Der Falter

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SiraB

Mitglied
Im trüben Licht der Esstisch-Lampe tanzt seit geraumer Zeit ein Nachtfalter. Nun landet er auf dem Rand des Weinglases, wankt kurz, faltet sein Flügelchen zusammen, balanciert entlang des schmalen Grades und verharrt. Es ist ganz still.
Von seinem Stuhl aus fixiert der Mann am Tisch das Insekt und denkt: Ein kleines Wunderwerk der Schöpfung. Tausende von winzigen Schüppchen fügen sich auf den zarten Flügeln zu einem borkenartigen Ornament, welches dieses Insekt auf jeder Baumrinde unsichtbar machen würde. Hier, auf dem scharfen Rand des glatten kühlen Glases, nützt diese Maskerade der Natur nur reichlich wenig.
Mit der Rechten kramt der Mann in seiner Hosentasche und zieht, das Tierchen immer noch fixierend, ein weißes Papiertaschentuch hervor. Er schnäuzt die Nase.
Der Falter hebt ab und flattert abermals umher, setzt sich dann direkt vor den Mann auf die fleckige, hellblaue Tischdecke. Die Tarnflügelchen beben nur kurz.
Er nimmt mich nicht wahr, denkt der Mann. Für ihn bin ich nur was die Flasche, das Glas, die Tischdecke ist. Und in einem Nu drückt er sein weißes Papiertaschentuch auf das ahnungslose graue Tierchen. Daumen, Zeigefinger und Papier zermalmen mit einem sanften, fast lautlosen Knacken den dünnen Chitin Panzer.
Wie einfach es ist, unbeschwertes Leben zu beenden, sinniert der Mann und lässt den toten Falter samt Taschentuch in den Papierkorb fallen.
Mit seinen kräftigen Fingern umschließt er den schlanken Stiel des Weinglases und führt seine blassen spröden Lippen an die Stelle an der noch vor Sekunden arglos sein Opfer hockte. Er nimmt einen langen Zug.
Der Wein ist gut.
Er stellt das Glas zurück, steht auf und geht ans Fenster.
Er zieht die Rollläden der Terrassentüre hoch und lässt die warme Frühlingssonne und eine Katze in sein Wohnzimmer. Zärtlich tätschelt er den dichten Pelz des Tieres.
 
C

cellllo

Gast
Dieser Mensch hat Augen im Kopf
und bewundert den Falter zuvor
und drückt ihn dann doch grundlos
ohne Not AUS PURER LANGEWEILE tot !
Sehr gut geschriebener, zum Nachdenken zwingender Text !
Vielleicht wird der Mensch selber eines Tages zum Falter,
wenn ihn "aus purer Langeweile" bzw. durch launischen
Zufall eine schlimme Krankheit oder ein Unfall umlegt...
cellllo
 

SiraB

Mitglied
Hallo Celllo,
freut mich, dass der kleine Text bei dir etwas hinterlassen hat. Ursprünglich wollte ich eigentlich nur festhalten wie oft wir kleinste Lebenwesen um die Ecke bringen.(Ohne Wltuntergangstimmung).
Liebe Grüße
SiraB
 
C

cellllo

Gast
Hallo SiraB
JA es passiert ja weiß Gott wirklich
unsagbar viel Schlimmeres auf der Welt - - -
das sage ich mir dieser Tage auch 100 000 mal
in Bezug auf "meine" armen Bäume.....
aber gleichzeitig ist man doch wirklich bis
ins Kleinste für "seinen Platz" (s.Signatur)
seine unmittelbare Umgebung zuständig,
was da passiert oder eben nicht passiert....

cellllo
 

Kölle

Mitglied
Hallo SiraB,

ich lese hier weniger, wie achtlos Menschen andere Lebewesen zerstören, sondern es ist eigentlich das Stimmungsbild eines sehr sehr einsamen Mannes, der am Morgen (oder bilde ich mir das nur ein?) erst spät die Sonne in die Wohnung lässt, und der bereits am Morgen Wein genießt... Aber das sind Nebensächlichkeiten.

Was mich aber trifft sind die folgenden Sätze:

Er nimmt mich nicht wahr, denkt der Mann. Für ihn bin ich nur was die Flasche, das Glas, die Tischdecke ist. Und in einem Nu drückt er sein weißes Papiertaschentuch auf das ahnungslose graue Tierchen.
Bei mir geht dieser Film ab: Ein Mann vereinsamt daran, dass er - wie er glaubt - nicht wahrgenommen wird (im übertragenen Sinne auch von den Menschen, seiner Familie, wie auch immer...), dass er nur wie ein Gegenstand unter anderen gesehen wird, und als er sich dessen "bewusst" wird, als er seine Verzweiflung "ausspricht", da packt ihn eine Wut, die er an dem Nachtfalter austobt.

So gesehen ist der Nachtfalter kein Opfer von herzloser Gedankenlosigkeit, sondern Kollateralschaden menschlichen Leids.

Das assoziere ich mit dem Stückchen. Danke, solche Einsamkeit kann ich auch in mir finden, weil auch ich mir manchmal einbilde, nicht ausreichend beachtet zu werden. Wer weiß, was ich dadurch alles zerstöre?!

LG Kölle
 
S

steky

Gast
Eine stimmige, melancholische Geschichte über einen einsamen Mann - das sehe auch ich in dieser Geschichte. Warum er den Nachtfalter umbringt, spielt für mich keine Rolle: Da die Geschichte stimmig ist, muss alles seine Richtigkeit haben, sonst wäre sie nicht stimmig. Hat mir sehr gut gefallen.
LG
 



 
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