Der Flötenbauer

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Ich bin mir nicht ganz sicher, ob 'Märchen' der richtige Platz für meine Geschichte ist, oder ob ich sie besser zu 'Kurzgeschichten' verschieben sollte.


Der Flötenbauer


Er stand gebückt über der Werkbank, als ein Klopfen seine Konzentration störte.
„Herein“, murmelte er unwillig, ohne den Blick zu heben.
„Werter Herr Heberle!“, polterte ein großer Mann mit einem enormen Bauchumfang und hieb ihm zur Begrüßung seine mächtige Pranke auf den Rücken, so dass der Angesprochene unweigerlich zusammenzuckte, „Ich wollte mich nur einmal nach den Fortschritten erkundigen!“ Er ließ seine Augen flink über die Werkbank huschen und nickte zufrieden, auch wenn Anton Heberle sich sicher war, dass sein Auftraggeber nicht einmal die eine Holzart von der anderen zu unterscheiden wusste. Herr Doktor Zoderer, so hieß der beleibte Mann, hatte ihm jedoch schon so manchen lukrativen Auftrag verschafft, und so wollte er ihn nicht erzürnen, schluckte seinen Ärger über die unwillkommene Störung hinunter und wandte sich seinem Besucher zu.
„Herr Doktor Zoderer“, entgegnete er bemüht freundlich, „leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die Arbeit noch nicht abgeschlossen ist. Ich versichere Sie jedoch, das versprochene Fertigstelldatum einhalten zu können!“ Erschöpft ob der vielen Worte, die er sonst vermied, da er die Ansicht vertrat, nur wer etwas zu sagen habe, solle sich auch mitteilen – einen Grundsatz, den leider nur wenige Menschen mit ihm teilten - blieb er stumm vor dem Doktor, übrigens ein Doktor der Juristerei, kein Medikus, abwartend stehen.
„Und ich weiß wohl“, lächelte dieser verschmitzt, „dass Ihr in der ganzen Stadt, und auch weit darüber hinaus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, bekannt seid für vorzügliche und gleichwohl pünktliche Arbeit. Grämt Euch nicht, ob meiner unermüdlichen Nachfragen, es dient nur der Konversation, in keiner Weise etwaigem Misstrauen. Indes“, setzte er seinen Monolog fort, „bin ich mir durchaus bewusst, dass Ihr meinen Besuch als lästiges Eindringen empfindet, da Ihr doch am liebsten Eure Ruhe habt, um ungestört diese wundervollen Instrumente anzufertigen. Allerdings“, hob er weiter an, unterbrach seinen Redefluss jedoch und lauschte mit angestrengtem Gesichtsausdruck, „allerdings kann ich nicht verstehen, dass Euch die Musik auf Dauer nicht wahnsinnig macht!“
„Welche Musik?“ Erstaunt blickte der Instrumentenbauer sein Gegenüber an.
„Dieses Flötenspiel!“, erklärte Doktor Zoderer, blickte Anton Heberle erstaunt an und deutete nach oben, „Wo kommt es her? Ich würde es wissen wollen, so ich denn hier wohnte!“
Anton Heberle lauschte eine Weile, ganz so, als hörte er das Flötenspiel zum ersten Mal. Dann zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung! Ich muss Euch gestehen, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“
Der Jurist lachte ungläubig, und nahm an, dass das eine subtile Methode sei, ihm zu verstehen zu geben, er möge nun endlich die Werkstatt verlassen. So verabschiedete er sich und machte sich auf den Rückweg. Kurz vor der ersten Wegbiegung sah er sich noch einmal um und betrachte nachdenklich den Turm, der Anton Heberle gleichzeitig als Werkstatt und Wohnung diente.

Nachdem der Flötenbauer sein Tagwerk beendet hatte, zündete er sich eine Pfeife an und setzte sich auf die Bank, die er eben zu diesem Zweck gezimmert und neben der Eingangstüre platziert hatte.
Zufrieden rauchte er und genoss die Stille, als ihm des Doktors Frage wieder in den Sinn kam. Doch soviel er auch lauschte, er vermochte beim besten Willen keine Musik zu hören, war sich jedoch sicher, in der Werkstatt Flötentöne vernommen zu haben. Vielleicht irrte er? Und der gute Doktor ebenfalls!

Die Sonnenstrahlen des neuen Tages krochen eben erst den Hügel herauf, da stand Anton Heberle bereits in seiner Werkstatt und fertigte die nächste Stockflöte an. Am Spätvormittag bereitete er sich einen Kaffee und eine zweites Frühstück zu, als ihm die Musik auffiel. Angestrengt lauschte er, um den Verursacher zu orten. Das Flötenspiel schien aus dem Turm zu kommen.
Er überlegte eine Weile, während er bedächtig ein Stück Käse abschnitt und sich etwas Brot abbrach. Langsam erhob er sich, räumte alles sorgfältig auf und begann anschließend die Treppe in den ersten Stock hinaufzusteigen. Leere Stuben empfingen ihn und so stiefelte er noch in die nächste Etage. Nichts! Nur Spinnweben und Unmengen von Staub überzogen die beiden kleinen Zimmer. Achselzuckend kehrte er zu seiner Arbeit zurück und alsbald konzentrierte er sich wieder auf das halbfertige Instrument auf seiner Werkbank.
Hin und wieder hielt er inne und lauschte der Musik, von der er nun wusste, dass er sie nicht nur in seinem Kopf vernahm.

Noch bevor der Sonnenaufgang den nächsten Tag ankündigte, macht er sich abermals auf, den Turm zu besteigen. Diesmal stopfte er noch Notenpapier und einen Bleistift in seine Tasche, damit er die Melodie niederschreiben konnte. Da der Turm noch oben hin schmaler wurde, verengte sich auch die Wendeltreppe, die die einzelnen Stockwerke verband.
Im vierten Stock verschnaufte er kurz. Er lehnte sich gegen die Steinmauer, um wieder zu Atem zu kommen. Süßliche Flötentöne begleiteten ihn und er meinte die Weise zu kennen, die ihn wie der betörende Duft einer schönen Frau einhüllte. Er zog die Notenblätter aus seinem Wams und begann eifrig die Melodie niederzuschreiben. Darüber vergaß er den eigentlichen Grund seines Kommens und als alles Papier bis auf das letzte Fleckchen mit Noten bedeckt war, stellte er verwundert fest, dass das Tageslicht bereits zu schwinden begann.

Am dritten Tag stieg er gar bis in den achten Stock empor, setzte sich dort auf die staubigen Dielenbretter und füllte Seite um Seite mit winzigen Noten. Schrieb er die Flötenmusik auf, die er vernahm, so vergaß er ganz, dass er doch eigentlich den Verursacher derselben suchen wollte. Als er abends sein müdes Haupt zu Bette trug, fiel es ihm wieder ein und er nahm sich fest vor, am darauffolgenden Tag des Turmes Spitze noch näher zu kommen.

Doch so weit er auch die Treppenstufen erklomm, den Flötenspieler traf er nie.

Indessen war es ihm nicht mehr wichtig; Stunde um Stunde, Tag um Tag, verbrachte er hoch oben in seinem Turm und notierte fieberhaft all die Melodien, die um ihn herum schwebten. Er vernachlässigte seine Werkstatt mit den unfertigen Instrumenten.
In der Folge verlor er zunächst die Aufträge, dann seine Kundschaft und bald kam gar niemand mehr, um eine der vorzüglichen Stockflöten von ihm bauen zu lassen.
Es kümmerte ihn nicht. Wichtig waren ihm nur noch die Flötenweisen. Einige überdauerten die Jahrhunderte und sind der Nachwelt erhalten geblieben.

Anton Heberle geriet in Vergessenheit und eines Tages verschwand er einfach aus dem Leben; einen genauen Todestag gibt es von ihm nicht. Dahingegen gilt er als begnadeter Komponist vieler Flötenstücke, die auch heute noch die Zuhörer und Musiker in gleicher Weise erfreuen. Ebenso sind einige seiner unvergleichlichen Stockflöten erhalten geblieben und erinnern die Menschen so immer wieder an den Flötenbauer.


--------------

Anmerkung: Anton Heberle gab es wirklich. Von seinem Leben ist nicht viel bekannt: Er lebte als Flötist wohl in Wien, später in Ungarn. Geblieben sind nur seine Kompositionen und die Stockflöten, auch Csakan genannt, die er vermutlich erfunden hat. (Informationen von Wikipedia)
 

molly

Mitglied
Hallo Christa,

Wo Deine Geschichte besser aufgehoben wäre, kann ich Dir leider nicht sagen.
Vor langer Zeit lebte einmal ein Flötenbauer...
Ich finde Deine Geschichte märchenhaft, mit den alte Sprachwendungen und Wörtern "Juristerei"...
Ausgerechnet ein wenig geschätzter Kunde macht den Flötenbauer auf die Flötenmusik aufmerksam.
Der Flötenbauer legt sein Werkzeug fort, um als Musiker die wunderschönen Töne aufzuschreiben.

Viele Grüße

Monika
 
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob 'Märchen' der richtige Platz für meine Geschichte ist, oder ob ich sie besser zu 'Kurzgeschichten' verschieben sollte.


Der Flötenbauer


Er stand gebückt über der Werkbank, als ein Klopfen seine Konzentration störte.
„Herein“, murmelte er unwillig, ohne den Blick zu heben.
„Werter Herr Heberle!“, polterte ein großer Mann mit einem enormen Bauchumfang und hieb ihm zur Begrüßung seine mächtige Pranke auf den Rücken, so dass der Angesprochene unweigerlich zusammenzuckte. „Ich wollte mich nur einmal nach den Fortschritten erkundigen!“ Er ließ seine Augen flink über die Werkbank huschen und nickte zufrieden, auch wenn Anton Heberle sich sicher war, dass sein Auftraggeber nicht einmal die eine Holzart von der anderen zu unterscheiden wusste. Herr Doktor Zoderer, so hieß der beleibte Mann, hatte ihm jedoch schon so manchen lukrativen Auftrag verschafft, und so wollte er ihn nicht erzürnen, schluckte seinen Ärger über die unwillkommene Störung hinunter und wandte sich seinem Besucher zu.
„Herr Doktor Zoderer“, entgegnete er bemüht freundlich, „leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die Arbeit noch nicht abgeschlossen ist. Ich versichere Sie jedoch, das versprochene Fertigstelldatum einhalten zu können!“ Erschöpft ob der vielen Worte, die er sonst vermied, da er die Ansicht vertrat, nur wer etwas zu sagen habe, solle sich auch mitteilen –einen Grundsatz, den leider nur wenige Menschen mit ihm teilten- blieb er stumm vor dem Doktor, übrigens ein Doktor der Juristerei, kein Medikus, abwartend stehen.
„Und ich weiß wohl“, lächelte dieser verschmitzt, „dass Ihr in der ganzen Stadt, und auch weit darüber hinaus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, bekannt seid für vorzügliche und gleichwohl pünktliche Arbeit. Grämt Euch nicht, ob meiner unermüdlichen Nachfragen, es dient nur der Konversation, in keiner Weise etwaigem Misstrauen. Indes“, setzte er seinen Monolog fort, „bin ich mir durchaus bewusst, dass Ihr meinen Besuch als lästiges Eindringen empfindet, da Ihr doch am liebsten Eure Ruhe habt, um ungestört diese wundervollen Instrumente anzufertigen. Allerdings“, hob er weiter an, unterbrach seinen Redefluss jedoch und lauschte mit angestrengtem Gesichtsausdruck, „allerdings kann ich nicht verstehen, dass Euch die Musik auf Dauer nicht wahnsinnig macht!“
„Welche Musik?“ Konsterniert blickte der Instrumentenbauer sein Gegenüber an.
„Dieses Flötenspiel!“, erklärte Doktor Zoderer, blickte Anton Heberle erstaunt an und deutete nach oben, „Wo kommt es her? Ich würde es wissen wollen, so ich denn hier wohnte!“
Anton Heberle lauschte eine Weile, ganz so, als hörte er das Flötenspiel zum ersten Mal. Dann zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung! Ich muss Euch gestehen, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“
Der Jurist lachte ungläubig, und nahm an, dass das eine subtile Methode sei, ihm zu verstehen zu geben, er möge nun endlich die Werkstatt verlassen. So verabschiedete er sich und machte sich auf den Rückweg. Kurz vor der ersten Wegbiegung sah er sich noch einmal um und betrachte nachdenklich den Turm, der Anton Heberle gleichzeitig als Werkstatt und Wohnung diente.
Nachdem der Flötenbauer sein Tagwerk beendet hatte, zündete er sich eine Pfeife an und setzte sich auf die Bank, die er eben zu diesem Zweck gezimmert und neben der Eingangstüre platziert hatte.
Zufrieden rauchte er und genoss die Stille, als ihm des Doktors Frage wieder in den Sinn kam. Doch soviel er auch lauschte, er vermochte beim besten Willen keine Musik zu hören, war sich jedoch sicher, in der Werkstatt Flötentöne vernommen zu haben. Vielleicht irrte er? Und der gute Doktor ebenfalls!
Die Sonnenstrahlen des neuen Tages krochen eben erst den Hügel herauf, da stand Anton Heberle bereits in seiner Werkstatt und fertigte die nächste Stockflöte an. Am Spätvormittag bereitete er sich einen Kaffee und eine zweites Frühstück zu, als ihm die Musik auffiel. Angestrengt lauschte er, um den Verursacher zu orten. Das Flötenspiel schien aus dem Turm zu kommen.
Er überlegte eine Weile, während er bedächtig ein Stück Käse abschnitt und sich etwas Brot abbrach. Langsam erhob er sich, räumte alles sorgfältig auf und begann anschließend die Treppe in den ersten Stock hinaufzusteigen. Leere Stuben empfingen ihn und so stiefelte er noch in die nächste Etage. Nichts! Nur Spinnweben und Unmengen von Staub überzogen die beiden kleinen Zimmer. Achselzuckend kehrte er zu seiner Arbeit zurück und alsbald konzentrierte er sich wieder auf das halbfertige Instrument auf seiner Werkbank.
Hin und wieder hielt er inne und lauschte der Musik, von der er nun wusste, dass er sie nicht nur in seinem Kopf vernahm.
Noch bevor der Sonnenaufgang den nächsten Tag ankündigte, macht er sich abermals auf, den Turm zu besteigen. Diesmal stopfte er noch Notenpapier und einen Bleistift in seine Tasche, damit er die Melodie niederschreiben konnte. Da der Turm noch oben hin schmaler wurde, verengte sich auch die Wendeltreppe, die die einzelnen Stockwerke verband.
Im vierten Stock verschnaufte er kurz. Er lehnte sich gegen die Steinmauer, um wieder zu Atem zu kommen. Süßliche Flötentöne begleiteten ihn und er meinte die Weise zu kennen, die ihn, wie der betörende Duft einer schönen Frau, einhüllte. Er zog die Notenblätter aus seinem Wams und begann eifrig die Melodie niederzuschreiben. Darüber vergaß er den eigentlichen Grund seines Kommens und als alles Papier bis auf das letzte Fleckchen mit Noten bedeckt war, stellte er verwundert fest, dass das Tageslicht bereits zu schwinden begann.
Am dritten Tag stieg er gar bis in den achten Stock empor, setzte sich dort auf die staubigen Dielenbretter und füllte Seite um Seite mit winzigen Noten. Schrieb er die Flötenmusik auf, die er vernahm, so vergaß er ganz, dass er doch eigentlich den Verursacher derselben suchen wollte. Als er abends sein müdes Haupt zu Bette trug, fiel es ihm wieder ein und er nahm sich fest vor, am darauffolgenden Tag des Turmes Spitze noch näher zu kommen.
Doch so weit er auch die Treppenstufen erklomm, den Flötenspieler traf er nie.
Indessen war es ihm nicht mehr wichtig; Stunde um Stunde, Tag um Tag, verbrachte er hoch oben in seinem Turm und notierte fieberhaft die Melodien, die um ihn herum schwebten. Er vernachlässigte seine Werkstatt mit den unfertigen Instrumenten.
In der Folge verlor er zunächst die Aufträge, dann seine Kundschaft und bald kam gar niemand mehr, um eine der vorzüglichen Stockflöten von ihm bauen zu lassen. Es kümmerte ihn nicht. Wichtig waren ihm nur noch die Flötenweisen.
Anton Heberle geriet in Vergessenheit und eines Tages verschwand er einfach aus dem Leben; einen genauen Todestag gibt es von ihm nicht. Dahingegen gilt er als begnadeter Komponist vieler Flötenstücke, die auch heute noch die Zuhörer und Musiker in gleicher Weise erfreuen. Ebenso überdauerten einige seiner unvergleichlichen Stockflöten die Jahrhunderte, sind der Nachwelt erhalten geblieben und erinnern die Menschen so immer wieder an den Flötenbauer.

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Anmerkung: Anton Heberle gab es wirklich. Von seinem Leben ist nicht viel bekannt: Er lebte als Flötist wohl in Wien, später in Ungarn. Geblieben sind nur seine Kompositionen und die Stockflöten, auch Csakan genannt, die er vermutlich erfunden hat. (Informationen von Wikipedia)


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Anmerkung: Anton Heberle gab es wirklich. Von seinem Leben ist nicht viel bekannt: Er lebte als Flötist wohl in Wien, später in Ungarn. Geblieben sind nur seine Kompositionen und die Stockflöten, auch Csakan genannt, die er vermutlich erfunden hat. (Informationen von Wikipedia)
 

steyrer

Mitglied
Hallo Christa Reuch.

Ich denke, es ist eine märchenhafte Kurzprosa. Mehr als eine Skizze, weniger als eine Kurzgeschichte. Dein Protagonist wandelt sich vom Handwerker zum Künstler und kommt so der Welt abhanden, das gefällt mir sehr gut. Der Bezug zu einer realen Person rundet das Ganze ab.

Die Geschichte dürfte hier im Fantasy-und-Märchen-Forum ganz gut aufgehoben sein.

Kleiner Hinweis: Die Anmerkung am Ende ist doppelt.

Schöne Grüße
steyrer
 
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob 'Märchen' der richtige Platz für meine Geschichte ist, oder ob ich sie besser zu 'Kurzgeschichten' verschieben sollte.


Der Flötenbauer


Er stand gebückt über der Werkbank, als ein Klopfen seine Konzentration störte.
„Herein“, murmelte er unwillig, ohne den Blick zu heben.
„Werter Herr Heberle!“, polterte ein großer Mann mit einem enormen Bauchumfang und hieb ihm zur Begrüßung seine mächtige Pranke auf den Rücken, so dass der Angesprochene unweigerlich zusammenzuckte. „Ich wollte mich nur einmal nach den Fortschritten erkundigen!“ Er ließ seine Augen flink über die Werkbank huschen und nickte zufrieden, auch wenn Anton Heberle sich sicher war, dass sein Auftraggeber nicht einmal die eine Holzart von der anderen zu unterscheiden wusste. Herr Doktor Zoderer, so hieß der beleibte Mann, hatte ihm jedoch schon so manchen lukrativen Auftrag verschafft, und so wollte er ihn nicht erzürnen, schluckte seinen Ärger über die unwillkommene Störung hinunter und wandte sich seinem Besucher zu.
„Herr Doktor Zoderer“, entgegnete er bemüht freundlich, „leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die Arbeit noch nicht abgeschlossen ist. Ich versichere Sie jedoch, das versprochene Fertigstelldatum einhalten zu können!“ Erschöpft ob der vielen Worte, die er sonst vermied, da er die Ansicht vertrat, nur wer etwas zu sagen habe, solle sich auch mitteilen –einen Grundsatz, den leider nur wenige Menschen mit ihm teilten- blieb er stumm vor dem Doktor, übrigens ein Doktor der Juristerei, kein Medikus, abwartend stehen.
„Und ich weiß wohl“, lächelte dieser verschmitzt, „dass Ihr in der ganzen Stadt, und auch weit darüber hinaus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, bekannt seid für vorzügliche und gleichwohl pünktliche Arbeit. Grämt Euch nicht, ob meiner unermüdlichen Nachfragen, es dient nur der Konversation, in keiner Weise etwaigem Misstrauen. Indes“, setzte er seinen Monolog fort, „bin ich mir durchaus bewusst, dass Ihr meinen Besuch als lästiges Eindringen empfindet, da Ihr doch am liebsten Eure Ruhe habt, um ungestört diese wundervollen Instrumente anzufertigen. Allerdings“, hob er weiter an, unterbrach seinen Redefluss jedoch und lauschte mit angestrengtem Gesichtsausdruck, „allerdings kann ich nicht verstehen, dass Euch die Musik auf Dauer nicht wahnsinnig macht!“
„Welche Musik?“ Konsterniert blickte der Instrumentenbauer sein Gegenüber an.
„Dieses Flötenspiel!“, erklärte Doktor Zoderer, blickte Anton Heberle erstaunt an und deutete nach oben, „Wo kommt es her? Ich würde es wissen wollen, so ich denn hier wohnte!“
Anton Heberle lauschte eine Weile, ganz so, als hörte er das Flötenspiel zum ersten Mal. Dann zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung! Ich muss Euch gestehen, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“
Der Jurist lachte ungläubig, und nahm an, dass das eine subtile Methode sei, ihm zu verstehen zu geben, er möge nun endlich die Werkstatt verlassen. So verabschiedete er sich und machte sich auf den Rückweg. Kurz vor der ersten Wegbiegung sah er sich noch einmal um und betrachte nachdenklich den Turm, der Anton Heberle gleichzeitig als Werkstatt und Wohnung diente.
Nachdem der Flötenbauer sein Tagwerk beendet hatte, zündete er sich eine Pfeife an und setzte sich auf die Bank, die er eben zu diesem Zweck gezimmert und neben der Eingangstüre platziert hatte.
Zufrieden rauchte er und genoss die Stille, als ihm des Doktors Frage wieder in den Sinn kam. Doch soviel er auch lauschte, er vermochte beim besten Willen keine Musik zu hören, war sich jedoch sicher, in der Werkstatt Flötentöne vernommen zu haben. Vielleicht irrte er? Und der gute Doktor ebenfalls!
Die Sonnenstrahlen des neuen Tages krochen eben erst den Hügel herauf, da stand Anton Heberle bereits in seiner Werkstatt und fertigte die nächste Stockflöte an. Am Spätvormittag bereitete er sich einen Kaffee und eine zweites Frühstück zu, als ihm die Musik auffiel. Angestrengt lauschte er, um den Verursacher zu orten. Das Flötenspiel schien aus dem Turm zu kommen.
Er überlegte eine Weile, während er bedächtig ein Stück Käse abschnitt und sich etwas Brot abbrach. Langsam erhob er sich, räumte alles sorgfältig auf und begann anschließend die Treppe in den ersten Stock hinaufzusteigen. Leere Stuben empfingen ihn und so stiefelte er noch in die nächste Etage. Nichts! Nur Spinnweben und Unmengen von Staub überzogen die beiden kleinen Zimmer. Achselzuckend kehrte er zu seiner Arbeit zurück und alsbald konzentrierte er sich wieder auf das halbfertige Instrument auf seiner Werkbank.
Hin und wieder hielt er inne und lauschte der Musik, von der er nun wusste, dass er sie nicht nur in seinem Kopf vernahm.
Noch bevor der Sonnenaufgang den nächsten Tag ankündigte, macht er sich abermals auf, den Turm zu besteigen. Diesmal stopfte er noch Notenpapier und einen Bleistift in seine Tasche, damit er die Melodie niederschreiben konnte. Da der Turm noch oben hin schmaler wurde, verengte sich auch die Wendeltreppe, die die einzelnen Stockwerke verband.
Im vierten Stock verschnaufte er kurz. Er lehnte sich gegen die Steinmauer, um wieder zu Atem zu kommen. Süßliche Flötentöne begleiteten ihn und er meinte die Weise zu kennen, die ihn, wie der betörende Duft einer schönen Frau, einhüllte. Er zog die Notenblätter aus seinem Wams und begann eifrig die Melodie niederzuschreiben. Darüber vergaß er den eigentlichen Grund seines Kommens und als alles Papier bis auf das letzte Fleckchen mit Noten bedeckt war, stellte er verwundert fest, dass das Tageslicht bereits zu schwinden begann.
Am dritten Tag stieg er gar bis in den achten Stock empor, setzte sich dort auf die staubigen Dielenbretter und füllte Seite um Seite mit winzigen Noten. Schrieb er die Flötenmusik auf, die er vernahm, so vergaß er ganz, dass er doch eigentlich den Verursacher derselben suchen wollte. Als er abends sein müdes Haupt zu Bette trug, fiel es ihm wieder ein und er nahm sich fest vor, am darauffolgenden Tag des Turmes Spitze noch näher zu kommen.
Doch so weit er auch die Treppenstufen erklomm, den Flötenspieler traf er nie.
Indessen war es ihm nicht mehr wichtig; Stunde um Stunde, Tag um Tag, verbrachte er hoch oben in seinem Turm und notierte fieberhaft die Melodien, die um ihn herum schwebten. Er vernachlässigte seine Werkstatt mit den unfertigen Instrumenten.
In der Folge verlor er zunächst die Aufträge, dann seine Kundschaft und bald kam gar niemand mehr, um eine der vorzüglichen Stockflöten von ihm bauen zu lassen. Es kümmerte ihn nicht. Wichtig waren ihm nur noch die Flötenweisen.
Anton Heberle geriet in Vergessenheit und eines Tages verschwand er einfach aus dem Leben; einen genauen Todestag gibt es von ihm nicht. Dahingegen gilt er als begnadeter Komponist vieler Flötenstücke, die auch heute noch die Zuhörer und Musiker in gleicher Weise erfreuen. Ebenso überdauerten einige seiner unvergleichlichen Stockflöten die Jahrhunderte, sind der Nachwelt erhalten geblieben und erinnern die Menschen so immer wieder an den Flötenbauer.

--------------------------
Anmerkung: Anton Heberle gab es wirklich. Von seinem Leben ist nicht viel bekannt: Er lebte als Flötist wohl in Wien, später in Ungarn. Geblieben sind nur seine Kompositionen und die Stockflöten, auch Csakan genannt, die er vermutlich erfunden hat. (Informationen von Wikipedia)


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