Tara saß nun in dem Bastsattel und hielt sich an der Mähne des Drachen fest. Sie hatte sich ihren alten wollenen Umhang, den sie sonst nur als Sitzunterlage für das nasse Gras der Weide gebrauchte, übergeworfen und mit ein paar Spangen festgemacht. Leutnant Funkenhuf hatte ihr erklärt, dass es hoch oben in der Luft oft sehr kalt sein konnte.
Sie fragte sich immer noch, ob sie das Richtige tat. Nun, genau genommen war sie sich sogar fast sicher, dass es eigentlich unmöglich das Richtige sein konnte, auf dem Rücken eines jugendlichen Drachens und in Begleitung des merkwürdigsten Bestiariums, das man sich überhaupt nur vorstellen konnte, durch die Luft in das Feenland zu reisen. Und das, ohne die Gelegenheit gehabt zu haben, es zuvor mit jemanden wie zum Beispiel ihrer weisen Großmutter zu besprechen.
Aber andererseits es war es ja gerade Malfalda, die ihr immer geraten hatte, im Zweifelsfalle immer auf ihr Herz zu hören.
Obwohl ... eigentlich war das ein blöder Ratschlag, denn gerade ihr Herz pochte nun so laut und schnell, dass Tara fast das Gefühl hatte, es könnte ihr im nächsten Augenblick aus der Brust springen. Würde sie darauf hören, müsste sie sich jetzt vermutlich in irgendein Erdloch verkriechen und darauf warten, dass sich ihr Puls wieder normalisierte.
Aber wenn sie in sich hineinhörte – und ihren Herzschlag dabei außer acht ließ - dann wurde ihr klar, dass ihr Entschluss fest stand. Sie wollte ins Feenland reisen, sie wollte auf einem Drachen fliegen und wenn sie denn eine Heldin sein sollte, dann würde sie eben auch das auf sich nehmen. Aber sie wollte vor allem endlich ihre richtigen Eltern kennen lernen! Sie wusste nicht so recht, warum, denn so richtig vermisst hatte sie sie nie, Valdana war ihr eine liebevolle Mutter gewesen, Malfalda eine Großmutter und in Coldar hatte sie immer so etwas wie einen Großvater gesehen. Aber gleichzeitig hatte sie die ganzen Jahre immer mit diesem Gefühl gelebt, dass das Schicksal etwas ganz Besonderes mit ihr vorhatte und nun hatte sie die Gelegenheit, hinter ihre Herkunft und somit ihrer Bestimmung zu kommen. Außerdem würde sie außer den drei Genannten und vielleicht noch Jost kaum jemand im Dorf wirklich vermissen. Sie war eben immer jenes Findelkind gewesen, dass einst in einer Nacht voller seltsamer Erscheinungen und schrecklicher Vorzeichen im Dorf aufgetaucht war und deswegen für die Dorfbewohner immer etwas Fremdartiges, Geheimnisvolles, möglicherweise sogar Bedrohliches hatte. Einige – wie zum Beispiel Josts Vater oder der Bierbrauer – würden ihr Verschwinden möglicherweise sogar als Erleichterung empfinden und es als Anlass nehmen, um mit einem Krug voll von Magos trüben Gebräu fröhlich miteinander anzustoßen.
Die meisten Mitglieder der Geflügelten Schwadron standen nun in einer Reihe hinter ihrem Leutnant. Die Ausnahmen bildeten die fliegenden Fische, die weiter unentwegt um die anderen herumschwirrten und jenes Huhn mit dem Frauenkopf. Dieses war Tara als Obergefreite Flügelwind vorgestellt worden. Sie war eine Harpyie, aber entgegen sowohl der landläufigen Meinung der Nauthianer, als auch den wenig vorteilhaften Darstellungen dieser Geschöpfe in den Büchern Coldars, war sie weder von hässlichem Antlitz noch wirkte sie irgendwie bösartig und hinterlistig. Auf Tara machte sie im Gegenteil den Eindruck, eine ausnehmend freundliche und zuvorkommende Wesenheit zu sein. Die Obergefreite hatte den Auftrag, noch so lange auf die Ziegen acht zu geben, bis die Dorfbewohner bemerkten, dass die eigentliche Hirtin verschwunden war.
Tara hatte zwar ihre Zweifel geäußert darüber, dass so etwas wie ein Huhn in der Lage sein könnte, ihre Tiere zu hüten, aber als dann die Obergefreite Flügelwind das Lamm Herta mit ein paar heftigen Flügelschlägen dazu gebracht hatte, wieder zu der Herde zurückzukehren, war sie doch etwas beruhigter.
„Also ... alles bereit zum Abflug!?“, rief Leutnant Funkhuf.
„Jawohl!“, antwortete Gefreite Tarasque, während die anderen Mitglieder der Geflügelten Schwadron ihre Bereitschaft mit den entsprechenden Tierlauten kundtaten, was bedeutete, dass sowohl die goldene Gans als auch der geflügelte Affe militärisch knapp schnatterten, die Kraniche mit ihren Eisenschnäbeln dagegen Geräusche machten, die Tara an den halb eingerosteten Pumpenschwengel des Dorfbrunnens erinnerten. Direkt neben Tara erklang ein einfaches Zwitschern. Als sie in die entsprechende Richtung blickte, entdeckte sie einen kleinen, braunen, eigentlich recht unscheinbaren Vogel, der offenbar ebenfalls Mitglied dieser Einheit war. Er hielt sich mit schnellen Flügelschlägen in der Luft, drehte seinen Kopf und erwiderte Taras Blick. Dann geschah etwas, bei dem sich Tara noch lange danach fragte, ob sie es tatsächlich so gesehen hatte oder ob das Ganze nur eine Täuschung ihres in diesem Augenblick etwas überdrehten Geistes war. Der kleine Vogel blinzelte Tara zu! Er schloss eines seiner kleinen Knopfaugen für einen winzigen Augenblick und schien dazu noch zu lächeln, was einem Wesen, dass ja keinen wie auch immer gearteten Mund, sondern einen harten Schnabel besaß, ja im Grunde überhaupt nicht möglich war. Tara hatte aber kaum die Gelegenheit, sich allzu viel Gedanken über ihre Beobachtungen zu machen.
Denn es ging los!
Sie hatte ja schon oft Gelegenheit, zu beobachten, wie große Vögel vom Boden abhoben, beispielsweise Habichte oder Raben. Entsprechend hatte sie einen ähnlichen, eher gemächlichen Start erwartet.
Aber Tarasque tat ihr nicht den Gefallen! Die Drachin gab sich überhaupt nicht erst damit ab, mit ihren winzigen Flügeln zu schlagen und sprang einfach direkt in den Himmel!
Danach setzte sie den Flug in einer Art Wellenbewegung ihres schlangenartigen Körpers fort. Es war für Tara nicht gerade einfach, sich dabei sicher im Sattel zu halten. Sie tat zunächst nichts anderes, als sich so fest in die Mähne des Wesens zu krallen, dass ihr die Finger zu schmerzen begannen, wobei sie die Augen geschlossen hielt und ein paar von Malfaldas Zauberformeln an die Naturgeister der Lüfte vor sich hin murmelte, wobei sie diesen – nur zur Sicherheit – noch ein Gebet an Donezil folgen ließ, auch wenn sie im Grunde nicht an den Donnergott glaubte.
Doch dann hörte sie ein leises Zwitschern direkt neben ihrem rechten Ohr. Zunächst leise nur, kaum hörbar im Rauschen des Windes hier hoch oben in der Luft. Doch sie erkannte deutlich den Gesang jenes kleinen, braunen Vogels, vernahm seine Melodie, spürte, wie jeder einzelne dieser fröhlichen, munteren Töne in ihr selbst nachklang und zu ihrer eigenen Verwunderung wurde ihr bewusst, dass sie dieses Lied überhaupt nicht mit den Ohren hörte. Es war, als würde sich diese Melodie ihren Weg, aus dem Schnabel des Vogels kommend, direkt zu ihrem Herzen suchen.
Und sie fühlte sich mit einem mal mutiger, selbstbewusster, ganz so, als hätte sie dieses Vogelgezwitscher für einen Moment von all ihren Ängsten befreit.
Sie öffnete die Augen. Und war erstaunt darüber, in welche Höhe sie die Drachin mit ihren schlangenartigen Bewegungen bereits getragen hat. Alles, was sie bisher gekannt hatte, die sanften Hügel von Nauthia, die dichten Wäldern im Norden von Dreieich, die Häuser und Hütten, die Weiden und Felder, die wie ein silbernes Band glänzenden Windungen des jungen Taron befanden sich nun direkt unter ihr und je weiter sie sich davon entfernte, desto unglaublicher kam es ihr vor, dass sich ihr ganzes bisheriges Leben und Erleben nur auf diese so kleine Welt beschränkt hatte.
Offensichtlich hatten sie nun einen Bereich erreicht, in dem die Bedingungen, was Luftströmungen, Aufwinde und was sonst noch so von Bedeutung war für den Drachenflug, besonders günstig zu sein schienen, denn die Gefreite Tarasque und ihre Passagierin flogen nun ohne weitere Wellenbewegungen direkt auf die Markberge zu. Erst jetzt wurde Tara klar, wie hoch dieses Gebirge tatsächlich war. Von Dreieich aus hatte sie immer nur jene von dichten Wäldern bestandenen Vorberge erkennen können, die ihr eigentlich schon überaus gewaltig erschienen waren. Doch nun, aus einer jetzt schon für sie kaum vorstellbaren Höhe, konnte sie erstmals dem Hauptkamm der Markberge sehen, eine Reihe von grauen, in den oberen Bereichen von Eis und Schnee bedeckten Felsen, deren steil aufragende, von Nebel umwucherten Gipfel direkt in den Himmel hinein zu wachsen schienen.
Und es war eindeutig, dass sie sicher noch erheblich weiter in die Höhe steigen mussten, um dieses Gebirge zu überwinden.
Aber dies machte Tara merkwürdigerweise keine Angst. Ganz im Gegenteil, sie genoss den Flug mittlerweile sogar, fand es unheimlich amüsant, nach unten zu blicken und zu sehen, zu welcher Größe das Land Nauthia inzwischen geschrumpft war. Fliegen, das wusste sie nun, würde fortan eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen sein.
Sie jauchzte.
Gefreite Tarasque drehte überrascht ihren massigen Kopf zu dem Mädchen um.
„Dir scheint eß wohl Spaß ßu machen?“, fragte sie.
„Ja, mittlerweile schon. Am Anfang hatte ich allerdings ein wenig Angst.“
„Ein wenig Angst ist sicher auch nicht falsch“, warf Leutnant Funkenhuf ein, der sich – von Tara unbemerkt – mit einigen eleganten Flügelschlägen an ihre Seite gesetzt hatte, „schließlich sind Menschen nicht zum Fliegen geschaffen. Oder sind dir in den vergangenen Minuten plötzlich Flügel gewachsen?“
Einmal mehr erinnerte sie der Pegasos mit seinen Rufen zur Vernunft an Malfalda.
„Das nicht. Aber seit dieser kleine Vogel da an meiner Seite ist und so fröhlich zwitschert, habe ich das Gefühl, dass es nichts gibt, was mir etwas anhaben kann.“
„Dies ist eine ganz besondere Vogelart“, erklärte Leutnant Funkenhuf, „es gibt nur noch sehr wenige im ganzen Feenland und ich bin stolz darauf, einen von ihnen in meiner Einheit zu haben. Man nennt sie Mutvögel. Der Grund dürfte dir klar sein.“
Also war es tatsächlich der Gesang dieses kleinen Vogels, der ihr die eigentlich nachvollziehbare Angst davor, auf einem jugendlichen Drachen in einer sicherlich mindestens fünfhundert Ellen messenden Höhe durch die Luft zu fliegen, nahm.
„Du solltest dich also trotz allen Übermutes weiterhin gut an der Mähne der Gefreiten Tarasque festhalten. Denn die Flugrichtung, die ein Menschenkind wie du nimmt, wenn es aus dem Sattel fällt, ist auf jeden Fall vorgegeben.“
Tara blickte erneut direkt nach unten. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie dort unten ankam, sollte sie den Halt verlieren? Und was dann mit ihrem Körper geschah, darüber wollte sie erst gar nicht nachdenken. Sie beugte sich nach vorne zum Kopf der Gefreiten Tarasque hin und verstärkte den Griff, mit dem sie sich in den dicken Drachenhaaren festhielt.
Dann wandte sie sich an Leutnant Funkenhuf.
„Du nennst mich ein Menschenkind. Ich aber weiß nicht, wessen Kind ich bin. Bin ich denn ein Mensch?“
Der Pegasos überlegte lange, bevor er etwas dazu sagte und auch dann war seine Antwort eher rätselhaft.
„Du hast unter den Menschen gelebt, sie als deine Brüdern und Schwestern betrachtet. Also: Wie solltest du etwas anderes sein als ein Mensch?“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage!“, erwiderte Tara.
„Manche Fragen lassen sich nicht so einfach beantworten.“
Er streckte seine Flügel aus und näherte sich im Gleitflug noch ein wenig näher an Tara heran.
„Du wirst noch viele Antworten bekommen“, sagte er mit sanfter Stimme, „auf Fragen, die dir jetzt im Kopf herumgehen und auf Fragen, du nie gestellt hast. Antworten, welche die Welten diesseits und jenseits der Markberge betreffen und die unterschiedliche Herkunft der Wesenheiten, die diese bewohnen und natürlich auch Antworten auf jene Fragen, die dich selbst betreffen. Aber dazu ist jetzt nicht die Zeit. Wir müssen uns darauf konzentrieren, über das Gebirge zu gelangen. Das wird nicht so einfach werden, wie du vielleicht glauben magst. Denn die Grenzen werden geschützt.“
„Geschützt? Wie meinst du das?“
„Du wirst es sehen“, antwortete der Pegasos knapp.
Sie fragte sich immer noch, ob sie das Richtige tat. Nun, genau genommen war sie sich sogar fast sicher, dass es eigentlich unmöglich das Richtige sein konnte, auf dem Rücken eines jugendlichen Drachens und in Begleitung des merkwürdigsten Bestiariums, das man sich überhaupt nur vorstellen konnte, durch die Luft in das Feenland zu reisen. Und das, ohne die Gelegenheit gehabt zu haben, es zuvor mit jemanden wie zum Beispiel ihrer weisen Großmutter zu besprechen.
Aber andererseits es war es ja gerade Malfalda, die ihr immer geraten hatte, im Zweifelsfalle immer auf ihr Herz zu hören.
Obwohl ... eigentlich war das ein blöder Ratschlag, denn gerade ihr Herz pochte nun so laut und schnell, dass Tara fast das Gefühl hatte, es könnte ihr im nächsten Augenblick aus der Brust springen. Würde sie darauf hören, müsste sie sich jetzt vermutlich in irgendein Erdloch verkriechen und darauf warten, dass sich ihr Puls wieder normalisierte.
Aber wenn sie in sich hineinhörte – und ihren Herzschlag dabei außer acht ließ - dann wurde ihr klar, dass ihr Entschluss fest stand. Sie wollte ins Feenland reisen, sie wollte auf einem Drachen fliegen und wenn sie denn eine Heldin sein sollte, dann würde sie eben auch das auf sich nehmen. Aber sie wollte vor allem endlich ihre richtigen Eltern kennen lernen! Sie wusste nicht so recht, warum, denn so richtig vermisst hatte sie sie nie, Valdana war ihr eine liebevolle Mutter gewesen, Malfalda eine Großmutter und in Coldar hatte sie immer so etwas wie einen Großvater gesehen. Aber gleichzeitig hatte sie die ganzen Jahre immer mit diesem Gefühl gelebt, dass das Schicksal etwas ganz Besonderes mit ihr vorhatte und nun hatte sie die Gelegenheit, hinter ihre Herkunft und somit ihrer Bestimmung zu kommen. Außerdem würde sie außer den drei Genannten und vielleicht noch Jost kaum jemand im Dorf wirklich vermissen. Sie war eben immer jenes Findelkind gewesen, dass einst in einer Nacht voller seltsamer Erscheinungen und schrecklicher Vorzeichen im Dorf aufgetaucht war und deswegen für die Dorfbewohner immer etwas Fremdartiges, Geheimnisvolles, möglicherweise sogar Bedrohliches hatte. Einige – wie zum Beispiel Josts Vater oder der Bierbrauer – würden ihr Verschwinden möglicherweise sogar als Erleichterung empfinden und es als Anlass nehmen, um mit einem Krug voll von Magos trüben Gebräu fröhlich miteinander anzustoßen.
Die meisten Mitglieder der Geflügelten Schwadron standen nun in einer Reihe hinter ihrem Leutnant. Die Ausnahmen bildeten die fliegenden Fische, die weiter unentwegt um die anderen herumschwirrten und jenes Huhn mit dem Frauenkopf. Dieses war Tara als Obergefreite Flügelwind vorgestellt worden. Sie war eine Harpyie, aber entgegen sowohl der landläufigen Meinung der Nauthianer, als auch den wenig vorteilhaften Darstellungen dieser Geschöpfe in den Büchern Coldars, war sie weder von hässlichem Antlitz noch wirkte sie irgendwie bösartig und hinterlistig. Auf Tara machte sie im Gegenteil den Eindruck, eine ausnehmend freundliche und zuvorkommende Wesenheit zu sein. Die Obergefreite hatte den Auftrag, noch so lange auf die Ziegen acht zu geben, bis die Dorfbewohner bemerkten, dass die eigentliche Hirtin verschwunden war.
Tara hatte zwar ihre Zweifel geäußert darüber, dass so etwas wie ein Huhn in der Lage sein könnte, ihre Tiere zu hüten, aber als dann die Obergefreite Flügelwind das Lamm Herta mit ein paar heftigen Flügelschlägen dazu gebracht hatte, wieder zu der Herde zurückzukehren, war sie doch etwas beruhigter.
„Also ... alles bereit zum Abflug!?“, rief Leutnant Funkhuf.
„Jawohl!“, antwortete Gefreite Tarasque, während die anderen Mitglieder der Geflügelten Schwadron ihre Bereitschaft mit den entsprechenden Tierlauten kundtaten, was bedeutete, dass sowohl die goldene Gans als auch der geflügelte Affe militärisch knapp schnatterten, die Kraniche mit ihren Eisenschnäbeln dagegen Geräusche machten, die Tara an den halb eingerosteten Pumpenschwengel des Dorfbrunnens erinnerten. Direkt neben Tara erklang ein einfaches Zwitschern. Als sie in die entsprechende Richtung blickte, entdeckte sie einen kleinen, braunen, eigentlich recht unscheinbaren Vogel, der offenbar ebenfalls Mitglied dieser Einheit war. Er hielt sich mit schnellen Flügelschlägen in der Luft, drehte seinen Kopf und erwiderte Taras Blick. Dann geschah etwas, bei dem sich Tara noch lange danach fragte, ob sie es tatsächlich so gesehen hatte oder ob das Ganze nur eine Täuschung ihres in diesem Augenblick etwas überdrehten Geistes war. Der kleine Vogel blinzelte Tara zu! Er schloss eines seiner kleinen Knopfaugen für einen winzigen Augenblick und schien dazu noch zu lächeln, was einem Wesen, dass ja keinen wie auch immer gearteten Mund, sondern einen harten Schnabel besaß, ja im Grunde überhaupt nicht möglich war. Tara hatte aber kaum die Gelegenheit, sich allzu viel Gedanken über ihre Beobachtungen zu machen.
Denn es ging los!
Sie hatte ja schon oft Gelegenheit, zu beobachten, wie große Vögel vom Boden abhoben, beispielsweise Habichte oder Raben. Entsprechend hatte sie einen ähnlichen, eher gemächlichen Start erwartet.
Aber Tarasque tat ihr nicht den Gefallen! Die Drachin gab sich überhaupt nicht erst damit ab, mit ihren winzigen Flügeln zu schlagen und sprang einfach direkt in den Himmel!
Danach setzte sie den Flug in einer Art Wellenbewegung ihres schlangenartigen Körpers fort. Es war für Tara nicht gerade einfach, sich dabei sicher im Sattel zu halten. Sie tat zunächst nichts anderes, als sich so fest in die Mähne des Wesens zu krallen, dass ihr die Finger zu schmerzen begannen, wobei sie die Augen geschlossen hielt und ein paar von Malfaldas Zauberformeln an die Naturgeister der Lüfte vor sich hin murmelte, wobei sie diesen – nur zur Sicherheit – noch ein Gebet an Donezil folgen ließ, auch wenn sie im Grunde nicht an den Donnergott glaubte.
Doch dann hörte sie ein leises Zwitschern direkt neben ihrem rechten Ohr. Zunächst leise nur, kaum hörbar im Rauschen des Windes hier hoch oben in der Luft. Doch sie erkannte deutlich den Gesang jenes kleinen, braunen Vogels, vernahm seine Melodie, spürte, wie jeder einzelne dieser fröhlichen, munteren Töne in ihr selbst nachklang und zu ihrer eigenen Verwunderung wurde ihr bewusst, dass sie dieses Lied überhaupt nicht mit den Ohren hörte. Es war, als würde sich diese Melodie ihren Weg, aus dem Schnabel des Vogels kommend, direkt zu ihrem Herzen suchen.
Und sie fühlte sich mit einem mal mutiger, selbstbewusster, ganz so, als hätte sie dieses Vogelgezwitscher für einen Moment von all ihren Ängsten befreit.
Sie öffnete die Augen. Und war erstaunt darüber, in welche Höhe sie die Drachin mit ihren schlangenartigen Bewegungen bereits getragen hat. Alles, was sie bisher gekannt hatte, die sanften Hügel von Nauthia, die dichten Wäldern im Norden von Dreieich, die Häuser und Hütten, die Weiden und Felder, die wie ein silbernes Band glänzenden Windungen des jungen Taron befanden sich nun direkt unter ihr und je weiter sie sich davon entfernte, desto unglaublicher kam es ihr vor, dass sich ihr ganzes bisheriges Leben und Erleben nur auf diese so kleine Welt beschränkt hatte.
Offensichtlich hatten sie nun einen Bereich erreicht, in dem die Bedingungen, was Luftströmungen, Aufwinde und was sonst noch so von Bedeutung war für den Drachenflug, besonders günstig zu sein schienen, denn die Gefreite Tarasque und ihre Passagierin flogen nun ohne weitere Wellenbewegungen direkt auf die Markberge zu. Erst jetzt wurde Tara klar, wie hoch dieses Gebirge tatsächlich war. Von Dreieich aus hatte sie immer nur jene von dichten Wäldern bestandenen Vorberge erkennen können, die ihr eigentlich schon überaus gewaltig erschienen waren. Doch nun, aus einer jetzt schon für sie kaum vorstellbaren Höhe, konnte sie erstmals dem Hauptkamm der Markberge sehen, eine Reihe von grauen, in den oberen Bereichen von Eis und Schnee bedeckten Felsen, deren steil aufragende, von Nebel umwucherten Gipfel direkt in den Himmel hinein zu wachsen schienen.
Und es war eindeutig, dass sie sicher noch erheblich weiter in die Höhe steigen mussten, um dieses Gebirge zu überwinden.
Aber dies machte Tara merkwürdigerweise keine Angst. Ganz im Gegenteil, sie genoss den Flug mittlerweile sogar, fand es unheimlich amüsant, nach unten zu blicken und zu sehen, zu welcher Größe das Land Nauthia inzwischen geschrumpft war. Fliegen, das wusste sie nun, würde fortan eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen sein.
Sie jauchzte.
Gefreite Tarasque drehte überrascht ihren massigen Kopf zu dem Mädchen um.
„Dir scheint eß wohl Spaß ßu machen?“, fragte sie.
„Ja, mittlerweile schon. Am Anfang hatte ich allerdings ein wenig Angst.“
„Ein wenig Angst ist sicher auch nicht falsch“, warf Leutnant Funkenhuf ein, der sich – von Tara unbemerkt – mit einigen eleganten Flügelschlägen an ihre Seite gesetzt hatte, „schließlich sind Menschen nicht zum Fliegen geschaffen. Oder sind dir in den vergangenen Minuten plötzlich Flügel gewachsen?“
Einmal mehr erinnerte sie der Pegasos mit seinen Rufen zur Vernunft an Malfalda.
„Das nicht. Aber seit dieser kleine Vogel da an meiner Seite ist und so fröhlich zwitschert, habe ich das Gefühl, dass es nichts gibt, was mir etwas anhaben kann.“
„Dies ist eine ganz besondere Vogelart“, erklärte Leutnant Funkenhuf, „es gibt nur noch sehr wenige im ganzen Feenland und ich bin stolz darauf, einen von ihnen in meiner Einheit zu haben. Man nennt sie Mutvögel. Der Grund dürfte dir klar sein.“
Also war es tatsächlich der Gesang dieses kleinen Vogels, der ihr die eigentlich nachvollziehbare Angst davor, auf einem jugendlichen Drachen in einer sicherlich mindestens fünfhundert Ellen messenden Höhe durch die Luft zu fliegen, nahm.
„Du solltest dich also trotz allen Übermutes weiterhin gut an der Mähne der Gefreiten Tarasque festhalten. Denn die Flugrichtung, die ein Menschenkind wie du nimmt, wenn es aus dem Sattel fällt, ist auf jeden Fall vorgegeben.“
Tara blickte erneut direkt nach unten. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie dort unten ankam, sollte sie den Halt verlieren? Und was dann mit ihrem Körper geschah, darüber wollte sie erst gar nicht nachdenken. Sie beugte sich nach vorne zum Kopf der Gefreiten Tarasque hin und verstärkte den Griff, mit dem sie sich in den dicken Drachenhaaren festhielt.
Dann wandte sie sich an Leutnant Funkenhuf.
„Du nennst mich ein Menschenkind. Ich aber weiß nicht, wessen Kind ich bin. Bin ich denn ein Mensch?“
Der Pegasos überlegte lange, bevor er etwas dazu sagte und auch dann war seine Antwort eher rätselhaft.
„Du hast unter den Menschen gelebt, sie als deine Brüdern und Schwestern betrachtet. Also: Wie solltest du etwas anderes sein als ein Mensch?“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage!“, erwiderte Tara.
„Manche Fragen lassen sich nicht so einfach beantworten.“
Er streckte seine Flügel aus und näherte sich im Gleitflug noch ein wenig näher an Tara heran.
„Du wirst noch viele Antworten bekommen“, sagte er mit sanfter Stimme, „auf Fragen, die dir jetzt im Kopf herumgehen und auf Fragen, du nie gestellt hast. Antworten, welche die Welten diesseits und jenseits der Markberge betreffen und die unterschiedliche Herkunft der Wesenheiten, die diese bewohnen und natürlich auch Antworten auf jene Fragen, die dich selbst betreffen. Aber dazu ist jetzt nicht die Zeit. Wir müssen uns darauf konzentrieren, über das Gebirge zu gelangen. Das wird nicht so einfach werden, wie du vielleicht glauben magst. Denn die Grenzen werden geschützt.“
„Geschützt? Wie meinst du das?“
„Du wirst es sehen“, antwortete der Pegasos knapp.