schneestapfen. Nach gut einer weiteren Stunde zügigen Steigens kam Kim von oben. Die übliche Begrüßung mit den Fragen nach Woher und Wohin, wobei sowieso von vorneherein klar ist, wo der Eine hin will und der Andere her kommt. Was erstaunte, war das verhältnismäßig gute Englisch Kims. Es ist ein Glücksfall jemanden in Korea zu treffen, der auch nur entfernt ein verständliches Englisch spricht. Nicht das Verwechseln oder der Austausch von „r“ und „l“ macht die Verständigung schwierig, es ist das Fehlen grundsätzlicher Worte. Die Koreaner ersetzten diese fehlenden Worte durch besonders deutlich gesprochene koreanische Ausdrücke. Diese Vorgangsweise ist wohl überall auf der Welt dieselbe, aber wenig hilfreich. Wahrscheinlich verändern die Koreaner die Satzstellung dabei ebenso, wie dies bei einem Ausländer die Deutschen in Ermangelung der Kenntnis der fremden Sprache ebenfalls machen. „Du gehen hier entlang?“. „Wo Du kommen her?“
Kim jedenfalls sprach nicht dieses Pidginenglisch, darum war die Unterhaltung auch durchaus mühelos. Er war mit noch zwei Begleitern auf dem Mt Halla gewesen, zum Training. Dabei qualmte er eine Zigarette.
In den europäischen Alpen ist ein qualmender Bergsteiger ein Aussätziger. Die „wahren“ Bergfexe würden mit so einem nicht reden, nicht einmal ignorieren würden sie ihn!
Kim erzählte, dass er bei der koreanischen Everestexpedition dabei gewesen sei und nun am Abtrainieren sei und darum auch rauche. Eine eigenartige Methode, das Zuviel an Kondition zu verlieren. Aber er wies den Verdacht, er erzähle dies nur, um die Ausländer zu verarschen, weit zurück, er meine es ernst. Wie zum Beweis zückte er seine Visitenkarten aus der Hosentasche und überreichte sie mit dem üblichen Ritual. Zusammengefaltete Hände vor der Brust, Verbeugung, Überreichung der Karte und Wiederholung der Verneigung. Der Beschenkte macht dasselbe und übergibt möglichst auch seine Karte. Nur, wer hat als Nichtkoreaner eine Visitenkarte bei einer Bergtour bei sich?
Die Begleiter Kims waren von seinem Englisch und der Vorstellung, die er als Everestexpeditionsteilnehmer hinterließ, tief beeindruckt. Kim musste auch keinen Rucksack tragen, seine beiden Begleiter schleppten sein Zeug mit. Er war der Boss!
Nach der Überreichung seiner Karte schien ihm die Zeit der Leutseligkeit lang genug gewesen zu sein. Er bot noch eine Runde Zigaretten an und wandte sich enttäuscht ab, als niemand seine Sucht nach Konditionsabbau teilen wollte. Die Frage, ob er nun den Everest auch erobert habe, die beantwortete er nicht.
Es blieben Zweifel, trotz Visitenkarte!
 



 
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