Der Garten Eden

David

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Der Garten Eden












Vorwort
Große Umbrüche im Leben bringen manchmal seltsame Ereignisse mit sich.
Man sagt ja, so etwas lässt einen wachsen.

Diese Geschichte ist eine Erzählung von einem spirituellen Tagtraum, der mir in einer Lebenskrise widerfuhr.
Er dauerte drei Stunden.

Viele Figuren, Symbole, Bilder und Ereignisse auf dieser Reise, haben häufig mehr, als eine Bedeutung. Traumdeuter werden die Hintergründe einiger Symbole vielleicht erkennen. Manche Dinge bekommen jedoch noch einen weiteren Sinn, wenn man sie untereinander im Zusammenhang betrachtete.
Diese Geschichte beinhaltet also viele Geschichten in einer, mit Aussagen in Symbolen, kleinen Episoden, der gesamten Geschichte selbst und durch Verknüpfungen zu religiösen Zeugnissen.

So gebe ich nun eine Geschichte weiter, die mir durch einen Traum erzählt wurde.
Wer diese Geschichte liest und versteht, für den ist sie bestimmt.
Möge jeder für sich selbst entscheiden, ob und welche Bedeutungen er für sich darin entdecken kann.




Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.





Der Garten Eden

VORWORT 3
DER GARTEN EDEN 9
DER ERSTE MORGEN 9
DER ALTEN MANN 10
DER APFEL 10
DAS WASSER 11
DER GRASHALM 11
DER ZWEITE MORGEN 11
DER ALTEN MANN (ZWEIFEL) 12
DER APFEL 12
DAS WASSER 12
DER GRASHALM 12
DIE FRAGE 12
DAS ERSTE LEBEN 15
DER DRITTE MORGEN 15
DER AUFBRUCH 15
DIE JUNGVÖGEL UND DIE LUMPEN 16
DER ERSTE SCHRITT 17
EINBRUCH DER NACHT 18
EIN NEUER MORGEN 18
DIE SUCHE NACH DEM WEG 18
STÜRMISCHE NACHT 19
DER ALTEN MANN (REUE) 20
DER APFEL 20
DAS WASSER 20
DER GRASHALM 20
DAS ZWEITE LEBEN 21
DER SECHSTE MORGEN 21
DER ALTEN MANN (ERKENNTNIS) 21
DER ZWEITE SCHRITT 22
DER GROßE BAUM 23
DIE GLÖCKCHEN 25
EIN LEBEN AM WASSERFALL 27
DIE WEITERREISE 29
DER BETTLER 30
UNBEKANNTE FRÜCHTE 30
GNADENLOS 30
DAS DORF 32
VERÄNDERUNG IN EDEN 44
DIE HEIMKEHR 44
DER APFEL 45
DAS WASSER 46
DER GRASHALM 46
SCHÖPFUNG IN EDEN 46
ZWIESPALT IN EDEN 47
DIE VIER BURSCHEN 48
DAS DRITTE LEBEN 51
DER MORGEN 51
AUFBRUCH DER GEMEINSCHAFT 51
DIE VULKANLANDSCHAFT 52
DIE TRENNUNG 52
DER SCHRITT IN DIE HÖLLE 52
DER TOTE BAUM 53
DER GEYSIR 54
DIE LAVA 54
DIE HÖHLE 57
DER GIPFEL 57
DIE HEIMKEHR 60
AUFBRUCH INS PARADIES 62
DER NÄCHSTE MORGEN 62
DER PALAST 63
DER LETZTE MORGEN 63
DAS VIERTE LEBEN 65
DER ORT DES PARADIESES 65
DER ALTE MANN (DER NEUE MANN) 67
LANDKARTEN 68







Der Garten Eden
Der erste Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines hohen weißen Saales, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Langsam erkannte ich drei hohe Flügelfenster vor mir, die, durch einen wunderschönen weißen Rundbogen, in ihrer erhabenden Größe begrenzt, vom Boden bis kurz vor die hohe, gewölbte, mit Stuck besetzte Decke reichten. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen, weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.





„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür und erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende weiße Marmorterrasse, deren weißes geschwungenes Geländer, kontrastreich einen Saum zum azurblauen Himmel bildete. Noch kurz bevor ich die Terrasse betrat, blicke ich nach links durch eine geöffnete Tür in einen anderen großen weißen Saal. Einige Menschen standen sich dort gegenüber, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, und ich hörte dumpf ihr angeregtes palavern. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht mehr. Zu oft schon hatte ich, in der Vergangenheit, an den ergebnislosen Diskussionen teilgenommen, mich mit vergeblicher Müh eingebracht und auf eine hoffnungslose Veränderung gehofft. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete, wie immer, tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Nie war es anders. Und ich erblickte, wie jeden Morgen, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Ich glaube, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich jedes Mal, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.


Der alten Mann
Ich beschloss zu ihm zu gehen und folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Zugegeben, die Wahl seines Stammplatzes war nicht dumm. Dieser Ort hatte schon etwas praktisches. Wenn man Hunger hatte, brauchte man nur seinen linken Arm zu strecken und konnte problemlos nach einem grünen, saftigen und süßen Apfel greifen. Hatte man Durst, reichte eine kurze Neigung des Oberkörpers nach rechts, um sein Gesicht in das kristallklare Wasser des Zierbrunnens einzutunken. Gesättigt, genoss man dann diesen wundervollen Blick über die Landschaft, während man schläfrig, im angenehmen Halbschatten der Blätter, auf dem weichen Rasen lag.
Aber wenn man den besten Platz auf Eden nicht verlässt, weil man davon überzeugt ist, es gäbe keinen besseren, wird dann nicht der vollkommende Platz zum vollkommenden Gefängnis? Niemand sah eine Mauer, die ihn daran hinderte zu gehen, aber ich glaube, es gab eine Mauer, - in ihm. Eine Mauer der Angst.

Der Apfel
Fast demonstrativ, erhob der alte Mann seinen linken Arm, schob seine Hand durch das grüne Blättergewirr des Baumes und griff lässig nach einem der vielen Äpfel. Vor dem Hineinbeißen pflegte er seinen Mund dermaßen übertrieben groß aufzureißen, dass ich mich jedes Mal wunderte, warum er nie an einer Maulsperre litt.
Ich tat es ihm gleich und pflückte ebenfalls einen Apfel.

Er war unglaublich süß und saftig, - perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Der Apfel schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte der Apfel für mich, wie immer, eher mehlig.

„Verdammt, schon wieder!“, brüllte er plötzlich los, spuckte und beäugte ekelerregt und wütend, die verbliebende Hälfte eines sich krümmenden Wurmes. „Tausend mal habe ich das schon gesagt und Debatten geführt! Und was hat sich verändert? Nichts! Ist es denn zuviel verlangt, Äpfel ohne Würmer zu wollen? Ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer! Wie oft soll ich das noch sagen?! Was nützt alles Palavern, wenn doch nichts passiert?!“

Ich aß derweilen meinen Apfel auf und bestaunte die folgende Illumination, als er nun seinen weißen Oberkörper nach rechts schwenkte und seinen hoch roten Kopf in das kalte Wasser des Zierbrunnens eintauchte. In meiner Phantasie wartete ich auf das Geräusch eines deutlichen Zischens und eine aufsteigende Dampfwolke, die zu meiner Enttäuschung natürlich ausblieb.

Das Wasser
Ich neigte mich ebenfalls über den Brunnenrand, bildete mit beiden Händen einen Kelch und schöpfte mir Wasser zum Mund.
Das Wasser war kristallklar, kalt und frisch, – perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Das Wasser schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte das Wasser für mich, wie immer, eher fade.

„Schau dir das an!“, sagte der alte Mann, langsam wieder in Rage kommend. „Siehst du das Mosaik auf dem Grund des Brunnens?“

Ich lehnte mich über den Brunnenrand und schaute so konzentriert ich nur konnte, durch das türkis blaue Wasser, auf ein aus Mosaiksteinen zusammengesetztes Bild, aus tausend herrlichen Mustern.

„Der Mosaikstein in der linken unteren Ecke ist zersprungen!“, rief er, als ob ich schwerhörig wäre.

Ich gab meine Bedauerung zum Ausdruck und bestätigte ihm, dass dieses wohl tatsächlich nicht seine Richtigkeit haben kann.

Der Grashalm
Bald darauf saßen wir auf dem Rasen und debattierten, ob es denn nicht möglich wäre, Grashalme im Garten Eden einzusäen, die nicht gleich umknickten, wenn man sie beträte.
Und so „schaukelten“ wir uns die folgenden Stunden gegenseitig hoch. Was vorher gut war, schien nun unvollkommen, Kleinigkeiten wurden bedeutsam, Unwichtiges wichtig, Unvollkommenes wurde verurteilt und irgend jemand trug die Schuld dafür.

Der zweite Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Meine Augen waren wieder vom grellen Licht geblendet und ich senkte meinen Blick. Langsam begannen sich meine Augen zu erholen und ich begann meine Umgebung zu erkennen. Ich stand wieder barfuss auf dem angenehm kühlen Marmorboden in Mitten des hohen weißen Saales. Vor mir die drei gläsernen Rundbögen. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und die linke Flügeltür war wieder leicht geöffnet. Die Vögel zwitscherten und eine lauwarme Brise ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Ich folgte der Einladung und ging erneut zur geöffneten Tür. Mein üblicher Blick nach links durch eine geöffnete Tür, fiel wieder flüchtig in den anderen großen weißen Saal, wo sich gewohnheitsmäßig einige Menschen, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, gegenüber standen und angeregt palaverten. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht. Ich schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete wieder tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Der alte Mann stand, mal wieder, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel. Er war, wie immer, alleine.
Ja, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und mir wurde wieder bewusst, dass jeder, der zum Brummen und Apfelbaum ging, somit auch unvermeintlich den alten Mann besuchen müsste. Und er freute sich immer so, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.

Der Alten Mann (Zweifel)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich wieder zu mir um und lächelte.
Ja, es war nicht nötig, etwas zu sagen, - vielleicht, war es auch wirklich nicht mehr möglich, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Der Apfel
Ich pflückte einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt, wie immer, süß und saftig.
Doch es war eben nichts besonderes für mich.
Und so schmeckte mir der Apfel, wie immer, eher mehlig.

„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.

Das Wasser
Und so trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt, wie immer, kristallklar, kalt und frisch.
Doch es war wieder nichts besonderes für mich.
So schmeckte mir das Wasser, wie immer, eher fade.

„Schau dir das an!“, klang es in scheinbar weiter Ferne dumpf.

Der Grashalm
Und mein Blick viel träge zu Boden, wanderte von einem Grashalm zum nächsten, schwebte langsam über die Wiesen, hinüber zu den grünen Hügeln, über die vielen Blumen und zu den vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. Und meine Blicke verharrten am Horizont, wo ein langer, hoher, goldener Zaun die Grenze des Garten Edens bildete.

„Ein abgebrochener Grashalm!“, hörte ich ihn.

Die Frage
Ich schaute dem alten Mann ernst und tief in seine stahlblauen Augen und Stille kehrte ein.
Die tiefen Augen, zwischen den kleinen Falten, unter den weißen Augenbrauen, sprachen von einer langen Erfahrung aus einer traurigen und enttäuschten Vergangenheit:

„Alter Mann“, sagte ich zu ihm und zog eine Augenbraue hoch, „so wie sich deine Welt, zwischen diesem Baum und jenem Brunnen befindet, so ist auch meine Welt begrenzt durch den goldenen Zaun des Garten Edens. Kannst Du mir sagen, was mich hinter dem goldenen Zaun erwartet, dessen Grenzen ich bisher nie zu überschreiten wagte?“

„Mein Junge“, seufzte er und schüttelte lächelnd mit seinem Kopf, „hinter dem goldenen Tor des Garten Edens, ist das Leben.“

„Was ist das Leben?“, fragte ich ihn.

„Nichts, was einen Grünschnabel wie dich interessieren sollte. Dort gibt es nichts, was es zu begehren wert wäre. Ich sehe deine schelmischen Pläne hinter deiner unschuldigen Stirn“, grinste er. „Doch streiche dir deine Flausen aus dem Kopf und denke nicht weiter über diesen Unsinn nach. Hier nimm! Iß diesen Apfel!“, sprach er und versuchte vom Thema abzulenken.

Es ärgerte mich, dass er mich so herabwürdigend behandelte und mir so grundsätzlich jede Fähigkeit aberkannte, dass er es sogar für überflüssig hielt, meine Frage zu beantworten, um auf meinen Wunsch nach Erkenntnis, Weiterentwicklung und Selbstentfaltung einzugehen. Aber so schnell wollte ich mich nicht abspeisen lassen:

„Was erwartet mich im Leben?!“

Der alte Mann schaute auf mich herab: „Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, gerade du würdest es nicht einmal drei Tage dort aushalten und auf allen vieren kämest Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Es haben schon ganz andere versucht, das Leben zu leben. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir bestimmt nicht gefallen.“

Ich überlegte einen Moment. Zu einseitig schlecht erschien mir seine Beschreibung vom Leben, zu ängstlich seine Einstellung und sein Rat an mich, nur an Vertrautem festhalten zu sollen und es noch nicht einmal zu wagen, über Unbekanntes nachzudenken. Ich bezweifelte außerdem, ob es angemessen war, so wenig Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten haben zu dürfen, wie er es mir vermittelte. Eigentlich sollte mich seine Aussage nicht wundern, denn schließlich verließ er nie seinen Platz zwischen dem Apfelbaum und dem Zierbrunnen, um sich mal frei im Garten Eden zu bewegen, obwohl ich dort nie eine Bedrohung fand. Aber warum hatte er eine so geringschätzige Meinung über mich und traute mir sogar noch weniger zu, als anderen? Es erweckte bei mir den Anschein, als ob er in Wahrheit eine Vertuschung seiner eigenen Angst oder eines eigenen Versagen bezweckte und mich nur deshalb von meinem eventuell Erfolg abhielt, um sich meinen Respekt zu sichern. Sein Rat bezweckte also vielleicht eher seinem Eigennutz, als seiner ehrlichen Sorge um mich. Wie würde er sich wohl fühlen, wenn mir etwas gelänge, was ihm in der Vergangenheit vielleicht nicht gelungen war? – Wenn ich mich zu etwas fähig erweise, wozu er nicht imstande war? Wäre er dann neidisch auf mich? Würde dies sein Selbstwertgefühl sinken lassen? Hatte er Angst, ich würde dann auf ihn herabsehen? Oder gab es, in Bezug auf das Leben, einen wirklich berechtigten Grund für ihn, sich um mich sorgen zu müssen?

“Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, sprach ich provokativ und hoffte auf überzeugendere Argumente, die mir erklären sollten, weshalb ich ihm mehr trauen sollte, als dem Gefühl, welches in mir ausbrechen wollte, um mir zu sagen, ich solle etwas verändern.

Irgendwie unpassend, legte er scheinbar freundschaftlich einen Arm auf meine Schulter und enthüllte aus meiner Sicht altklug, selbstgefällig und respektlos seine wahre Ansicht über andere und mich:
„Du bist jung und forsch, aber auch blauäugig und dumm. Mach doch, was du willst, aber nur ein törichter Narr verlässt den Garten Eden, um in das Leben zu gehen. Du wirst es sehen. Ich gebe dir höchstens drei Tage. Du wirst auf Knien zurückkommen und mir recht geben!“

Aus meinen Augen hatte er vor allem mich als Person in Frage gestellt. Er schien seiner Überzeugung und meiner Unfähigkeit, ihn zu verstehen, so sicher zu sein, dass er sich nicht einmal bemühte, mit mir zu diskutieren, sondern billigte mir statt dessen jegliche Freiheit zu, in mein eigenes Verderben zu rennen, während er mir gleichzeitig seinen Schutz durch hilfreiche Tipps für das Leben vorenthielt. Wenn er um mich besorgt war, warum half er mir nicht konstruktiv mit Information, die mich für das Leben hätten wappnen können? Ich vermisste irgendwelche nützlichen Hinweise, die mir hätten helfen können, nicht die gleichen Fehler zu machen, wie er. So ließ er es aber zu, mich in Fallen tappen zu lassen, die ich hätte umgehen können, wenn er mir aus den Details seiner Erfahrung berichtet hätte. Mit seine ungenauen Anspielungen machten er mir nur Angst und seine Sicherheit verunsicherte mich. Besser, als mit jeder Argumentation, manipulierte er mich hierdurch, ihm unwissend vertrauen zu sollen. Er heilt mich in seiner Abhängigkeit; und das wusste er sicherlich.
Ich drehte mich um und verließ seinen Platz, um zurückgezogen, für mich alleine, nachdenken zu können. Ich fühlte mich durch seine geringschätzige Bewertung über mich, der unpräzisen Angstmachung und der von ihm so dargestellten Aussichtslosigkeit meiner „närrischen“ Ambition, in meinem Mut erschüttert, denn woher sollte ich wissen, ob er nicht sogar recht hatte. Was, wenn er recht hätte? Was, wenn ich recht hätte? Was würde mich wirklich hinter dem goldenen Zaun des Garten Edens erwarten?
Um die Last seiner Worte beschwert und in meinen Gedanken gefangen, wandelte ich, mit dem Blick nach unten, auf die blendend hellweißen Marmorplatten des Weges, zurück zur Villa.

Das erste Leben
Der dritte Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus dem gleißendes Licht und erkannte, wie ich mal wieder im hohen weißen Saal mit den drei erhabenen Flügelfenstern aufgewacht war. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür.
Im linken Raum, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, standen wieder einige Menschen und palaverten. Ich wusste natürlich, worüber sie redeten, aber es interessierte mich eben nicht mehr. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe saßen wieder vereinzelnd Menschen an weißen Steintische. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

“Dies, ist der Garten Edens“, wusste ich.

Der alte Mann stand, wie immer alleine, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel und mir wurde wieder bewusst:

„Dies ist sein Platz!“

Der Aufbruch
Ich folgte in alter Gewohnheit den weißen Stufen hinunter in den Garten – doch dieses mal blieb ich plötzlich stehen. Seltsam ergriff mich der weiße vor mir liegende Marmorweg. Vage Sicherheit überkam mich mit leuchtender Klarheit. Und als ob ich es der Welt ins Angesicht schreien wollte, platzte es aus mir heraus und sprach doch nur zu mir selbst, mit abgehakten Worten, jedes sein eigenes Gewicht in der Bedeutung:

„Und dies ist mein Weg!“

Der alte Mann drehte sich aus der Ferne zu mir um. Einen Augenblick verharrten unsere sich begegneten Blicke, dann begann er langsam mit dem Kopf zu schütteln und begann arrogant zu lächeln: „Keine drei Tage!“, rief er.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Und so folgte ich etwas unsicher dem weißen Marmorweg und spürte auf meinem Rücken die mich lähmen wollende Blicke des alten Mannes. Gleichmäßig kurzgemähtes Gras umsäumte meine gleißend helle Straße und sollte mich bis ans Ende von Eden und den Anfang des Lebens begleiten. Die Bäume begannen mit meinem Fortkommen ihre Silhouette zu verändern. Dünne Nebelschwaden schlichen durch die Täler und suchten Zuflucht vor der aufsteigenden Mittagssonne. Die weißen Fliesen meines Weges zogen, mit jedem meiner Schritte, gleichmäßig unter mir hindurch und ich blickte auf sie herunter, als schaute ich von oben auf eine Welt, die ich verlassen hatte. Monoton begrüßten mich rhythmisch abwechselnd meine nackten Füße, die in mein Sichtfeld eben so schnell kamen, wie sie verschwanden. Meine Augen blickten auf, zum Horizont der vor mir liegenden Bergkuppe. Allmählich kam sie mir näher und legte sich alsbald zu meinen Füßen. Ich schaute herab und dann sah ich es:

Ein hohes, goldenes und prunkvoll verziertes Tor:
Tausende von Ornamenten, Figuren und Fratzen, schienen die goldenen Gitterstäbe zusammenzuhalten und berichteten von Geschichten, die da waren, die da sind und die da möglicherweise kommen werden.
Rechts und links neben der doppeltürigen Pforte, etwas tiefer, schloss ein goldener Gitterzaun an und zog seine Linie über die Landschaft Edens, bis sich der Zaun in weiter Ferne, hinter Hügeln und Wäldern, nahe dem Horizont, meinen Blicken entzog. Ich näherte mich weiter dem Tor. Frauen in weißen Kleidern strebten vor mir nach rechts und links auseinander, verteilten sich am Wegesrand und standen mir Spalier. Sie blickten mich an, aber schwiegen. Langsam begann sich das riesige Tor zu öffnen und schwer schwenkten mir die Flügel entgegen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Hinter dem Tor und durch die Gitter der Grenze Edens, lugte eine Landschaft hindurch, die mir fremder war, als alles was ich bisher kannte. Ein lehmiger, steiniger Weg zog sich unregelmäßig durch eine sandige flache Steppe. Einige braune, blattlose Büsche spähten mit ihren verdorrten Ästen zwischen den kleineren und größeren grauen Steinen hervor. Der Wind wehte feinen Sand über die Prärie. Dahinter folgte eine flache Tundra, bewachsen von wilden hohen Wiesen und allem braunen Gestrüpp. Schließlich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, ein dichter dunkler Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien.
„Dies ist das Leben“, wusste ich.
Doch wusste ich auch, was ich da tat?

„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du wirst dir selbst begegnen und es wird dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an die Worte des alten Mannes.

“Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, machte ich mir Mut.

Die Jungvögel und die Lumpen
Noch kurz bevor ich das Tor durchschritt und das Leben betrat, blicke ich nach links und rechts, zum Fuße der goldenen Grenze des Garten Edens und bemerkte zweierlei Menschen, die davor und die dahinter saßen.

Die davor saßen, die im Garten Eden, trugen saubere weiße Gewänder und saßen nebeneinander aufgereiht, wie junge Vögel auf einem Ast, denen die Daunen zu lang und die Federn noch zu kurz waren, um flügge zu sein. Und so hockten sie, in ihrer Sehnsucht zu fliegen, doch in ihrer Feigheit verbleibend, palavern nebst ihres vertrauten Nachbarn. Schnatternd und fachsimpelnd, bewertend und beurteilend, tauschten sie einander aus und richteten dabei ihre Blicke durch die Gitter des Zauns. Sie lästerten über die Akteure des Lebens, übertrumpften sich gegenseitig in theoretischem Wissen und hypothetischen Entscheidungen und sie wetteiferten, welcher der ihrigen, im Falle des Falles, wohl am besten abschneiden würde, wenn er denn im Leben wäre.

Die dahinter saßen, die im Leben, waren in kleinen Gruppen an den Zaun gedrängt. Verhüllt und eingekauert in tristlosen, dicken, grauen Stoffen. Ihre Gesichter vermummt. Aus den schützenden Tüchern ihrer Lumpen, dem sandigen Sturm und der heißen Sonne trotzend, funkelten verborgene Augen aus kleinen Sehschlitzen hervor. Sie waren die wohlhabenden des Lebens und Maulhelden des Garten Edens. Oh, wie sie mit ihrem Mut prahlten und die „Jungvögel“ hochmütig zum besser machen anstachelten, wenn sie bald durchs Tor in den sicheren Garten Edens gekrochen kamen und Rechenschaft ablieferten mussten, während sie hier Ihren Durst am Brunnen löschten und Ihren Appetit am Apfelbaum stillten, statt sich ihren Lebensunterhalt im Leben zu erkämpfen.

Und so, wie die da draußen fluchtbereit unweit des errettenden Eingangs saßen, verweilten die da drinnen unweit des Ausgangs der ersehnten Freiheit, feige zwischen dem harten Leben und dem schützenden Garten Edens verharrend. Ängstliche Torwächter zwischen Ungewissheit und Heimat, an der goldenen Grenze zwischen Flucht und Zuflucht.

Ich machte keinen Unterschied zwischen denen die davor und denen, die dahinter saßen. Für mich waren sie allesamt Drückeberger, die weder das Leben erlebt, noch sich einer Ehre verdient gemacht hatten. Selbstgefällige Pantoffelhelden oder vielleicht auch nur bedauernswerte Geschöpfe, die sich mit ihren scheinbaren Heldentaten etwas einredeten und sich mit ihrem vermeintlichen Wissen nur ausredeten.

Ich wollte sie noch fragen, was sie dort eigentlich taten, doch als ich ihre Gesichter sah, wusste ich, sie würden mir ewig eine Antwort schulden.

Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Dumpf hörte ich ihr angeregtes palavern und wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.

Der erste Schritt
Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch, betrat mit einigen Schritten mutig den lehmigen Boden jenseits der Grenze - und atmete tief und ahnungslos die kochend heiße staubige Luft des Lebens ein. - Wie Feuer eines Flammenwerfers drang die Hitze viel zu tief durch die Luftröhre in meine Lungen und feiner Sand und Staub reizten mich zum Husten.

Ich hatte plötzlich außerdem das Gefühl, mein Körper wäre um ein vielfaches schwerer geworden. Meine dünnen schwachen Beinchen vermochten kaum mein Gewicht zu tragen. Ich stemmte mich breitbeinig, wie auf Stelzen, wackelig ausbalancierend, gegen die ungeheure Gravitation der Erde und wagte es kaum mein Gewicht auf nur ein Bein zu verlegen, um den nächsten Schritt zu riskieren, da ich fürchtete, nicht genügend Kraft zu haben, um auf einem Bein stehen zu können.

„Wie, um Gottes Willen, soll ich die Kraft aufbringen, in dieser Welt vier Wochen zu überleben?“ , fragte ich mich verblüfft und voller Entsetzen und röchelte so flachatmig es ging, um den heißen Atem nicht tiefer in mich eindringen zu lassen, als unbedingt nötig.

Ich neigte mich gegen den heißen Wind und schaute über meine Schulter nach hinten, zu den flatternden Tüchern, unter denen irgendwo Menschen Schutz vor den Naturelementen suchten. Sand peitschte mir ins Gesicht und haftete in meinen tränenden Augen, so dass ich augenblicklich versuchte, mir diesen mit meinen staubigen Händen herauszuwischen, was die Situation noch verschlimmerte. Also blickte ich mit zugekniffenen Augen nach vorne und machte mir Mut, so weit es ging:

„Jede noch so lange Wanderung“, sagte ich mir, “beginnt immer mit einem ersten Schritt!“

Und so verlegte ich mein ganzes Gewicht auf mein linkes Bein und stelzte mit meinem Rechten nach vorne. Ich riss mich zusammen und legte meine gesamte Energie auf nur einen Gedanken:

„Gehe! Schritt für Schritt! Gehe!“

Und meine weichen Füße gehorchten. Sie fielen platt auf den vor mir liegenden Lehmboden und begruben, die darauf liegenden kleinen, scharfkantigen Steinchen, die sich gemeiner weise immer wieder die selben Stellen suchten, um sich durch meine dünnen Fußsolen in das Fleisch zu bohren.
Bald entdeckte ich eine neue Atemtechnik. Ich atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus. So ließ sich die heiße Luft besser ertragen und weniger Sand sammelte sich in meinem Mund. Rhythmisch knirschte ich auf den Sandkörnern zwischen meinen Zähnen, im Takt meiner schweren Schritte.

„Wenigstens habe ich was zu beißen“, sagte ich zu mir mit einem gewissen Galgenhumor.

Bald waren meine Füße von den scharfkantigen Steinen an vielen Stellen aufgerissen. In einiger meiner Fußstapfen erkannte ich, hin und wieder, kleine Blutstropfen.

Die Sonne brannte unbarmherzig und hart auf meine weiße Haut. Immer wieder drehte ich mich um und fragte mich, ob ich wohl noch die Kraft hätte umzukehren, um gegebenenfalls das errettende Tor erreichen zu können. Einen Moment lang war ich dabei wohl etwas unaufmerksam und trat ungeschickt, mit meinem linken Fuß, auf eine scharfe Kante eines fußballgroßen Steines. Wie ein Rasiermesser schnitt sich die raue Kante in meinen Fußballen ein. Ich versuchte noch mein Gleichgewicht zu verlagern, rutsche aber aus, schrappte an einem Dornenbusch vorbei und viel aufschreiend, erst gegen die harte Seitenfläche eines Felsens und endete schließlich, der Länge nach, im Sand. Auf meiner linken Schulter liegend, krümmte ich mich vor Schmerzen. Mit meiner linken Hand hielt ich meinen schmerzenden Fuß und mit der anderen, meinen gestoßenen Hinterkopf. Ich schrie vor Leid und Wut, während ich in Embryonallage eingekrümmt, auf dem heißen sandigen „Bett“ lag.

Es tat gut, als nach einiger Zeit der Schmerz etwas nachließ.
Mein rechter Arm, ich hielt mit ihm noch immer meinen Hinterkopf fest, schenkte mir etwas Schatten im Gesicht. Ich beobachtete unter diesem Arm hindurch, wie unter meiner linken Hand, Blut aus dem Fuß hindurch sickerte und den trockenen Sand langsam dunkelrot einfärbte. Bald begann die Blutung zu stillen. Ich schaute flach über dem Boden in die Ferne, zurück des Weges, den ich kam und sah in aller Pracht den Ort, den ich vielleicht nie hätte verlassen sollen. Den Garten Eden.
So lag ich vielleicht noch eine halbe Stunde lang im Sand. Dann setzte ich mich schließlich auf und lehnte mich mit meinem Rücken gegen eine steile Fläche des hohen Steins, mit der mein Hinterkopf vorhin, „Kontakt“ geschlossen hatte. Ich spuckte ein paar Krümel Sand aus meinem trockenen Mund. Die Zunge klebte förmlich am Gaumen und ich hatte unendlich großen Durst. Mein dünnes Hemdchen war zerrissen, und meine Haut war zerkratzt und von der Sonne verbrannt. Ich zog rote Hautfetzen von meinem Arm. Mein Kopf dröhnte und mir war übel.

Einbruch der Nacht
Es wurde bald auffällig still um mich herum. Der Wind schlief langsam ein. Bald war nichts zu hören, außer ein leises Rascheln einiger langer Gräser, unweit meines Sitzplatzes. Dann sah ich die riesige rote Sonne im Westen. Der leuchtende Ball begann sich langsam zu einem Oval zu verzerren, bis er tief über dem Horizont zu zerfließen schien. Die Schatten der kleinen Hügel und großen Felsbrocken wurden länger, streckten sich über den roten Boden und zogen Richtung Osten dunkle „Barrieren“ über meinen Weg. Als das Himmelsfeuer im Nord-Westen verglimmte und nur noch vereinzelnd kleine Zirruswolken, hoch oben, im rötlichen Schein der untergegangenen Sonne, die Nacht einleiteten, funkelten bereits die ersten silbernen Sterne zwischen ihnen hindurch und das dunkle Blau des Himmels wurde zu tief schwarzer Nacht. Bald strahlten nur noch die Sterne mit ihrem fahlen Licht auf den Boden der Steppe. Die kleinen Quarzkristalle meines Granitsteines, an den ich immer noch gelehnt war, funkelten ganz leicht im Sternenlicht. Der Sand und der Stein gaben noch für kurze Zeit ihre gespeicherte Energie des Tages ab. Dann wurde alles bitter kalt und weder Stein noch Sand spendeten Wärme. Mit einer leichten Briese drang eisige Kälte unter meine dünne, zerrissene Kleidung, kroch über meine verbrannte Gänsehaut und ich fröstelte. Ich kauerte mich zusammen und schlief endlich zitternd ein.

Ein neuer Morgen
Langsam erhob sich der rote, schwere Stern in das Himmelsgewölbe und begann, mit seinen ersten Strahlen, die Kälte der Nacht zu vertreiben. Ich öffnete mein rechtes Auge, mein linkes war noch mit der linken Gesichtshälfte im Sand vergraben und blickte auf einen, im rötlichen Morgenlicht beschienen, kleinen Vogel, der einige Zentimeter vor meinem Gesicht hockte und mich neugierig, mal mit seinem rechten und mal mit seinem linken Auge, begutachtete. Wie gerädert hob ich meinen bleiernen Kopf aus dem Sand und schaute dem davonfliegenden Vogel hinterher. Ich schob mich am Felsen hoch und lehnte mich wieder mit meinem Rücken an ihn. Noch wie gelähmt vor Kälte, erreichten mich die ersten schläfrigen Sonnenstrahlen und verströmten wohlige Wärme. Dort lag der Garten Eden. Ganz klein konnte ich den Brunnen und den Apfelbaum sehen. Irgendwo dazwischen erahnte ich den alten Mann, der über klares Wasser, gegen den Durst und über süße Äpfel, zum Stillen seines Hungers, verfügte. Ich hatte schrecklichen Durst. Sollte ich umkehren? Abschätzend blickte ich in die entgegengesetzte Richtung. Der Wald schien nicht mehr so weit entfernt.

„Vier Wochen“, sagte ich mir. „Nur vier Wochen.“

Die Suche nach dem Weg
Ich stellte mich auf meine schmerzenden Füße und schleppte mich weiter des Weges Richtung Wald.
Bald erreichte ich die Tundra.

„Endlich kein Sand mehr“, dachte ich mir.

Dichte schwarze Wolken zogen herauf und verdunkelten den Himmel. Es Donnerte. Das Rascheln der hohen Gräser wurde lauter. Wind kam auf, änderte seine Richtung und nahm unaufhörlich an Stärke zu. Blitze schlugen in einigen Kilometern in den Boden ein. Es begann mit einigen wenigen Tropfen, doch dann schüttete es wie aus Eimern. Ich hielt meine Hände auf, schlürfte daraus das segenreiche Wasser und spülte den schlammigen Sand in meinem Mund herunter. Mein Durst legte sich und mein Hunger machte sich bemerkbar. Die Regentropfen trafen sich auf Grashalmen, Moosen und auf dem lehmigen Boden zwischen den Steinen. Sie versammelten sich und flossen gemeinsam in kleinen Rinnsälen auf Bahnen des geringsten Widerstandes. Aus Rinnsälen wurden Bäche und aus Pfützen kleine Teiche. Immer größere Wassermassen drängten sich durch das Gestrüpp und überfluteten den Boden. Lehm und Sand wurde zu Schlamm. Mein Weg glich inzwischen einem kleinen Fluss und der Sturm tobte und riss kleine Zweige, Gräser und Blätter mit sich. Immer tiefer versank ich mit jedem Schritt im Schlamm und jeder Schritt wurde zum Kampf. Ich war bis auf die Knochen nass. Der Sturm blies über meinen patschnassen Körper und stahl ihm jegliche Restwärme. Um nicht tiefer in den kalten Matsch einzusinken, kroch ich auf allen Vieren weiter.
Hinter mir leuchtete der Garten Eden. Dort schien am blauen Himmel die Sonne, aber in der entgegengesetzten Richtung, nur etwa hundert Meter vor mir entfernt, lag auch der ersehnte Wald. Mein Ziel. Ich musste es einfach schaffen und schleppte mich weiter. Endlich erreichte ich die Waldkante und suchte nun Verzweifelt eine Möglichkeit, in den Wald hineinzugelangen, um Schutz zu finden, aber seine Grenze war dermaßen verwuchert und mit Dornenbüschen verbarrikadiert, dass ich keinen Weg hineinfinden konnte.

Stürmische Nacht
Es wurde unter den tosenden Gewitterwolken immer dunkler. Inzwischen musste die Sonne wohl schon längst untergegangen sein, aber ich gab nicht auf. Trotz meiner Müdigkeit suchte ich bis tief in die Nacht im tobenden Sturm, unter schüttendem Regen und donnernden Blitzen, einen Weg in den Wald, bis ich irgendwann erschöpft aufgab und mich in den Schlamm fielen ließ.

Der Regen peitschte mir weiterhin unaufhörlich ins Gesicht, aber ich regte mich nicht mehr.
Apathisch hatte ich nur noch einen Blick für den Garten Eden, dessen warmes Leuchten mich in seinen Bann zog. Meine Heimat, ein einziger kleiner Lichtschimmer in weiter Ferne, scheinbar unberührt vom Grollen und Heulen dieses Gewitters und Hagels, weit weg vom peitschendem Sturm, der hier an meinem Körper riss, ihn durchnässte und jeglicher Wärme entzog. Noch einmal drückte ich mich hoch, um in dieser Dunkelheit einen Blick auf die Schönheit des Glanzes werfen zu können. Und ich begann mich von der magischen Anziehungskraft, der leuchtenden Wärme, einfangen zu lassen und strebte dem apokalyptischen Geschehen, in diesem dunklen Tunnel, zu entfliehen, hin zum Licht der Heimat, wie die Motte zum Schein des Feuers.
Und so wühlte ich mich durch die Nacht, durch Schlamm und Wassermassen, zurück auf dem Weg nach Hause. Erst kroch ich, doch bald marschierte ich wieder. Ohne Emotion, ohne Schmerz, taub und mechanisch, wie eine Maschine. Und wenn ich nur noch einen kleinen Finger hätte bewegen können, ich hätte ihn bis zu meinem bitteren Ende bewegt.

Im Morgengrauen erreichte ich die Grenze zur Steppe und schleppte mich wieder über den Sand unter der glühenden Sonne. Als ich dann endlich das goldene Tor des Garten Edens erreichte, krabbelte ich auf blutigen Händen und Knien der Erlösung entgegen. Zwei weiße schemenhafte Gestalten kamen mir durch die Pforte entgegen, stützten mich unter den Schultern und schleiften mich endlich hinein. Sie legten mich sanft, mit dem Gesicht nach unten, auf den weißen Marmorboden. Dann entfernten sie sich wieder ein paar Meter von mir und beobachteten mich mit respektvollem Abstand.
Niemand sprach, - es gab keinen Laut, - absolute Ruhe.
Ich winkelte meine Knie an und hockte mich auf meine Hacken. Nach vorne gebeugt, verweilte ich einen Moment und beobachtete meinen Schatten, dessen Silhouette ein Abbild von mir selbst auf die Fliesen zeichnete. Ich holte, mit mehreren Verzögerungen, tief Luft. Dann gewannen meine Gefühle des tiefen Schmerzes die Oberhand und ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Ich weinte.

Schließlich wurde mein Körper wieder leicht wie eine Feder. Trotz der Narben auf meiner roten Haut und den wunden Füßen, Knien und Händen, vergingen meine Schmerzen. Langsam erhob ich mich in meinen zerfetzten Lumpen. Ich blickte um mich herum und erkannte nun, dass die weißen Gestallten, die mich in den Garten Eden brachten, die Frauen in den weißen Gewändern waren, die mir bereits bei meinem Weg ins Leben, am Tor, Spalier gestanden hatten. Die Frauen in ihren weißen Gewändern standen noch immer um mich herum und schauten mich mit entsetzten Blicken an, aber niemand sagte etwas. Auch ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Also drehte ich mich schweigend von ihnen weg und begann langsam der weißen Marmorstraße in Richtung der weißen Villa zu folgen, hin zu jenem mir vertrauten Ort, wo ich einen alten Mann, zwischen einem Zierbrunnen und einem Apfelbaum, wiedersehen würde.
Still schwebte ich zwischen den grünen Hügeln auf dem Weg des Lichts.

Und da erblickte ich ihn abermals, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können. Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich jedes Mal, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.

Der alten Mann (Reue)
Ich verließ den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch das kurze Gras, bis ich neben ihm stand.
Eine Zeitlang verweilte ich still neben ihm und traute mich nicht ein Wort zu sagen. Dann unterbrach ich die erdrückende Stille und sprach leise,

„Du hattest Recht, alter Mann. Ich war ein Narr.“

Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, mehr zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, wirklich etwas zu sagen, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Der Apfel
Ich pflückte wieder einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt. Er war wirklich unglaublich perfekt.
Er war süß, saftig und außergewöhnlich lecker.
Noch nie schmeckte mir ein Apfel so gut, wie dieser.
Oh, wie ich ihn genoss und spürte, wie mein Hunger verflog.

„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.

Das Wasser
Alsbald trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt. Es war wirklich unglaublich perfekt.
Es war kristallklar, kalt und frisch.
Noch nie schmeckte mir Wasser so gut, wie dieses.
Oh, wie ich es genoss und spürte, wie mein Durst verflog.

„Schau Dir das an!“, klang es dumpf in scheinbar weiter Ferne.

Der Grashalm
Gesättigt, legte ich mich auf das weiche kurze Gras, genoss diesen wundervollen Blick über die Landschaft und versank, im angenehmen Halbschatten der Blätter, in meine Gedanken.

„Erst das Saure, machte das Süße, süßer“, durchfuhr mich ein Geistesblitz.

„Ein abgebrochener Grashalm!“, tönte es zu mir herüber.

Ich schaute dem alten Mann in sein fahles Gesicht.
Dann ließ ich meinen Kopf ins Gras fallen und blickte durch die grünen Blätter in den blauen Himmel,

„Ja, so wird es wohl sein“, sagte ich mir erneut. “Erst das Saure, macht das Süße, süßer“.

Ein warmer Sonnenstrahl drang durch die Blätter hindurch und blendete mich. Ich genoss mit verschlossenen Augen die Wärme in meinem Gesicht und schlief in der Nachmittagssonne ein.


Das zweite Leben
Der sechste Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts. Ich war wieder im hohen weißen Saal erwacht und stand entspannt, leicht bekleidet, in meinem weißes Gewand, barfuss auf dem glatten, angenehm kühlen, Marmorboden. Langsam erkannte ich wieder die drei hohe Flügelfenster vor mir. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Ich hörte Vögelgezwitscher. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und eine lauwarme Brise wehte herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster, leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Ich schritt wieder an den palavernden Menschen vorbei, schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete, erst ganz langsam nur durch die Nase, dann doch ganz tief, die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen wie immer einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Der alte Mann stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen.

Dies war sein Platz.

Schon aus dieser Entfernung konnte ich seinen Missmut hören. Er meckerte, wie immer, über die Unvollkommenheit der süßen Äpfel, über den zersprungen Mosaikstein, im Brunnen des klaren Wassers, und über den abgebrochenen Grashalm des weichen Rasens.

Der alten Mann (Erkenntnis)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten und streifte bald barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.

„Ich gehe fort“, sprach ich.

„Du gehst fort? Wohin? Du bis doch gerade erst nach Hause gekommen“, antwortete er mir entsetzt.

„Ich gehe zurück ins Leben“, sagte ich und erwartete, dass er mich nun für dumm und vergesslich erklären würde.

„Wie kann man nur so dumm und vergesslich sein!“, erwiderte er. „Hast Du schon vergessen, wie du zurück kamst? Deine Haut ist jetzt noch rot und vernarbt. Ich hatte dich beobachtet, wie du im Leben littest. Wie oft sah ich dein verzweifeltes Gesicht, wenn Du zum Garten Eden zurückblicktest und dir ersehntest, du wärst hier! Du schautest dich um und erstarrtes praktisch zur Salzsäule, verharrtest in deinem Kummer und stecktest in deiner Sehnsucht und deinem Selbstmitleid fest. Und? Hast du vielleicht den Weg in den Wald gefunden?“

Ich versuchte ihm zu erklären, wie ich dachte: „Wie hätte ich den Weg in den Wald finden sollen, wo ich doch keinen Blick nach vorne richtete? All meine Aufmerksamkeit und Gedanken galten alleine dem Garten Eden. Meine Sehnsucht zur Vergangenheit war größer, als meine Konzentration auf die Gegenwart und meine Hoffnung in die Zukunft.
Und ja, Du hast Recht. Bei meinem Blick zurück, erstarrte ich tatsächlich zur Salzsäule und verharrte im Weiterkommen. Denn ich war zu schwach.
Das nächste Mal will ich daher meiner Herkunft keines Blickes und keines Gedankens würdigen, sondern konzentriert nach vorne gerichtet, aufmerksam, dem Weg des Lebens folgen. So werde ich diesen Fehler kein zweites Mal begehen, bis die Zeit gekommen ist, da ich mich erinnern kann, ohne fest zu klammern und ich los lassen kann, obwohl ich Wissen habe, - bis die Zeit gekommen ist, dass meine Hoffnung mehr Macht über mich hat, als mein Wissen.“

Regungslos stand er mir gegenüber und ich wartete auf irgend eine Reaktion.
Nach einer halben Ewigkeit öffnete er leicht den Mund, atmete ein und zog seine rechte Augenbraue hoch. Das war alles.

„In vier Wochen sehen wir uns wieder“, unterbrach ich die Geduldsprobe.

Ich drehte mich um, griff mir meinen kleinen Rucksack und schnallte ihn auf den Rücken. Ich war dieses Mal besser vorbereitet. Ein kurzer Ruck an den Trageriemen und er saß bombenfest.

„Ich wünsche Dir alles Gute“, sagte ich noch.

Dann machte ich mich auf den Weg.

Der zweite Schritt
Ich flog fast über den weißen Marmorweg, denn ich wollte keine Zeit vergeuden und erreichte schnell das goldene Tor zum Leben. Die Frauen in den weißen Gewändern standen wieder Spalier und warfen mir erstaunte Blicke zu. Auch die „Jungvögel“, die davor saßen und die „Lumpen“, die dahinter saßen, schauten gespannt zu mir herüber. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.

Die Tore öffneten sich:

„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

„Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten, denn dies ist das Leben“, wusste ich.

Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch und atmete, ganz vorsichtig und langsam, durch die Nase, die heiße, staubige Luft des Lebens ein.

Ich erwartet wieder den Kampf mit der Gravitation, aber obgleich ich mein schwereres Gewicht spürte, stand ich fest und sicher. Meine Beine hatten durch mein letztes Leben an Muskeln dazu gewonnen und waren nun bereit mich zu tragen, wohin ich wollte.

Und ich schritt noch etwas zaghaft auf die spitzen Steine des Lehmweges, aber obgleich ich den ungleichmäßigen Druck unter meinen nackten Füßen merkte, spürte ich keinen Schmerz. Meine Füße hatte durch mein letztes Leben Hornhaut bekommen und diese schützte sie nun wie ein Panzer.

Und die Sonne glühte erbarmungslos auf meinen Körper, aber obgleich ich die stärke Ihrer Strahlung merkte, verbrannte meine Haut nicht, denn sie war braun geworden.

„Wen interessiert der Garten Eden? Vergiss ihn, bis der Tag gekommen ist“, sagte ich zu mir selbst.

Und so durchquerte ich schnell die Steppe und ich drehte mich nicht um.
Und ohne einen Gedanken an den Garten Eden zu verschwenden, erreichte ich bald die Tundra. Schon am Nachmittag stand ich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, vor dem dichten dunklen Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien. Aber ich schaute nach vorne, denn ich wusste, dass es ihn gab und fand einen kleinen verschlängelten Pfad, der erst rechts am Waldesrand entlang, dann plötzlich in einem Linksknick, in Mitten des tiefen Waldes führte. Ich hatte ihn tatsächlich gefunden!

„Dies war mein Weg!“, freute ich mich und gab mir Zuversicht.

Und so beschritt ich voller Hoffnung, aber auch mit Befürchtungen vor der Ungewissheit, den langen Weg in den tiefen Wald.
Dichtes, dunkles Grün der hohen Baumkronen umrankte mich, wie das Gewölbe eines Tunnels. Einige helle Sonnenstrahlen durchdrangen vereinzelnd das Blättergewölbe und berührten den Boden des Waldweges. Die Luftfeuchtigkeit war hoch. Feiner Nebel lag auf der Erde und kroch an manchen stellen die Baumstämme hoch. Die trockenen Schleimhäute meiner staubigen Nase begannen, wie ein Schwamm, die kühle Feuchtigkeit des schattigen Waldes aufzunehmen und so konnte ich bald wieder sehr intensiv Gerüche wahrnehmen. Es roch nach jungen Pilzen, vermodertem Holz, verharzten Tannen und nasser Erde. Ich brauchte Nahrung. Und so folgte ich dem Weg, immer tiefer, in den dunklen Wald hinein. Ich schaute konzentriert nach vorne und nach oben, stets auf der Suche nach etwas Essbarem. Und ich suchte nach etwas, was ich kannte. Ich suchte nach Äpfeln.

Der große Baum
Viel höher als erwartet, zwischen den grünen Blättern eines Laubbaumes, erahnte ich schon bald einen blättergrünen Apfel. Ein Apfel in dieser Höhe erschien mir nicht plausibel. Ich traute meinen Augen nicht so recht und wollte diesen scheinbaren Umstand erst einmal prüfen. Skeptisch, näherte ich mich dem dicken Baustamm. Am Fuße angelangt, zwischen seinen mächtigen Wurzeln, die wie große Schlangen im Erdreich versanken, blickte ich nach oben und konnte mich schließlich selbst versichern: Dort oben, in ziemlich großer Höhe, hing tatsächlich ein grüner Apfel. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor einen so hohen Apfelbaum gesehen. Ich musste auch noch nie auf so einen hohen Baum klettern, um einen Apfel zu pflücken! Aber was hätte ich tun sollen. Ich hatte Hunger.
Nur gut, dass mich keiner sehen konnte, als ich versuchte, mit Anlauf, den Baumstamm herauf zu laufen oder, in völlig lächerlichen Köperhaltungen, verkrampft nach Griffen in der Baumrinde suchte. Es sah vielleicht nicht besonders elegant aus, aber irgendwie gelang es mir dann mit einer Grätsche, kopfüber, bei gleichzeitigem kräftigem Wegdrücken meines Körpers mit beiden Armen nach oben, die erste Astgabel des Baumes zu erklimmen. Von unten aus betrachtet, hatte ich somit den schwierigsten Teil des Kletterns geschafft, da oberhalb der Gabel, die Verästelung des Baumes zunahm und somit enger zusammenliegende Tritt- und Haltemöglichkeiten, mein Weiterkommen verbessern dürften. Zwischen den Blättern hindurch, bahnte ich meinen Weg durch die Baumkrone. Ich hatte mich nicht geirrt. Hier oben gab es so viele Äste, dass ich problemlos höher hinauf steigen konnte. Bald wühlte ich mich auf einem horizontal verlaufenden, dicken Ast durch das Grün. Energisch bog ich einen sperrigen Zweig zur Seite, setzte einen großen Schritt nach vorne und erschrak. Ich stand plötzlich, außerhalb der dichten Baumkrone, auf dem schmalen Ast im Freien. Rechts, links, wie auch da runter, nichts als leere! Ich war inzwischen vielleicht 9 Meter über dem Erdboden. Der ausladende, knorrige Ast, auf dem ich stand, streckte sich noch einige Meter aus dem Blätterwerk des Baumes heraus und verjüngte sich zu einer dünn schwankenden Astspitze, in den bodenlosen Himmel. Mit beiden Händen umklammerte ich verkrampft einen, über meinen Kopf befindlichen, Ast. Jener verlief parallel, etwa zwei Meter über dem Ast, auf dem ich stand. Auch dieser wurde zu seinem Ende hin dünner und endete schließlich in einem kleinen, filigranen Astgabelchen. An der Spitze des letzten Zweiges, hing ein kleines grünes Blättchen. Und unter diesem kleinen Blättchen, hing ein saftig grünes Äpfelchen. Es tänzelte fast höhnisch, in ca. vier Meter Entfernung vor mir, im freien Wind.

„OK“, sagte ich mir und schaute an meinen Füßen vorbei in den Abgrund, „nur nicht hinunter sehen!“

Ich zwang mich nach oben zu schauen und erblickte meine zitternden Hände an dem Ast über mir. Weiße Wolken bewegten sich am blauen Himmel, im Hintergrund meiner Hand, und dies gab mir das irreleitende Gefühl, der Baum kippe mit mir nach rechts um: „Auch keine gute Idee.“ Und so stierte ich wieder auf den grünen, wackelnden Apfel vor mir. Im Hintergrund des Ziels meiner Begierde, senkte sich unter mir ein Blätterdach niedriger Bäume. Dahinter schien sich eine Lichtung mit einem See zu befinden.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Apfel:

„Ich muss mich nur am oberen Ast festhalten und auf dem unteren Ast balancieren. Wenn ich herunterfalle, werde ich sterben. Wenn ich nichts esse, werde ich auch sterben. Es ist theoretisch nicht unmöglich, an diesen Apfel zu gelangen“, sagte ich mir.

Ich bemerkte die Vorherrschaft meiner mich blockierenden Höhenangst:

„Du Angst! Du hast mir geholfen, nicht voreilig zu handeln und hast mich zu Vorsicht ermahnt. OK. Ich habe es verstanden. Nun hilfst du mir aber nicht weiter, denn ich will nicht als dein Sklave falsche Entscheidungen hinnehmen müssen, sonder mit meinem freiem Willen eine Entscheidung auf Vernunft durchsetzen! Ich lasse jetzt nicht mehr zu, dass Du Macht über mich hast. Ich bin dein Herr. Also verschwinde.“

Ich redete mir ein, es gäbe keine Tiefe, als wäre es eine Illusion und ich befände mich in Wirklichkeit unmittelbar über dem Boden. Meinen Augen bat ich, nicht auf den Hintergrund zu achten, sondern nur den Vordergrund schön scharf zu stellen. Es sollte nur noch den Ast geben, auf dem ich stand, den Ast, an dem ich mich festhielt und den Apfel, den ich bekommen musste. Für die nächsten Minuten sollte es keine andere Welt für mich geben.

„Dem Mutigen gehört die Welt!“, sagte ich und versuchte hiermit meine Angst zu verdrängen.

Und so ging ich, Schritt für Schritt, Handgriff für Handgriff, auf meinem schwankenden Weg im Wind, und näherte mich dem grünen, runden Ziel.
Ich erreichte den Apfel. Eigentlich wollte ich dem Apfel noch einen Spruch für seine Dreistigkeit an den Kopf werfen, sich einen so frechen Platz ausgesucht zu haben, doch bei dem Gewackel auf den dünnen Zweigen in dieser Höhe, dem böigen Wind und meinem unsichern Halt über dem Abgrund, verschlug mir meine Panik die Sprache. So pflückte ich ihn nur schnell und steckte ihn in meine Tasche, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von meinem Halt abzuwenden. Konzentriert balancierte ich ebenso vorsichtig zurück, wie ich mich aus dem Blätterhaus herausgewagt hatte, bis ich mich endlich wieder innerhalb der Baumkrone befand, wo die Äste wieder dicker und stabiler waren und mir die grünen Blätter um mich herum, ein Gefühl von Halt, Sicherheit und Geborgenheit vermittelten.

„Ha, geschafft! ha ha! Soll das etwa schon alles gewesen sein? War ja ein Kinderspiel!“, und mein aufgeregtes Gackern klang bald eher wie blödes Grunzen.

Ich beruhigte mich jedoch langsam und genoss in diesem kleinen grünen Nest die Schönheit des hohen, stillen Versteckes. Die Sonnenstrahlen, welche durch eine kleine Öffnung im Blätterdach von oben zu mir herunter gelangten, verliehen den feuchten, grünen Blättern, um mich herum, einen seidigen Glanz. Rechts oben von mir bemerkte ich, wie ein einzelner Wassertropfen, von einem Blatt, auf das nächst tiefere viel und dabei jedes mal eine kleine Wasserspur auf seinem grünen „Landeplatz“ hinterließ. Irgendwie glich das kriechen der mickrigen Silbermurmel, einer kleinen Schnecke, die manchmal in ihrer Eile, auf das nächste Blatt hüpfte. Sozusagen eine Springschnecke. Dann verschwand der Tropfen im unteren Dickicht und ich besann mich wieder auf mich selbst:

„Du hast gerade etwas getan, was Du noch nie tatest“, wurde mir bewusst.
„Du warst dir nicht sicher, ob du es schaffen würdest und nun hast Du eine Aufgabe gelöst, die du dir erst kaum zutrautest.
Als du die lähmenden Mauern in dir niederrissest und sich sodann dein Horizont erweiterte, als du deine Angst besiegtest und den Mut aufbrachtest, dich auf neue Möglichkeiten einzulassen, als du an deine Fähigkeiten glaubtest und dir begannst mehr zuzutrauen, wurdest du vom Sklaven deiner Angst, zum Herren deiner selbst.
Mit jeder Angst, die du überwindest, wirst du also ein Stück freier. Jede Aufgabe lässt dich wachsen. Ich fühle mich nun stärker, größer und freier, als jemals zuvor. Ich fühle mich gut.“

Mit meiner rechten Hand holte ich den Apfel aus meiner Tasche und betrachtete ihn mit einem großen Glücksgefühl. Ich nahm einen kräftigen Bissen. Und obwohl er schrumpelig war, schmeckte er besser als jeder Apfel, den ich je gegessen hatte. Es tat gut, wieder etwas im Magen zu haben, aber ich glaube, dies war nicht der einzige Grund für seinen köstlichen Geschmack:

„Nichts ist so süß, wie der Erfolg der eigenen Bemühung“, dachte ich mir.
„Geschenkt, hätte mir der Apfel vielleicht nicht so gut geschmeckt.“

Und so verwandelte sich meine Unsicherheit auf Grund von Unwissenheit, in Sicherheit aufgrund meines neuen Wissens. Ich hatte Selbstvertrauen und ich stieg weiter hinauf. Ich pflückte so viele Äpfel, wie ich in meinen kleinen Rucksack unterbringen konnte. Schließlich kletterte ich hinab und fand, am Fuße des mächtigen Stammes, endlich wieder sichern Halt auf breitem Boden. Ich blickte noch einmal nach oben, schaute in die Tiefe der Baumkrone und lächelte, wie zu einem guten Freund. Dann betrachtete ich mich selbst:

„So, wie dieser lebendige Baum zum Lichte strebt, so bist auch du endlich mal über dich hinausgewachsen. Und so, wie der in die Höhe wachsende Baum nur deshalb an Stärke hinzugewinnen kann, weil er seinen in die tiefe wachsenden Wurzeln vertraut, kannst also auch du nur Stärke mit deinem Mut zum Selbstvertrauen gewinnen.“

Ich schaute voller Stolz auf die Äpfel in meinem kleinen Rucksack. Dies waren meine Trophäen, meinen Schatz, ein Beweis für mögliche Erfolgschancen und praktisch gesehen, erst einmal Nahrung für ein paar sorglose Tage. Ich hatte nun ein bisschen Zeit zum Suchen nach Essbarem gewonnen. Der Erfolg gab mir Hoffnung. Zwar eine Hoffnung auf eine Zukunft ohne Sicherheit, aber immerhin eine Zukunft mit Grund zur Zuversicht. Vielleicht wird es nicht immer so sein und dann hoffe ich auf eine zweite Chance, aber diesen Erfolg wird mir nie einer nehmen können. Vielleicht werde ich von meinem Erfolg länger zehren können, als von den Äpfeln selbst, denn nun gab es in meinem Wissen eine beruhigende Gewissheit: Was einmal möglich war, kann ein zweites mal nicht grundsätzlich unmöglich sein. Ich hatte Gesiegt! War dies vielleicht das Geheimnis der Hoffnung?

Ich beschloss, ab jetzt, jede meiner Erfahrung im Nachhinein zu überdenken, um mir immer wieder bewusst zu machen, wo ich im Leben stehe, was ich aus meiner letzten Erfahrung lernen könnte und ob das Leben mehr aus guten oder schlechten Erfahrungen besteht.
Vielleicht braucht man ausschließlich schöne Erfahrungen, um Hoffnung zu haben.

„Nun“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Mut, besiegte ich die Angst und hatte Erfolg.
Durch meinen Erfolg, erkannte ich meine Macht und gewann an Mut.
Glücklich über meine erfolgreiche Tat und, durch das Erkennen meiner Macht, mutiger, bin ich nun zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“

Dann schwang ich meinen Rucksack auf den Rücken, zog mit einem festen Ruck die Trageriemen fest, ging zurück auf den Weg und setzte meine Reise in die Tiefen des Waldes und der Ungewissheit fort.

„Die Sonne begrüßt dich und die Träume machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Die Glöckchen
Ich folgte dem sich schlängelnden Weg durch das Gehölz. Mit jedem zügigen Schritt, den ich ging, wippte mein kleiner Rucksack auf meinen schmalen Schultern leicht hin und her. Meine Trageriemen passten sich, in einem leisen Knartschen, den Bewegungen an. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die letztens noch meinen Weg beschienen, blieben nun aus. Es Dämmerte. Links von mir funkelte ein zaghaftes Glitzern durch die Bäume.

„Dies könnte der See der Lichtung sein, den ich von meinem Baum aus gesehen hatte“, dachte ich mir.

Das Gezwitscher der Vögel veränderte sich, denn so die einen sich schlafen legten, wachten andere auf. Und seltsame Rufe hallten nun durch den Wald.
Ich kam an eine Gabelung. Der Hauptweg schien geradeaus zu gehen. Zu meiner Rechten, verschwand im Dunkeln ein Weg, unter einem dichten, niedrigen Blätterdach, mehrerer ausladender Bäume. Irgendetwas bewegte sich dort. Aus selbiger Richtung hörte ich leise Glöckchen läuten. Ich stellte mich an die linke Seite des Weges und versuchte, so gut ich konnte, zu erspähen, was sich dort aus dem dunklen Tunnel auf mich zu bewegen würde. Die Glöckchen wurden lauter. Schwarze Schatten kamen aus der Dunkelheit hervor. Es waren menschenähnliche Gestalten, eingehüllt in langen dunklen Kutten. Ihre Gesichter waren unter Kapuzen versteckt. Der Vorderste trennte sich aus seiner Formation und kam direkt auf mich zu. Er hob seinen Kopf und ein großer Schnabel schaute mich an.

„Gehet aus dem Weg Fremder und fliehet! Die Pest geht um!“

Er griff zu seinem Schnabel und schob mit ihm eine Maske nach oben. Dunkle Augen, so schwarz wie Löcher, starrten mich ernst aus einem grauen Gesicht an.

„Gehet Fremder und verweilet nicht, sonst seid auch ihr des Todes geweiht!“

Hinter ihm strömten weitere Menschen aus dem Dunkeln hervor. Mit aufgerissenen Augen, tippelte ich unbeholfen rückwärts eine kleine Böschung hinunter, bis ich mit meinem Rücken gegen einen Baumstamm stieß. Der Mann mit der Maske klappte seinen Schnabel wieder herunter, setzte sich erneut an die Spitze der armen Geschöpfe und lotste sie auf den Weg in die Richtung, aus der ich kam. Sie zogen sehr langsam an mir vorbei. Außer ein vereinzelndes leises Wimmern, war von ihnen nichts zu hören. Sie stützten sich gegenseitig, wenn sie alleine nicht mehr gehen konnten. Einige hielten Kinder in ihren Armen. Viele dieser Kinder schienen tot zu sein, denn sie ließen ihre kleinen, grauen Ärmchen nach unten hängen, und sie baumelten unbeteiligt hin und her, selbst wenn sie irgendwo anstießen. Aber selbst die kleinen Kinder, die noch lebten und mich manchmal mit ihren großen Augen ansahen, gaben keinen Mucks von sich. Zuletzt zogen sie einen, mit Leichen beladenen, Handkarren an mir vorbei und hinterließen einen süßlichen Geruch der Verwesung. Langsam verschwand die Menge wieder im Dunkeln. Das Poltern der Holzräder wurde immer leiser und der Klang der Glöckchen verstummte. Stille kehrte ein. Plötzlich schreckte mich ein lautes Knackten im Wald auf. Irgendwo im Gehölz ortete ich das Flattern aufsteigender Vögel. Ich schaute mich um. Es war nun beinahe Nacht.
Ich entschied mich, links meines Weges, querfeldein, durch den Wald zur Lichtung zu gehen. Langsam tastete ich mich an den dunklen Baumstämmen vorbei und trat, möglichst behutsam, auf den unsichtbaren Waldboden auf. Hin und wieder zerstörte ich trotzdem die Stille der Nacht und zerbrach unverhofft, laut krachend, einen großen Zweig unter meinen Füßen. Immer deutlicher glitzerten, zwischen den Bäumen, die kleinen Wellen des Sees hindurch, der sich hinter der Waldkante, in einer Lichtung, befinden sollte. Bald erreichte ich den Waldrand und hatte freien Ausblick auf den See. Vorsichtig stieg ich den dahinterliegenden Hang hinab und erreichte schließlich, in einer kleinen Bucht, den Strand. Dicht vor dem Wasser kniete ich mich in den Sand, löschte meinen Durst und setzte mich auf den Boden. Ich lehnte mich nach hinten, stützte mich auf meine Ellenbogen auf und streckte meine Beine. Einige hundert Meter von mir entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Sees, toste ein silberner Wasserfall im fahlen Schein des inzwischen aufgegangenen Vollmondes. Ich blickte zum Mond auf und bewunderte die kalte Schönheit dieses weißen Himmelskörpers, der sich einsam im glitzernden See widerspiegelte und zwischen den dunklen Wäldern der Nacht, die funkelnde Kontur der Wasseroberfläche, hervorhob. Seine tröstenden Strahlen fielen sanft auf meinen Strand und tauchten ihn in weiches Licht. Müde öffnete ich meinen Rucksack, nahm einen meiner Äpfel heraus und aß ihn sehr langsam.

„Nein“, sagte ich mir, „dies war keine schöne Erfahrung:
Eben erkannte ich meine Ohnmacht und verlor dadurch an Mut.
Durch meinen verloren gegangenen Mut, fühlte ich mich meiner Angst wehrlos ausgeliefert. Nun fürchte ich mich vor einer Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit weiß.“

Traurig, über meine erfolglose Tatenlosigkeit, vom Mitleid langsam ins Selbstmitleid verfallend und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, feiger, bin ich nun wieder skeptischer in meiner Hoffnung.“

Ermattet und Müde des Hoffens, legte ich mich in den Sand, ließ die seltsamen Eindrücke des Tages, wie ein Echo, verklingen und schlief schließlich in einem Strom der Bilder ein.


Ein Leben am Wasserfall

Die Sonne ging auf. Es war klarer blauer Himmel. Leise rauschten die Wellen, wenn sie sich beim Erreichen des Strandes ein letztes Mal aufblähten, um letztendlich doch nur aufzulaufen. Doch sie brachten feine Sedimente aus den Tiefen der Wasserwelt ans Tageslicht. Und kleine Schätze, angespült aus einer Welt, der Strömungen, flogen nun, in einer Welt der Winde umher. Der gegenüberliegende weiß glitzernde Wasserfall zeigte sich, in der aufgehenden Morgensonne, in erhabendem Stolz. Die spritzende Gischt, an seinem Fuße, läutete im lauten Getöse, kraftvoll und selbstsicher, ohne Scham und Muße, die lebendige Freude des Lebens an diesem Tage ein und sprudelte die Luft des Morgens und die Strahlen der Sonne, zwischen die verschlafenen Wogen des Sees.

„Die Sonne begrüßt dich und die Wassern machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und ich entledigte mich meiner Kleider. Nackt schwamm ich durch die erfrischende Kühle des Sees und näherte mich mit wachsender Vorfreude dem glitzernden Wasserfall. Ich erreichte das andere Ufer und erklomm einen warmen, glatten Felsbrocken, der mir mit seiner sanften Neigung aus dem kalten Nass, einladend, zum einfachen Aufstieg verhalf. Um den Wasserfall, bildeten aneinandergereihte Felsbrocken, eine kleine Bucht. Wie auseinandergezogene Vorhänge, teilten sich die herunterstürzenden Wassermassen in einen großen Hauptwasserfall und einen kleineren Nebenwasserfall. Dieser verfehlte den direkten Weg in den See und erschüttete sich statt dessen, wie eine große Dusche, auf einem glatten Felsplateau. Ich näherte mich dieser von Gott erschaffende Brause, stellte mich schließlich unter sie und genoss das prickelnde Gefühl der lauwarmen Massage. Langsam schritt ich näher zur Felswand und ließ den Wasserfall, über mich, seinen großen Bogen ziehen. Ich drehte mich um und beobachtete, wie die Sonne, durch die Kristalle der gläsernen Wasserfäden, ihre bunt glitzernden Strahlen brach, während sich die Konturen und Farben, der dahinterliegenden Landschaft, wabbernd verzerrten. Ein ungewöhnlicher Schatten unterbrach das Farbenspiel. Ich trat durch den Wasserfall hindurch und sah am Ufer des Sees, einige Meter vor mir entfernt, einen kaum bekleideten Mann auf einem Felsen stehend. Er stand mit dem Rücken zu mir und trug nichts, außer einen Lendenschurz und einen alten Strohhut. In seinem rechten ausgestreckten Arm hielt er einen bedrohlichen Speer, an dessen hinteren Ende, eine Schnur hing. Plötzlich warf er ihn blitzschnell vor sich ins Wasser. Ich ging langsam auf ihn zu und sah, wie der Mann seinen Speer, mit einem Fisch an der Spitze, wieder herausholte. Er drehte sich zu mir um, musterte mich einen Augenblick und wendete seinen Blick dann wieder von mir ab, um sich seinem Fang zu widmen. Ich stellte mich neben ihn auf den Felsen.

„Was tut Ihr dort?“, fragte ich ihn.

„Ich fische. Sind besonders köstlich“, antwortete er spartanisch, lege den getöteten Fisch neben sich auf den Felsen und beobachtete, ohne mich weiter zu beachten, wieder die Wasseroberfläche. Der Fisch zuckte noch ein paar Mal. Dann lag sein schuppiger Körper, silbern glänzend, in der Sonne und ein großes, totes Auge starrte mich an.

„Um selbst zu leben, musste der Mann also Fleisch essen und dafür einen Fisch töten“, dachte ich: „Und das nennt man dann also Fischen.“

Ich folgte dem Ziel seiner Blicke und sah, wie sich viele Fische am Rand des Wasserfalls im sprudelnden Wasser tummelten. Wir standen beide auf diesem Felsen und beobachteten schweigend das Geschehen.

„Die Fische töteten sich nicht gegenseitig“, dachte ich weiter. „Sie fischten nicht. Vielleicht würden sie „menschen“, wenn sie stärker wären als der Mensch, um sich von seinem Fleisch zu ernähren, um selbst zu leben.“

Ich blickte auf meinen eigenen Körper:

„Bot mein Körper, dem Fischer, nicht viel mehr Fleisch, als ein Fisch? Dennoch menschte er nicht, sondern fischte. Warum? Vielleicht lag es ja daran, dass wir uns beide mehr glichen, als ein Mensch dem Fisch. Ist es dann richtig, zu töten, was andersartig ist, aber falsch, zu töten, was gleich ist? Es scheint auf jeden Fall ein Vorteil zu sein, dem stärkeren und nicht dem schwächeren zu gleichen.“

Mir fiel auf, wie sich ebenso die sich gleichenden Fische gefunden hatten, um ihr Leben innerhalb eines Schwarmes gemeinsam zu verbringen.

„Vielleicht ist es ein Vorteil, überhaupt jemandem zu gleichen.“

Ich schaute den Fischer an, musterte seinen muskulösen Körper und seine scharfe Waffe.

„Wir sind uns nicht gleich“, überlegte ich weiter, „nur ähnlich. Ich sehe nicht genauso aus wie er und vermag nicht mit den gleichen Fähigkeiten aufzuweisen. Was würde er wohl tun, wenn er bemerkte, dass wir uns nicht glichen, sondern nur ähnlich waren? Wann würde er beginnen in mir einen Fisch zu sehen?“

Der Fischer drehte sich zu mir um und seine grün leuchtenden Augen, in seinem versteinerten Gesicht, schienen mich zu durchbohren. Dann lege sich zögernd ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht und er fragte mich freundlich, mit tiefer und ruhiger Stimme:

„Möchtet Ihr es auch einmal versuchen, Fremder?“

„Ihr fragt mich?“, reagierte ich etwas überrascht und zögerte einen Moment.

Dann begann ich allmählich zu verstehen: Er hatte wohl durchaus unsere Ungleichheit gesehen, aber auch unsere Ähnlichkeit erkannt. Es bestand also scheinbar aus seiner Sicht, zwischen uns, die Chance des Aufbaus von Gemeinsamkeiten und nun verhalf er mir, mich ihm anzugleichen. Vielleicht um zu testen, wie sehr ich für ihn Mensch oder Fisch war?
Trotz meines Bewusstseins, mit meinen Fähigkeiten und seinen Erwartungen konfrontiert worden zu sein, wagte ich, die Herausforderung anzunehmen.
Ich versuchte mich locker zu geben.

„Ja, warum eigentlich nicht“, antwortete ich.

Der Fischer überreichte mir seinen Speer und ließ mich amüsiert meine Versuche machen.
Zu dieser Zeit war ich für ihn wohl nur ein männlicher Backfisch.
Ich suchte mir einen besonders dicken Fisch aus und warf den Speer, mit aller Kraft, auf mein Ziel und voll daneben. Ich hätte schwören können, dass ich ihn hätte getroffen haben müssen.
Der Fischer bat mich um die Rückgabe des Speeres und hielt ihn dann zur Hälfte ins Wasser.
Der lange Stiel des Speeres schien unter der Wasseroberfläche einen Knick nach oben zu bekommen.

„Seht Ihr das?“, fragte er mich schmunzelnd, „die Welt unter Wasser bekommt ihr eigenes Licht. Die Oberfläche bricht die Strahlen der Sonne. Ihr müsst unter den Fisch zielen, um ihn zu treffen!“

Er drückte mir energisch seinen Speer in die Hand und forderte mich mit einem Nicken zu einem neuen Versuch auf. Und ich zielte dieses Mal unterhalb eines Fisches und traf.
Wir lachten beide und freuten uns über den Erfolg. Ein Erfolg im Lehren und Lernen und ein Erfolg im finden einer neuen Zusammengehörigkeit.
Wir wechselten uns ab und holten noch einige Fische heraus. Und wenn der eine Müde wurde, machte der andere weiter.
Bald war ich nicht mehr nur sein Schüler und er nicht mehr nur mein Lehrer, sondern wir wurden Partner, die für ein gemeinsames Ziel kämpften. Das Ziel, uns beim Fang von unserer Nahrung, gegenseitig zu unterstützen. Das Ziel, gemeinsam zu überleben.

So gut wie er, war ich natürlich nicht. Wir hatten schließlich 10 Fische gefangen. Ich konnte dabei mit einer Beteiligung von drei Fischen „glänzen“. Aber dies schien nicht wichtig zu sein, auch nicht für ihn. Vielleicht war dem Fischer bewusst, dass es auch für ihn schlechter hätte ausgehen können. Vielleicht wusste er, dass es um mehr, als den kurzfristigen eigenen Erfolg ging, denn was nützt er einem, wenn man sich dadurch eventuell zukünftigen Chancen beraubt. Vielleicht hatte er aber auch einfach eine weitsichtigere Lebenseinstellung, eine Einstellung für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden. Nun war ihm meine Gnade sicherer, falls er meine Hilfe brauchen würde, so wie ich seine Gnade erfuhr, als er mir half.

Bald holte er ein paar trockene Äste und feines Gestrüpp aus dem Wald, entzündete ein kleines Feuer und zeigte mir, wie man Fische ausnimmt. Als der Abend einbrach, saßen wir am Feuer und hielten an langen Stöcken unseren Fang in die züngelnden Flammen. Die Sonne ging unter und nahm alle Farben mit sich. Nur das Feuer glühte noch rot und ließ flackernde Schatten über die Felsen huschen. Wir aßen voller Genus den heißen Fisch und redeten bis tief in die Nacht. Er erzählte mir von seiner Frau und seinen Kindern, vom Jagen und Fischen, Überfluss und Hunger, von guten und schlechten Zeiten, Glück und Trauer, von Zeiten der Anerkennung und der Einsamkeit, untermalt vom Prasseln des Feuers und aufsteigenden Funken aus der Glut. Wie viele Dinge er in seinem Leben erlebt hatte, dachte ich mir. Manche seiner Ereignisse waren so komisch, dass ich vom vielen Lachen schon Bauchschmerzen bekommen hatte. Er gestand mir seine eigene Unvollkommenheit und war für mich damit so himmlisch menschlich. Wie hilflos er manchmal war, wenn er schwere Zeiten durchstand. Und wie wundervoll und spannend manche seiner vielen Entdeckungen über die Zusammenhänge des Lebens waren. Dann kehrte Müdigkeit ein. Die Flammen verloren an Kraft und wir rückten näher ans Feuer zusammen, um uns liegend, trotz kleiner werdenden Gezüngels, wenigstens an der ausstrahlenden Wärme der roten Glut, gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Genüsslich gesättigt, angenehm gewärmt und nicht allein, war dies eine besonders beruhigende und schöne Nacht für mich.

„Ja“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Tatendrang und meiner Neugierde, Offenheit und Vertrauen, wurde meine Neugierde befriedigt und mir Offenheit und Vertrauen geschenkt.
Durch Offenheit und gegenseitigem Vertrauen, legte sich eine Sicherheit der Zweisamkeit, über die Unsicherheit meiner Einsamkeit.“

Glücklich, über die Belohnung des erfolgreichen Sieges über meine Trägheit, glücklich, ein Geschenk einer neu gefundener Sicherheit in der Zweisamkeit empfangen zu haben und, durch das Erkennen meiner Macht, sogar unerwartete Chancen finden zu können, mutiger, bin ich nun wieder zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“

Ich drehte mich auf den Rücken, betrachtete den silbernen Mond, wie er still über uns wachte und schlief zufrieden ein.

Die Weiterreise
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren der Fischer und jegliche Spur von ihm, verschwunden. Die Welt war in diesen frühen Morgenstunden noch grau. Ein dünner Rauchfaden schlängelte sich zwischen der grauen Asche aus der verliebenden Glut in den Himmel. Vor mir spielten kleine Wellen ihr Spiel, mit den Rändern der Felsen. Der Wasserfall rauschte in befremdlicher Eintönigkeit. Eine Zeitlang hoffte ich noch, er käme zurück, aber ich wartete vergeblich. Die einzigen Stimmen, die ich manchmal unter dem Rauschen des Wasserfalles zu hören glaubte, entsprangen nur meiner Phantasie. Und so saß ich alleine, einsam und still, auf einem kleinen Felsen, in Mitten der weiten unbekannten Landschaft. Ich wartete an einem verlassenen Ort und mir wurde allmählich bewusst, dass ich wieder alleine war.

Eine kühle Brise frischte unter der grauen Wolkendecke auf und ich bekam Gänsehaut.
Nach einiger Zeit raffte ich mich dann schließlich schwermütig auf, sprang fröstelnd in das kalte Wasser und kraulte durch die grünen Luftblasen, unter den langsam schwingenden Wogen der langen großen Wellen, zurück zu jener Bucht, wo ich meinen kleinen Rucksack und meine Kleider zurück gelassen hatte. Ich erreichte nass und unterkühlt den Strand und sah meinen Rucksack neben meinen verstreuten Kleidern im Sand liegen. Erst jetzt viel mir auf, wie lieblos ich meine Sachen zurückgelassen hatte. Ich zog sie aus dem Sand und kleidete mich im kühlen Wind an. Der Himmel blieb von dünnen, grauen Wolken bedeckt und überließ die schläfrige Sonne ihrer Träume. Als ob ich Angst hätte jemanden wecken zu können, setzte ich mir leise meinen Rucksack auf, zog meinen Kragen hoch und machte mich dann still auf den Weg in Richtung des Waldes, hinter dessen Baumstämme mir der Wind nicht folgen würde und ein Blätterdach mein Schutz vor Regen war. Und so verließ ich schließlich den Hang, am höchsten Punkt der Bucht, entfloh meiner Fernsicht über die hellegraue Weite und tauchte in das dunkelgrüne Dickicht des Waldes ein, an dessen Dunkelheit sich meine Augen erst noch gewöhnen mussten.

Langsam kroch ich durch das Unterholz und ließ den See immer weiter hinter mir. Ich drehte mich nicht um. Bald erreichte ich wieder den Weg an der Stelle, an der ich ihn verließ und warf an der Wegesgabelung einen kurzen Blick in Richtung des noch immer dunklen Blättertunnels, aus der, vor noch gar nicht langer Zeit, die Pestkranken herauskamen. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich die Glöckchen hörte und dunkle Schatten aus dem schwarzen Loch zu mir ins Licht traten. Doch das Loch wartete still und ereignislos und drohte nur mit meinen Erinnerungen. Es war, als ob es auf eine kurze Unaufmerksamkeit von mir warten würde, um mich dann plötzlich wieder mit einem schrecklichen Ereignis überraschend überrumpeln zu können.
Ich entschloss dem größeren, helleren Hauptweg zu folgen und marschierte los. Immer dichter werdender Nebel legte sich über meinen Weg. Ich hörte kein Vogelgezwitscher. Außer meinen eigenen Schritten, meinem Atmen und dem typischen Knartschen der Lederriemen meines kleinen Rucksacks, hörte ich nichts. Zwischen den Baumwipfeln drang ein dunkles gleichmäßiges Licht aus dem grauen Himmel über mir und erreichte nur schwach den Boden zu meinen Füßen.

Der Bettler
Ich bewegte mich tiefer in den Nebel hinein und erahnte langsam eine Gestallt, die rechts am Wegesrand sitzend, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt war. Dieser Mensch saß dort ganz alleine. Sein Körper war in lange dunkle Tücher gehüllt und sein Gesicht unter einer Kapuze versteckt. Als ich mich ihm näherte, hob er seinen rechten Arm und streckte mir seine nach oben geöffnete Hand wie eine Schale entgegen. Seine Kapuze war so weit nach vorne gezogen, dass es mir unmöglich war, im Schatten seiner Kopfverschleierung, sein Gesicht zu erkennen. Unnachgiebig hielt er mir seinen Arm entgegen, ohne etwas zu sagen.
Ich wusste, dass er mich um eine Spende bat, doch ich wusste nicht, was ich ihm hätte geben können. Wenn ich ihm meinen letzten Apfel geschenkt hätte, wäre er um diesen Apfel reicher als ich und ich um diesen Apfel ärmer als er geworden. Hätte ich mit ihm meinen Platz tauschen sollen? War mein kleiner Apfel nicht die einzige Sicherheit für diesen Tag, die ich noch hatte? Ich wendete mich von ihm ab und ließ ihn, an seinen Baum sitzend, im Nebel alleine. Ich schämte mich. Die Last meines Rucksackes erschien mir schwerer zu werden, meine Schritte wurden schleppender und mir wurde leicht schwindelig.

Unbekannte Früchte
Bald erschien auf der linken Seite meines Weges ein kleiner Gemüsestand. Hinter einem niedrigen Holztisch saß eine Frau und schaute mich auffordernd an. Vor ihr lagen, in kleinen Flechtkörben sortiert, Auberginen zum Verkauf bereit. Noch nie hatte ich Auberginen gesehen. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen. Und so schlurfte ich schweren Schrittes weiter meines Weges und ließ auch sie zurück.

Dann kam ich an einen zweiten kleinen Gemüsestand, ebenfalls zur Linken meines Weges. Auch hier saß jemand hinter einem kleinen Holztisch. Vor ihm stapelten sich in flachen Holzkisten, leuchtend rote und fast runde Tomaten. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen.

„Welch Vielfalt es doch gibt“, dachte ich mir und ging einerseits erfreut über die schöne Erfahrung über die Vielfalt, doch anderseits traurig über meinen Ausschluss an der Teilnahme dieses Lebensspiels, langsam weiter.

„Hey,“ rief mich jemand von hinten, „fang auf!“

Ich drehte mich um. Der Mann hinter dem Tomatenstand war aufgestanden und warf mir augenblicklich eine seiner Tomaten zu. Ich fing sie auf und hielt diese kostbare rote Murmel in meinen Händen. Ich lächelte ihm zu und versuchte, so deutlich es ging, ihm meine Freude über sein Geschenk, dankend, mit einer Armbewegung, zu zeigen. Ich biss erwartungsvoll in das rote Fleisch der Tomate und versuchte, so intensiv wie möglich, alle Geschmacksreize wahrzunehmen, um den herrlichen Saft in seiner Vollkommenheit zu kosten.
Gnadenlos
Schließlich ging ich weiter. Aber es fiel mir immer schwerer. Bald war mir so schwindelig und ich fühlte mich so schwach, dass ich mich an einen Baum setzen musste, um zu pausieren. Mir wurde abwechselnd warm und kalt. Meine Füße schienen nach oben schweben zu wollen.

„Was ist nur los mit mir?“, fragte ich mich. „Bin ich etwa krank geworden?“

Wie vom Blitz getroffen, durchfuhr mich eine schreckliche Ahnung:

„Hatte ich mich bei den Aussätzigen angesteckt? Hatte ich die Pest?“

Ich versuchte meinen Körper nach irgendwelchen ungewöhnlichen Merkmalen zu untersuchen, aber meine Sinne waren inzwischen zu sehr getrübt, um mir einen klaren Eindruck über mich verschaffen zu können und meine, bei jeder Bewegung schmerzenden Glieder, ließen mich bald meine Selbstanalyseversuche aufgeben.

„Du musst weitergehen!“, ermahnte ich mich und zog mich am Baumstamm hoch.

Ich fühlte mich elendig. Langsam schlurfte ich weiter und hustete immer wieder irgend etwas Schleimiges aus. Alles begann sich um mich zu drehen. Ich verlor mein Gleichgewicht und viel der Länge nach auf den Boden in den Matsch. Erneut kroch ich zum nächsten Baumstamm und versuchte mich auf einen Punkt, in der sich um mich drehenden Welt, zu konzentrieren. Wieder saß ich, mit meinem Rücken gegen einen Baum gelehnt, am Wegesrand.

„Du musst etwas essen“, sagte ich mir.

Ich griff in meinen Rucksack und holte meinen letzten Apfel heraus. Es fiel mir schwer, das scheinbar hohe Gewicht des Apfels zu heben. Ich setzte ihn an meinen Mund an, doch es fehlte mir die Kraft, in ihn hineinbeißen zu können. Dann fiel er mir aus der Hand und rollte davon. Mir wurde bitter kalt. Ich versuchte, so gut es ging, mich in meinem Hemd zu verstecken und kauerte mich zusammen.
Plötzlich kam eine kleine Gruppe von drei fröhlichen Menschen an mir vorbei. Sie schienen gut gekleidet zu sein und wurden durch meinen Anblick in ihrem lauten Lachen kurz unterbrochen. Ich streckte meinen rechten Arm und hielt ihnen meine nach oben geöffnete Hand, fast wie eine Schale, entgegen, auf dass sie meine Hand ergreifen würden, um mir zu helfen. Ich versuchte sie anzusprechen, doch mein Hals war so zugeschnürt, dass ich es nicht vermochte, auch nur einen Ton herauszubringen. Einen kurzen Moment lang sahen sie mich überrascht an. Dann begann einer von ihnen die Stille durch einen Spruch zu unterbrechen und regte die anderen hierdurch zum Lachen an. Sie gingen fort und verließen meine Welt ebenso laut, wie sie gekommen waren.
Ich ließ meinen Arm fallen.
Ruhig hörte ich der Stille zu und lauschte meinem schweren Atem. Ab und zu verlangsamte sich die Drehung meiner Welt und kam zum Stillstand. Mein Arm lag erschlafft neben meinen Beinen auf dem feuchten, kalten Boden. Meine Kleidung war dreckig und bedeckt von Matsch. Ich schaute auf meine noch immer geöffnete, zitternde Hand.

„Natürlich!“, leuchtete es mir ein, „ich musste für sie nicht anders ausgesehen haben, als der Bettler, den ich vorhin am Wegesrand seinem Schicksal überließ.“

Und mir wurde plötzlich bitterlich bewusst, dass ich wohlmöglich keinen Bettler, sondern einen um Hilfe bittenden Kranken zurückgelassen hatte. Was ich möglicherweise ihm angetan hatte, passierte nun mir. Nun ging es mir richtig dreckig.

Bald kam ein Wandersmann des Weges. Auch er hielt bei meinem Anblick für kurze Zeit inne. Ich ließ mich nach vorne fallen und versuchte ihm entgegen zu kriechen, blieb aber kraftlos liegen. Der Wandersmann wich zurück und wechselte schnell die Wegesseite. Dann ging auch er fort und ließ mich zurück.

„Soll dies nun das Ende meines Lebens sein?“, fragte ich mich. „So weit bin ich gekommen und nun, noch kurz bevor ich meine vier Wochen des Lebens erreicht habe, bin ich gezwungen zu verlieren. Hatte der alte Mann in Eden doch recht und Gewinnen ist letztendlich unmöglich?“

„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an seine Worte.

„Nein“, sagte ich mir, „diese letzte Erfahrung meines Lebens, war keine Schöne:
Durch meine Unfähigkeit mir selbst helfen zu können, erkannte ich meine Ohnmacht.
Ich fand nichts, was mir Sicherheit gab. Weder eine Sicherheit für mein Leben, noch eine Sicherheit in meinen Entscheidungen.
Was nützten mir die kurzfristigen Erfolge, die mir keine zukünftigen Chancen boten? Wo hatte ich Gnade gezeigt und wo blieb die der anderen, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade, letztendlich, in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden?
Ich fürchtete in meiner Vergangenheit zu Recht eine Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit gefunden hatte und erlag nun meiner vorauszusehenden Aussichtslosigkeit.
Traurig, über mein erfolgloses Leben, ins Selbstmitleid verfallen und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, stagniert, bin ich nun ohne jede Hoffnung.“

Meine Sinne schwanden und langsam begannen sich die Konturen meiner Umgebung aufzulösen. Die Nebel begannen sich um mich zu drehen. Schatten wurden zur Dunkelheit und ich stürzte in einen Strudel der Schwärze, durch einen Tunnel zum Licht.

Das Dorf
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines kleinen dunklen Raumes, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt lag ich barfuss und so leicht bekleidet in einem Bett, dass ich mein weiches Gewand, auf meiner Haut, kaum fühlen konnte. Ich empfand die weiße Bettdecke, über meinem sauberen Körper, als angenehm wärmend. Langsam erkannte ich vor mir ein kleines Flügelfenster, an dessen Seiten weiße Vorhänge bis zum Boden reichten. Links davon befand sich eine kleine Tür.
Die morgendliche Sonne floss sanft durch das kleine Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Das kleine Fenster war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinter liegenden Veranda, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die weißen Vorhänge leise und sanft nach außen schwingen.
Eine Frau in einem langen weißen Gewand beugte sich über mich und tupfte, mit einem kühlen, nassen Tuch, meine Stirn ab.

„Bin ich wieder im Garten Eden?“, fragte ich sie leise.

Sie setzte sich rechts von mir auf einen kleinen Hocker.
„Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht“, antwortete sie mit lieblicher Stimme und schenkte mir ein gütiges Lächeln.

„Wo bin ich dann? Wie komme ich hierher?“, stutzte ich.

„Ein Mann aus unserem Dorf hat euch unweit unseres Hauses auf dem Boden liegend gefunden. Ihr ward sehr krank und hattet Fieber. Vielleicht eine Infektion. Der Rat der drei Weisen entschied sich, euch vorübergehend bei uns aufzunehmen und gab mir die Ehre, die Verantwortung übernehmen zu dürfen, euch gesund zu pflegen.“

Sie griff zum Nachttisch neben dem Bett und reichte mir eine kleine Schale mit köstlich duftender Suppe. Ein großer Silberlöffel lag darin zum zugreifen bereit.

„Diese Kartoffelsuppe wird euch wieder Kraft geben“, untermauerte sie ihre Handlung. „Esst, aber seid vorsichtig, sie ist heiß!“

Sie unterstützte mich leicht mit ihrem freien linken Arm unter meinem Nacken. Ich setzte mich aufrecht hin und blickte in die klare Brühe der Schale. Mir fielen darin die kleinen gelben Stückchen auf.

„Kartoffeln?“, fragte ich sie und zeigte ihr ungehemmt meine Unwissenheit.

„Kartoffeln! – von unseren Feldern!“, antwortete sie etwas verwundert über meine Frage.

Kleinlaut äußerte ich die nächste Frage: „Felder?“

Sie schaute mich einfach nur an. Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, ob ich die Frage ernst meinte.
Ich nahm den Löffel in die Hand und schlürfte vorsichtig die heiße Suppe. Noch nie hatte ich etwas so köstliches gegessen. In meinen Gedanken wiederholte ich ihre Erklärung und bemühte meine Phantasie, mir irgendein Bild von ihrer Erklärung zu machen: „Kartoffeln! - von unseren Feldern! Soso.“

Ich merkte, wie sich mein Hunger langsam legte.

„Wieso hatte mich dieser Mann gerettet?“, schmatzte ich, bevor ich meine Suppe im Mund ausreichend heruntergeschluckt hatte. „Alle anderen gingen an mir vorbei.“

„Ja, es ist verständlich, dass ihr euch dieses fragt“, antwortete sie. „Der Mann, der euch fand, ist sich selbst und der Gemeinschaft natürlich wichtiger als ihr. Er war jedoch der Meinung, dass ihr dringender Hilfe brauchtet, als er selbst. Zu helfen, ist bei uns etwas Ehrenvolles. Er wusste, sich um euch zu bemühen, würde ihm zu mehr Ehre in der Gemeinschaft verhelfen.“

„Ist Ehre denn so wichtig?“, hakte ich nach.

Sie versuchte es mir zu erklären: „Um so ehrenvoller jemand ist, desto wichtiger ist er für die Gemeinschaft und um so wichtiger jemand in der Gemeinschaft ist, desto mehr Hilfe kann er aus dieser erwarten, denn die drei Weisen beschließen für die Gemeinschaft vorrangig zuerst das zu tun, was am wichtigsten ist. So wird auch von der Gemeinschaft erst dem geholfen, der am wichtigsten ist. Wichtiger als das wichtigste ist nur, was dringender ist, solange das ansonsten wichtigste nicht durch seine zurückgesetzte Priorität gefährdet ist.“

Sie schaute mich prüfend an und versuchte aus meinen Augen abzulesen, ob ich sie richtig verstanden hätte. Dann suchte sie nach einfacheren Worten:

„Die Gemeinschaft konnte es sich eben leisten, sich um euren dringen Fall zu kümmern, ohne wichtiges für uns zu gefährden. Da ich zur Zeit von allen am wenigsten Hilfe benötige, wurde mir die Ehre erteilt, euch pflegen zu dürfen. So verdanke ich euch meinen Zuwachs an Ehre. Die Hilfe der Gemeinschaft wird mir gewisser.“

„Wer ist denn der wichtigste?“, frage ich sie nach einer längeren Denkpause.

„Der Einzelne ist sich selbst wichtiger als ein Anderer, denn der Einzelne kann dem anderen nicht helfen, wenn er selbst mehr Hilfe braucht, als dieser. Wichtiger als man selbst, ist für den Einzelnen jedoch die Gemeinschaft. Jeder Einzelne würde sich für die Gemeinschaft opfern, wenn dieses Opfer der Gemeinschaft helfen würde.
Aus Sicht der Gemeinschaft, ist es genau umgekehrt. Das wichtigste für die Gemeinschaft ist, der Einzelne. Die Gemeinschaft würde sich für den einzelnen opfern, wenn dieses Opfer dem Einzelnen hilft. So ist für die Gemeinschaft die Minderheit wichtiger, als die Mehrheit und der Einzelne wichtiger als die Minderheit, denn jede noch so große Gemeinschaft ist nur das Ergebnis der Verhaltenweisen aller Einzelner. Wir glauben, eine Gemeinschaft muss sich an seinem Umgang mit seiner Minderheit messen lassen“, erklärte sie.

„Und wer sind die drei Weisen?“, hakte ich weiter nach.

„Die drei Weisen sind die Einzelnen, die in der Gemeinschaft die höchste Ehre erreichten und die Anlaufstelle aller Informationen sind. Sie können daher am besten übersehen, wer und was das wichtigste für die Gemeinschaft ist, was entsprechend vorrangig getan werden sollte, welches das wichtigste Ziel ist und nicht gefährdet werden darf, wem vorrangig geholfen werden sollte und wer gerade am besten seine Hilfe zur Verfügung stellen könnte. Letztendlich stimmen wir dann ab. Da die Weisen durch ihr Amt nicht mehr selbst helfen können, behalten sie ihr Amt nicht auf Dauer, sondern geben früher oder später ihr Amt jeweils an einen nächsten ab, der mehr Ehre erlangt hat, als sie selbst. Sie sind nicht völlig frei in ihren Entscheidungen, denn auch sie haben sich an Leitlinien zu halten, wie jeder andere. Leitlinien entstehen durch die Gemeinschaft und durch sie werden sie auch verändert.“

„Leitlinien? Ihr meint die Regeln des Dorfes, nach denen ihr lebt?“

„Es gibt keine Regeln mehr, denn Regeln neigen dazu, irgendwann nur noch ihrer selbst zu existieren, ohne einen Sinn für das Leben zu haben. Wenn eine grundsätzliche Regel, gedacht für das Wohl der Gemeinschaft, sich in den meisten Einzelfällen als sinnlos herausstellt, wird die Regel automatisch wieder gestrichen. Die Bedeutung von Einzelfällen wird höher erachtet, als Grundsätzlichkeiten. Damit es überhaupt möglich ist, herauszufinden, ob Regeln sinnvoll sind, darf man sie jederzeit brechen. So darf jeder ungestraft eine Regel brechen, wenn er in einem Einzelfall eine Regel für sinnlos hält. Allerdings trägt man dann auch die Verantwortung dafür, falls man, durch einen Bruch einer grundsätzlichen Regel, der Gemeinschaft oder einem anderen, einen Schaden zugefügt hat, der, bei Beachtung der Regel, nicht eingetreten wäre. Auch in guter Absicht kann man sich demnach der Fehleinschätzung strafbar machen. Es ist also wichtig, alle Regeln mit Bedacht zu verwenden. Regeln wurden somit zu Leitlinien, denn neue Erfahrungen und jeweilige Lebenssituationen verändern sie und es gibt keinen Zwang ihrer Befolgung.
Leitlinien sind nun unser roter Faden. Sie geben uns Hilfe für Entscheidungen zum Wohle aller. Schließlich kommt es nicht auf die Einhaltung einer Regel an, sondern auf die dahinterliegende Absicht jeder Regelidee. Es ist eben nicht möglich, eine Verhaltensregel für einen Grundgedanken so zu formulieren, dass diese, in allen möglichen Lebenssituationen auch sinnvoll ist. Manchmal dient es einem Grundgedanken nicht, sich an eine Regel zu halten. Manchmal würde ein Halten an Regeln dem Grundgedanke sogar widersprechen. Sich an eine Regel zu halten kann zuweilen mehr Schaden anrichten, als eine Regel zu brechen. Wichtig ist der dahinterliegende Grundgedanke, also die Absicht hinter einer Regel. Regeln zwingen einen häufig zu unsinnigem Handeln, Leitlinien helfen uns zu überlegtem, verantwortungsbewusstem und sinnvollem Handeln.“

„Ist es dann nicht für den Einzelnen möglich, die Gemeinschaft für seinen eigenen Vorteil auszunutzen?“, äußerte ich kritisch.

„Falls jemand in böser Absicht, zu seinem Vorteil, einem anderen Einzelnen oder der Gemeinschaft, Schaden zufügt, riskiert er entehrt zu werden.“

Ich löffelte meine Suppe aus und leerte die Schale bis zum letzten Tropfen. Die Suppe war wirklich sehr lecker gewesen. Schließlich stellte ich die Schale auf den Nachttisch neben mich.

„Sag mir bitte, gibt es in eurer Gemeinschaft, wo die Gemeinschaft für den einzelnen das wichtigste sein soll, überhaupt noch einen Spielraum für Individualismus?“, provozierte ich sie absichtlich.

Ich wollte verstehen, wo sich ihre Lebensweise von anderen abgrenzt und welche Nachteile es aus diesen Vorteilen zu tolerieren gilt. Denn nur, wenn ich die Grenzen zu alternativen „Puzzleteilen“ zu sehen vermag, wenn ich die Silhouetten im Gefüge der Ganzheit erkenne, kann ich das Einzelne durch Differenzierung zum anderen vergleichen und verstehen. Nur so bin ich in der Lage etwas für mich zu beurteilen und gegebenenfalls eine Entscheidung zu treffen. Alles wird eben durch seine Grenze zum anderen definiert. So kritisierte ich absichtlich provokativ ihre Lebensweise und wartete auf eine erklärende Rechtfertigung, die mir hilft zu verstehen. Gemeinschaft und Individualismus ist doch ein Widerspruch in sich selbst, nicht war? Die „Nuss“ muss sie erst einmal knacken. Wie würde sie mit diesem Widerspruch umgehen? Ich wartete gespannt auf die Reaktion meiner Kritik.

Sie grinste mich an. Offenbar hatte sie mich durchschaut und mit dieser typischen Kritik gerechnet. Es gefiel mir, dass sie grinste, zeigte es mir doch, dass sie sich über viele Dinge Gedanken gemacht hatte und ich warte gespannt auf ihre Lösung dieses Konfliktes.

„Für uns ist Vielfalt wichtiger als Gleichheit“, antwortete sie verblüffend einfach. „Wir gehen davon aus, das jeder Mensch und jedes Wesen, über besondere einmalige Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, die mindestens einer, früher oder später, benötigt. Niemand ist nutzlos und niemand auf Dauer unabhängig von anderen. So ist die Natur. Das ist das Prinzip der Symbiose. Wir Menschen können uns darüber weitsichtige Gedanken machen. Sie funktioniert um so besser, desto vielfältiger das Ganze durch seine Einzelteile ist.
Stellt euch vor, ihr hättet ein Puzzle in einer festgelegten Größe. Wenn dieses Puzzle nur zehn Teile hätte und ihr würdet ein Teil herausnehmen, so gäbe es ein sehr großes Loch. Bestände das Puzzle jedoch aus Tausend Teilen, würde die Herausnahme eines Teiles nur ein sehr kleines Loch zur Folge haben. Da es niemanden gibt, der alles kann und auch niemand so sein kann, wie ein anderer, ist es also sinnvoll und am besten, möglichst unterschiedliche Personen zu haben.

Niemand weiß, was kommt und was man brauchen wird. Nicht selten gibt oder bekommt man etwas, ohne das es einem bewusst wird. Oft kann man erst nicht erkennen, wofür etwas gut ist. Keiner kann letztendlich mit Sicherheit sagen, weshalb sich das eine oder andere gerade in eine bestimmte Richtung entwickelt. Zu komplex sind die sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhänge der Kleinigkeiten, die in ihrem Zusammenspiel manchmal so große Wirkungen haben. Sicher kann man nur sagen, dass alles, früher oder später, eine Rolle spielen wird. Also kommt man zum Schluss, um so individueller der Einzelne in einer Gemeinschaft ist, desto besser.
So ist es im Interesse der Gemeinschaft, jedem Einzelnen bei der Suche zu helfen, sich selbst, seine Stärken und Schwächen, eben seine ganz eigenen Begabungen und Schwierigkeiten, zu finden. In dieser Zeit braucht der Einzelne natürlich Zeit für sich und manchmal die Hilfe der anderen. Früher oder später wird dieser jedoch seine Begabungen gefunden und entwickelt haben. Eines Tages wird er vielleicht sogar der einzige sein, der ausschließlich mit seinen Eigenschaften jemand anderem helfen kann.“

„Moment mal, manchmal muss es doch besonders dringende Fälle geben! Da kann sich der Individualist doch nicht einfach der Gemeinschaft entziehen!“, warf ich ein.

Sie nickte mit dem Kopf: „Der lernende Individualist, wie jedes Kind, ist vielleicht mehr auf Hilfe angewiesen, als er zu Helfen vermag, daher wird er meistens auch als letztes behelligt, die Ehre zu erhalten, anderen zu helfen. In dringenden Fällen erhält er jedoch die Chance, im Rahmen seiner Möglichkeiten, durch sein Helfen, mehr Ehre zu erlangen, um sich somit für die Zukunft der Hilfe anderer wertvoller zu erweisen. Möglicherweise geht es ja sogar um den existentiellen Erhalt der Gemeinschaft, von der er profitiert. Es ist zwar klug, sich zurück zu ziehen, um sich auf sich selbst zu besinnen und zu finden, aber es wäre dumm, tatenlos zu bleiben und andere in Ihrer Not alleine zu lassen, um den Verfall und das Ende desjenigen oder derjenigen zu sehen, dessen Hilfe man später direkt oder indirekt benötigt. Schließlich solltet ihr nie vergessen: Selbst, wenn ihr glaubt, für euch wäre jemand überflüssig, ein anderer braucht ihn vielleicht, um euch eines Tages helfen zu können. Oder wollt ihr vielleicht behaupten, ihr wüsstest immer, wer euch eines Tages helfen wird und wen dieser für sein Leben benötigte? Wer kann schon für sich selbst sagen, welcher Hilfe er eines Tages bedarf?
Was würde euch ein kurzfristiger Erfolg nützen, wenn ihr euch letztendlich, durch diesen Erfolg, eurer zukünftigen Chancen beraubtet? Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen sollen, ist Gnade wichtiger als Vorrecht.“

Ich erschrak, denn diese letzte Aussage kam mir sehr bekannt vor.
So zögerte ich einen Moment, doch eine letzte Frage musste ich noch stellen:

„Welche Hilfe bietet denn schon ein Musiker, Schauspieler oder Künstler? Nicht jeder findet seine Begabung als Arzt, kann andere gesund pflegen, ist vielleicht in der Lage, so eine leckere Suppe für jemanden zu kochen, ist ein guter Verkäufer oder kann so ein prachtvolles Bett bauen, wie dieses, in dem ich liege. Ist man nicht mit einer falschen Begabung dazu verdammt, ehrenlos zu bleiben?“

„Aber nein!“, warf sie ein. „Was glaubst ihr, von wem sich der Tischler die Inspirationen für die wunderschönen Drechselarbeiten an diesem Bett geholt hat? Er hat sicherlich so manches Bild und viele unserer Staturen der Künstler bewundert und trillerte während seiner Arbeit fröhlich ein Lied von unseren Musikern. Die Theaterspieler und Philosophen regen uns zum nachdenken an und verhelfen uns zu besseren Entscheidungen. Ohne Freude und Inspiration kann niemand schöpferisch sein oder hätte die Kraft, anderen zu nutzen. Kunst ist nicht weniger wichtig als Wirtschaft, im Gegenteil, denn ohne Gedanken, Produktion und Dienstleistung, gäbe es nicht den Indikator Tausch. Alles ist letztendlich notwendig, wie verrückt es anfangs auch erscheinen mag. Das ist eben das Gesetzt der Symbiose, die es ohne die Vielfalt nicht gäbe.
Was würde euch ein schneller Erfolg beim Bau eines Hauses nützen, wenn ihr hierfür auf ein solides Fundament verzichtet hättet?
Was nützt euch der Gewinn einer Schlacht, wenn ihr den Krieg verliert?
Man muss das Kalb eben erst groß ziehen, bevor man es melken kann.
Vergesst nicht, Erfolg liegt in der Weitsicht und Geduld, denn kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn ihr euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen können.“

Sie schaute mich immer noch freundlich an, lächelte und wirkte ehrlich glücklich.
Dann nahm sie meinen Teller vom Nachtschrank und verließ den Raum durch eine kleine, mit Schnitzereien geschmückte, Holztür und ging in einen anderen mir unbekannten Raum.
Eine Zeitlang starrte ich noch auf diese Tür, dann ließ ich meine Blicke im Raum umherschweifen, bis ich meine Aufmerksamkeit auf mich selbst lenkte. Ich analysierte mit einigen Bewegungen meinen Körper und kam schließlich zu dem Entschluss, dass es mir gesundheitlich eigentlich wieder recht gut ging. Plötzlich sprang die verzierte Tür auf, meine Pflegerin kam heraus und huschte, mir ein kurzes Lächeln zuwerfend, aus der Eingangstür neben dem Fenster ins Freie hinaus. Nun ja, ein wenig gehetzt sah sie aus. Sie hatte die Tür hinter sich nicht richtig verschlossen und so öffnete sie sich wieder und ich erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende Holzveranda, deren geschwungenes Geländer eine Linie vor dem Hintergrund des grünen Waldes bildete. Der Himmel darüber war strahlend blau und die morgendliche Sonne schien mir plötzlich alle schweren Gedanken zu vertreiben.
Wie friedlich es hier war.

„Die Sonne begrüßt dich und die Türe macht für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so stand ich auf. Ich entdeckte neben meinem Bett frische Kleidung, die mir die Frau neben dem Bett bereit gelegt hatte. Als ich sie anzog, entdeckte ich einen kleinen Spiegel hinter dem Bett. Ich ging auf ihn zu, betrachtete mein Spiegelbild und musste erst einmal lachen. Ich sah aus, wie ein eingelaufener Cowboy in zu großen Kleidern. Ansonsten aber sehr schick. Einzig der braune Wildlederhut passte wie angegossen. Noch etwas wackelig auf den Beinen, ging ich zur geöffneten Tür.

Noch kurz bevor ich die Veranda betrat, blicke ich nach links auf ein Schriftstück, das neben der Tür angeschlagen war. Eigentlich waren es drei Schriftstücke, doch sie schienen, wenn auch in etwas unterschiedlicher Interpretation, selbiges zu zitieren und auf das gleiche Wesentliche hinzuweisen:


„Ich bin jetzt auf dem Weg zu dir. Ich bleibe nicht länger in der Welt, aber sie bleiben in der Welt. Heiliger Vater, bewahre sie in deiner göttlichen Gegenwart, die ich ihnen vermitteln durfte, damit sie eins sind, so wie du und ich eins sind.
Solange ich bei ihnen war, habe ich sie in deiner göttlichen Gegenwart beschützt und bewahrt. Keiner von ihnen ist verloren gegangen, nur der eine, der verloren gehen musste, damit die Voraussage der Heiligen Schriften in Erfüllung ging.
Und jetzt bin ich auf dem Weg zu dir. Ich sage dies alles, solange ich noch bei ihnen in der Welt bin, damit meine Freude ihnen in ganzer Fülle zuteil wird.
Ich habe ihnen dein Wort weitergesagt. Deshalb hasst sie die Welt, denn sie gehören nicht zu ihr, ebenso wie ich nicht zu ihr gehöre.
Ich bitte dich nicht, sie aus der Welt wegzunehmen, aber sie vor dem Bösen in Schutz zu nehmen.
Sie gehören nicht zu dieser Welt, so wie ich nicht zu ihr gehöre.
Lass sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und weihe sie dadurch zum Dienst. Dein Wort erschließt diese Wirklichkeit.
Ich sende sie in die Welt, wie du mich in die Welt gesandt hast.
Ich weihe mein Leben für sie zum Opfer, damit sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und zum Dienst geweiht sind.
Ich bete nicht nur für sie, sondern auch für alle, die durch ihr Wort von mir hören und zum Glauben an mich kommen werden.
Ich bete darum, dass sie alle eins seien, so wie du in mir bist, Vater, und ich in dir. So wie wir sollen auch sie in uns eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die gleiche Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, so wie du und ich.
Ich leben in ihnen und du lebst in mir; so sollen auch sie vollkommen eins sein, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und dass du sie, die zu mir gehören, ebenso liebst wie mich.“



„Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.
Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkennen, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.“



„Ich bete für sie alle, dass sie eins sind, so wie du und ich eins sind, Vater - damit sie in uns eins sind, so wie du in mir bist und ich in dir bin und die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die Herrlichkeit geschenkt, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind –
ich in ihnen und du in mir, damit sie alle zur Einheit vollendet werden. Dann wird die Welt wissen, dass du mich gesandt hast, und wird begreifen, dass du sie liebst, wie du mich liebst.“



Hier wurde ein Mann zitiert, der sich in dieser Welt als einen Fremden betrachtete und von einer Erkenntnis erzählte. Eine Erkenntnis, die aus seiner Sicht jeden betreffen müsste. Eine Erkenntnis über eine tatsächliche Wirklichkeit, in der alles Eins wäre, in der also alles untrennbare Teile einer einzigen Einheit wären. Es wäre ja möglich, dass wir nur zu unvollkommen in unserer Wahrnehmung sind, um diesen Zusammenhang zu erblicken. Wer dieses jedoch sehen konnte, der müsste zum logischen Schluss kommen, das die Einheit seine eigenen Teile eigentlich nur lieben konnte und es entsprechen sinnvoll wäre, wenn sich auch die Teile gegenseitig und diese natürlich die gesamte Einheit, lieben würden, damit die Einheit, die wir ja dann alle zusammen wären, überhaupt sinnvoll und als Ganzes funktionieren kann. Alles andere wäre logischer weise absurd. Und ich schaute auf meinen Körper und vertiefte meine Gedanken. Würden zum Beispiel meine eigenen Zellen gegeneinander und gegen meinen Körper rebellieren, so würde ich krank werden und davon hätten meine Zellen schließlich auch keinen Vorteil, da sie von meinem Körper abhängig sind. Doch warum fehlte uns dann die Wahrnehmung für das Ganze? Warum sahen wir dann nicht, dass alles nur eins ist? Welchen Vorteil gibt es für eine Einheit, durch uns mit einer scheinbaren Vielfalt zu spielen? Wofür existiert die scheinbare Vielfalt? Dient sie, vielleicht wie Bauklötze, dem Akt der Schöpfung? Ist die Komplexität der vielfältigen Bedeutungen zwischen den Teile der Einheit so groß, dass hierin, für Teile wie uns, die Unfähigkeit begründet liegt, die Wahrheit über das Gesamte zu erkennen, was wir gemeinsam bilden? Da ich hier drei Zitate sah, ging ich davon aus, dass diese möglicherweise als Grundlage für eine Diskussion gedacht waren. Mir gefiel, dass sich diese Menschen mit solchen Grundgedanken auseinander setzten, denn wenn unsere Realität tatsächlich auf dieser oder einer ähnlichen Wahrheit beruhen würden, könnte dies einen bedeutenden Einfluss auf eine Überdenkung unserer Handlungsziele zur Folge haben.

Ich drehte mich wieder zur Tür, schob sie weit auf, betrat die große Veranda und atmete, erst vorsichtig und dann ganz tief, die wundervolle frische Morgenluft ein. Auf der Veranda standen ein Holztisch mit Stühlen und ein Schaukelstuhl. Außer mir, war niemand dort.
Ich stützte meine Hände auf das hölzerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die Wiese bis hin zum Wald schweifen.

„Dies, ist das Leben“, wusste ich.

Dann vielen mir laute Rufe und Gesänge auf. Irgendwoher kam Musik. Ich beschloss den Klängen nach zu gehen und stieg eine kleine Treppe von der Veranda hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den kleinen Hausweg und streifte barfuss durch den Morgentau des Grases, bis ich neben dem Haus auf einen großen Marktplatz einsehen konnte. Dieser Platz war umringt von vielen kleinen Fachwerkhäusern mit reetgedeckten Dächern. Ihre Fassaden waren mit bunten Bildern und Schnitzereien geschmückt. In der Mitte des Platzes stand ein hoher grüner Baum nebst einem großen Steinbrunnen. Auf dem Platz standen verschiedene Staturen und wunderschöne bunte Plastiken. Hinter dem Baum spielte eine Kapelle und die meisten Menschen tanzten und lachten. Nur ein Liebespaar schien sich gerade über irgendetwas zu streiten. Einige Kinder tobten um den Baum oder Brunnen herum und spielten fangen oder saßen auf dem Baum und sangen die Lieder der Musiker mit. Andere saßen auf dem Boden und malten oder schrieben etwas in den Sand.

Ich näherte mich den Zeichnungen im Sand. Einige Kinder waren vielleicht erst vier Jahre alt, konnten aber schon schreiben und rechnen. Sie machten es ihren Eltern nach. Es war für sie eine Ehre, anderen helfen zu können und so halfen sich auch schon die kleinen Kinder gegenseitig und brachten sich alles gegenseitig bei. So wuchs bereits die Ehre der Kinder.


An dem Baumstamm hing eine kleine Tafel. Ich ging hin und las, was dort geschrieben stand:


Wichtig ist das Wohl.
Wichtiges hat Vorrang vor Unwichtigem.
Dringenderes hat Vorrang vor Wichtigem, solange das Wichtige nicht gefährdet wird.
Das Wohl der Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen, sowie das Wohl des Einzelnen auch das Wohl der Gemeinschaft ist.
Für den Einzelnen ist das Wohl der Gemeinschaft das wichtigste.
Für die Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen das wichtigste.
Für die Gemeinschaft ist der Einzelne wichtiger als Minderheiten und Minderheiten wichtiger als die Mehrheit.

Ihr könnt dem anderen nur so weit ein ehrenwerter Helfer sein, wie Ihr Euch selbst Ehrenwert seid. So erlangt Eure Ehre.

Ehre sei dem, der Gnade hat, denn Gnade ist wichtiger als Recht.

Ehre sei dem, der anderen hilft seine einzigartigen Begabungen zu finden, welche sie auch sei, für wen sie auch sei, zum Wohle aller. Denn die Vielfalt ist das Vollkommene Ganze der unvollkommenden Einzigartigkeiten. So suchet nach der einzigartigen Begabungen jedes Einzelnen, derer jeder gebraucht wird.

Suchet und ihr werdet finden,
sähet und es wird wachsen,
habet Geduld und es wird vollendet,
bittet und es wird Euch gegeben,
bedenket der letztendlichen Schöpfungskraft in der Symbiose.

Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Leben.
Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Schöpfung.
Schöpfung ist Leben, wie Leben Schöpfung ist.
Ehre sei dem, der die Vielfalt unterstützt, denn er unterstützt die Schöpfung.
Ehre sei dem, der zum Wohle erschafft, denn er erschafft Leben.
Ehre sei dem, wer von dem gibt, was er erschaffen hat, zum Wohle aller, die da Eins sind, um den Prozess der Schöpfung fortzusetzen, mehr aus uns heraus zu werden, als wir sind, im Sinne Genesis.

Vielseitigkeit ist wichtiger als Einseitigkeit, denn sie schützt die Symbiose bei fehlender Vielfalt.
Ehre sei dem, der die Vielseitigkeit unterstützt, denn er unterstützt die Symbiose.

Kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn Ihr Euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt.
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.

Wohl dem, der Ehre hat, denn er ist wichtig für alle.



Irgend etwas berührte mich am Bein. Ich drehte mich nach links unten und sah, wie mich ein kleines Mädchen mit sehr großen Augen neugierig ansah:

„Seid ihr der kranke Fremde aus dem Wald?“, grinste sie mich an.

„Ja, der bin ich wohl. Dank der Menschen in diesem Dorf bin ich jedoch glücklicherweise wieder gesund“, erwiderte ich.

„Wo kommt ihr denn her?“, fragte sie weiter und lächelte neugierig.

Ich musste einen kurzen Moment nachdenken: „Aus Eden.“

„Ist das sehr weit weg?“

„Manchmal schon“, gab ich zurück, „Und wo kommt ihr her? Lebt ihr mit euren Eltern in diesem Dorf?“

„Ja natürlich. Schon mein ganzes Leben lang.“

Ich musste grinsen: „Wie alt seid ihr denn?“

„Ich bin fast sieben.“ Stolz sprühte aus ihren Augen.

Ich nutzte die Gelegenheit, um mehr über die Lebensart der Dorfgemeinschaft zu erfahren:

„Sind das Eure Leitlinien?“, fragte ich und zeigte auf die Tafel am Baumstamm.

„Nein, diese sind unsere Absichten. Unsere Leitlinien findet ihr in der Bibliothek oder auch teilweise auf der Hand.“

Sie zeigte hinter mich und ich erkannte auf dem Marktplatz einige Meter von mir entfernt eine hohe Plastik, die wie eine Hand geformt war, vielleicht, um visuell zu unterstützen, was dem Künstler bei den Leitlinien wichtig erschien. Ich ging hin, stellte mich vor sie und betrachtete die vor mir geöffnete, mehrere meterhohe, weiße Hand, deren Finger fast senkrecht in den Himmel ragten. In die Handfläche verewigte er in wunderschöner Schrift so klein, dass es fast wie eine Oberflächenstruktur der Haut wirkte, einen Teil der Leitlinien:



Jeder von Euch ist wie je ein Finger derselben Hand, desselben Armes und des einen Körpers, der alles ist, was war, jetzt ist und immer sein wird. Er ist das einzig wahre Eine, in denen Ihr, in scheinbar getrennten Teilen, gemeinsam das Eine bildet. Dieses Eine, ist Euer Herr, Euer Gott. Ihr sollt nicht andere Götter verehren. Betet sie nicht an. Dienet ihnen nicht und lasset sie nicht gegeneinander antreten, denn es gibt nur den Einen, dessen Teil Ihr seid. So liebet ihn, wie er Euch liebt und liebet Euch selbst, wie Euren Nächsten, auf das Ihr Euch einander begegnet, wie die Finger derselben Hand, die gemeinsam (be)greifen, im Sinne des allwissenden Einen. Schadet nicht Eurem Nächsten, denn Ihr schadet einen Teil des Einen und somit Euch selbst, weil auch Ihr Teil des Einen seid. Wer aber zum Wohle anderer lebt und im Sinne des Einen handelt, der handelt zum Wohle aller, des Einen und seines eigenen Wohls. Ihm soll Wohl widerfahren.

Das Eine ist Euer Herr, der ist, wer er ist und keines Namen bedarf. Missbrauche nicht unnützlich ihn, in seinem Namen, zu Euerm Eigennutz und behaupte nicht seine Absicht zu wissen, denn nur er weiß. So betet für Euer Wohl und um Gnade, solange es nicht zum Schaden eines anderen oder allem führe. Vertraut auf seine Weitsicht, Gerechtigkeit und Gnade, denn sie ist zum Wohl des Einen, was da alles ist und zudem Ihr selbst dazugehört, in Ewigkeit.

Ihr sollt den Feiertag ehren, auf dass Ihr zu Euch selbst findet.

Ihr sollt Eure Eltern ehren und ihnen Gehör schenken, so wie Ihr Eure Kinder in Ehren halten sollt und Gehör schenkt.

Ihr sollt nicht einander töten. Ehrt alles, was für Euch starb, damit Ihr leben konntet.

Ihr sollt nicht Eure Beziehung Verraten oder andere dazu verführen, sondern bewahrt Eure Loyalität und die Eures Nächsten.

Ihr sollt nicht einander bestehlen. Ehrt all die, für das, was Euch gegeben wurde, damit ihr leben konntet.

Ihr sollt nichts Falsches bezeugen, so dies zum Schaden eines Nächsten führt, sondern strebt nach Wahrheit und Klarheit, so es zum Besten ist.

Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Daseins, sein Ansehen, Position oder Leistung. Vergleicht nicht und setzt Euch nicht in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer selbst, um zu werden. Denn Ihr selbst habt Großes in Euch und könnt groß sein, wie kein anderer.

Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Habens, seine Frau, Mann, Kind, Freund oder alles was sein ist. Vergleicht nicht und setzt nicht das Eurige in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer Eigenes. Denn Ihr selbst könnt Großes haben, wie kein anderer.

Ihr sollt Böses nicht mit Bösem vergelten, denn Böses gebärt nur wieder böse Kinder.

Ihr sollt Euren Feinden vergeben, wie Euch vergeben wird, denn sie sind Kinder, wie ihr, die nicht wissen was sie tun.

Ihr sollt die Wunder und Herrlichkeit des Lebens mit Respekt und Ehrfurcht behandeln. Zerstört nicht, was Ihr nicht begreift, denn es ist ein bedeutsamer Teil von allem, dessen Bedeutung Ihr nicht erkennt. So behandelt alles im Zweifelsfall mit Liebe, denn Ihr wisst nicht, welchen Sinn es für Euch macht. Zerstörtes, kann Eurem Nächsten und letztlich auch Euch keine Gnade bringen, wenn Ihr Gnade sucht.

Konzentriert Euer Handeln nicht auf einen Kampf gegen das Böse, sondern konzentriert Euer Handeln auf einen Kampf für etwas Gutes.

Denkt an die Kinder. Fahrt Eure Kutschen im Dorf langsam.


„Die letzte Aussage war sicherlich ein besonders, persönliches Interesse des Künstlers“, dachte ich mir und musste schmunzeln.

„Wisst Ihr, warum es immer heißt, Ihr sollt nicht und nicht, Ihr dürft nicht?“, fragte mich das kleine Mädchen von eben, das mir offensichtlich unbemerkt gefolgt war und mich noch immer neugierig beobachtete.

„Ähm, eigentlich nicht. Es ist mir noch gar nicht aufgefallen“, antwortete ich etwas überrascht.“

„Wenn jemand sagt, Ihr sollt etwas nicht tun, so muss es doch jemanden geben, der nicht will, dass Ihr etwas tut, nicht war?“ Ihr Augen waren wirklich groß.

Ich dachte einen Moment nach: „Klingt eigentlich logisch, ja.“

Sie setzte mit ihrer Erklärung fort und hielt dabei irgendwie niedlich ihre kleinen Hände auf ihren Hüften: „Es ist uns also nicht verboten worden, all dieses zu tun, sonder jemand wünscht sich, dass wir dieses nicht tun. Wir müssen nicht, sondern wir sollen, weil jemand es will. Wir sind also nicht gezwungen, sondern haben die freie Entscheidung bekommen. Wenn uns jemand etwas empfiehlt ohne uns zu zwingen und zu drängen, kann es dann böse sein?“

„Eigentlich nicht“, schlussfolgerte ich, „klingt eher fürsorglich.“

„Das denke ich auch.“, sagte sie und hatte scheinbar ihre Selbstbestätigung bekommen.

Dann drehte sie sich unerwartet um und hüpfte, wie ein kleines Pony, in Richtung des Baumes zurück. Ein kleiner Junge stürmte plötzlich hinter dem Baum hervor, schubste sie leicht und rief lachend: „Ihr seid!“ Alle Kinder strebten auseinander und das kleine Mädchen lief auch schon den anderen hinterher, um sie zu fangen.

Ich konnte mir mein breites Grinsen nicht verkneifen, während ich den tobenden Kinder hinterher schaute.

Langsam schlenderte ich vom Geschehen des Marktes weg und bewunderte im Vorbeigehen die vielen mehr oder weniger schönen Plastiken und ausgestellten Bilder. Überall gab es kleine Tafeln, Zettel und kleine Verewigungen; und wenn es auch nur ein kleines Liebesgeständnis war. Viele schien hier ihre Meinung auf unterschiedlichste Weise an die Öffentlichkeit bringen zu wollen und mit ihren eigenen Vorstellung, Stoff für Diskussionen zu liefern. Wer nicht selbst Künstler, Poet oder Philosoph war, bediente sich derer, um seine Ansichten möglichst auffällig und schön ins rechte Licht rücken zu lassen, wie ich später erfuhr. Auf einem Bild erinnerte jemand an die sieben Todsünden, während jemand anderes eine Tafel aufgestellt hatte, um Tugenden zu sammeln. An anderer Stelle stand schlicht weg, dass jemand doof sei. Letztendlich diente dies alles als Basis für die Bildung, Streichung und Veränderung der Leitlinien dieser Gemeinschaft, in der jeder äußerte, was er für das Beste hielt oder überhaupt nicht mochte und insbesondere von den drei Weisen studiert wurde.

„Hey, Fremder!“, rief mich jemand, der mir aus einer kleinen Gasse entgegenkam, „Wir brauchen Eure Hilfe. Würdet Ihr uns die Ehre erweisen?“

Es war ein großer starker Mann mit einem Strohhut auf, einem weißen Trägershirt und einer dunklen Hose, die mit einem Gürtel, weit über der Hüfte, mir viel zu hoch geschnürt erschien und deren Hosenbeine entsprechend kaum tiefer als bis zu den Knien reichte. Er lachte mich an und kam mir mit offenen Armen entgegen. Nun war es so weit, dachte ich mir und war erstaunlich freudig überrascht. Man gab mir erstmalig die Chance, die erste Ehre zu erlangen, doch ich fühlte mich nicht recht qualifiziert, was immer auch meine Aufgabe sein würde.

„Was kann ich für Euch tun?“, fragte ich zurück, „glaubt Ihr, ich kann Euch eine Hilfe sein?“

„Ich werde Euch lehren, was Ihr wissen wollt. Wir brauchen Eure Hilfe auf unseren Kartoffelfeldern.“

Uns so folgte ich ihm durch eine Gasse auf einen Feldweg und sah schließlich das erste Mal ein Kartoffelfeld. Ein großes braunes Quadrat mit kleinen grünen Pflanzen, sorgfältig in Linien aufgereiht, lag, wie hineingeschnitten, in mitten des grünen Waldes. Nur am Rand des Feldes, in südlicher Richtung, standen kaum Bäume. In dieser Richtung schien eine schwarze Sandwüste anzuschließen. Ein warmer, leicht feuchter Wind, quoll aus dem Wald heraus, kroch über den heißen Acker, strömte dann bis tief hinein in die Wüste und verlor sich schließlich in bizarrem Flimmern in weiter Ferne. Auf dem Feld waren bereits viele Menschen, die mit nacktem Oberkörper, zwischen der heißen Sonne und grünen Pflanzen, auf dem warmen Ackerboden wühlten. Dennoch schien meine Ankunft aufzufallen, so dass sie sich zwischen ihren Arbeitsschritten aufrichteten und mich fast übertrieben aufmerksam begrüßten. Schon nach kurzer Zeit stiefelte einer na
 

David

Mitglied
Der Garten Eden












Vorwort
Große Umbrüche im Leben bringen manchmal seltsame Ereignisse mit sich.
Man sagt ja, so etwas lässt einen wachsen.

Diese Geschichte ist eine Erzählung von einem spirituellen Tagtraum, der mir in einer Lebenskrise widerfuhr.
Er dauerte drei Stunden.

Viele Figuren, Symbole, Bilder und Ereignisse auf dieser Reise, haben häufig mehr, als eine Bedeutung. Traumdeuter werden die Hintergründe einiger Symbole vielleicht erkennen. Manche Dinge bekommen jedoch noch einen weiteren Sinn, wenn man sie untereinander im Zusammenhang betrachtete.
Diese Geschichte beinhaltet also viele Geschichten in einer, mit Aussagen in Symbolen, kleinen Episoden, der gesamten Geschichte selbst und durch Verknüpfungen zu religiösen Zeugnissen.

So gebe ich nun eine Geschichte weiter, die mir durch einen Traum erzählt wurde.
Wer diese Geschichte liest und versteht, für den ist sie bestimmt.
Möge jeder für sich selbst entscheiden, ob und welche Bedeutungen er für sich darin entdecken kann.




Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.





Der Garten Eden

VORWORT 3
DER GARTEN EDEN 9
DER ERSTE MORGEN 9
DER ALTEN MANN 10
DER APFEL 10
DAS WASSER 11
DER GRASHALM 11
DER ZWEITE MORGEN 11
DER ALTEN MANN (ZWEIFEL) 12
DER APFEL 12
DAS WASSER 12
DER GRASHALM 12
DIE FRAGE 12
DAS ERSTE LEBEN 15
DER DRITTE MORGEN 15
DER AUFBRUCH 15
DIE JUNGVÖGEL UND DIE LUMPEN 16
DER ERSTE SCHRITT 17
EINBRUCH DER NACHT 18
EIN NEUER MORGEN 18
DIE SUCHE NACH DEM WEG 18
STÜRMISCHE NACHT 19
DER ALTEN MANN (REUE) 20
DER APFEL 20
DAS WASSER 20
DER GRASHALM 20
DAS ZWEITE LEBEN 21
DER SECHSTE MORGEN 21
DER ALTEN MANN (ERKENNTNIS) 21
DER ZWEITE SCHRITT 22
DER GROßE BAUM 23
DIE GLÖCKCHEN 25
EIN LEBEN AM WASSERFALL 27
DIE WEITERREISE 29
DER BETTLER 30
UNBEKANNTE FRÜCHTE 30
GNADENLOS 30
DAS DORF 32
VERÄNDERUNG IN EDEN 44
DIE HEIMKEHR 44
DER APFEL 45
DAS WASSER 46
DER GRASHALM 46
SCHÖPFUNG IN EDEN 46
ZWIESPALT IN EDEN 47
DIE VIER BURSCHEN 48
DAS DRITTE LEBEN 51
DER MORGEN 51
AUFBRUCH DER GEMEINSCHAFT 51
DIE VULKANLANDSCHAFT 52
DIE TRENNUNG 52
DER SCHRITT IN DIE HÖLLE 52
DER TOTE BAUM 53
DER GEYSIR 54
DIE LAVA 54
DIE HÖHLE 57
DER GIPFEL 57
DIE HEIMKEHR 60
AUFBRUCH INS PARADIES 62
DER NÄCHSTE MORGEN 62
DER PALAST 63
DER LETZTE MORGEN 63
DAS VIERTE LEBEN 65
DER ORT DES PARADIESES 65
DER ALTE MANN (DER NEUE MANN) 67
LANDKARTEN 68







Der Garten Eden
Der erste Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines hohen weißen Saales, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Langsam erkannte ich drei hohe Flügelfenster vor mir, die, durch einen wunderschönen weißen Rundbogen, in ihrer erhabenden Größe begrenzt, vom Boden bis kurz vor die hohe, gewölbte, mit Stuck besetzte Decke reichten. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen, weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.





„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür und erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende weiße Marmorterrasse, deren weißes geschwungenes Geländer, kontrastreich einen Saum zum azurblauen Himmel bildete. Noch kurz bevor ich die Terrasse betrat, blicke ich nach links durch eine geöffnete Tür in einen anderen großen weißen Saal. Einige Menschen standen sich dort gegenüber, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, und ich hörte dumpf ihr angeregtes palavern. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht mehr. Zu oft schon hatte ich, in der Vergangenheit, an den ergebnislosen Diskussionen teilgenommen, mich mit vergeblicher Müh eingebracht und auf eine hoffnungslose Veränderung gehofft. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete, wie immer, tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Nie war es anders. Und ich erblickte, wie jeden Morgen, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Ich glaube, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich jedes Mal, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.


Der alten Mann
Ich beschloss zu ihm zu gehen und folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Zugegeben, die Wahl seines Stammplatzes war nicht dumm. Dieser Ort hatte schon etwas praktisches. Wenn man Hunger hatte, brauchte man nur seinen linken Arm zu strecken und konnte problemlos nach einem grünen, saftigen und süßen Apfel greifen. Hatte man Durst, reichte eine kurze Neigung des Oberkörpers nach rechts, um sein Gesicht in das kristallklare Wasser des Zierbrunnens einzutunken. Gesättigt, genoss man dann diesen wundervollen Blick über die Landschaft, während man schläfrig, im angenehmen Halbschatten der Blätter, auf dem weichen Rasen lag.
Aber wenn man den besten Platz auf Eden nicht verlässt, weil man davon überzeugt ist, es gäbe keinen besseren, wird dann nicht der vollkommende Platz zum vollkommenden Gefängnis? Niemand sah eine Mauer, die ihn daran hinderte zu gehen, aber ich glaube, es gab eine Mauer, - in ihm. Eine Mauer der Angst.

Der Apfel
Fast demonstrativ, erhob der alte Mann seinen linken Arm, schob seine Hand durch das grüne Blättergewirr des Baumes und griff lässig nach einem der vielen Äpfel. Vor dem Hineinbeißen pflegte er seinen Mund dermaßen übertrieben groß aufzureißen, dass ich mich jedes Mal wunderte, warum er nie an einer Maulsperre litt.
Ich tat es ihm gleich und pflückte ebenfalls einen Apfel.

Er war unglaublich süß und saftig, - perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Der Apfel schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte der Apfel für mich, wie immer, eher mehlig.

„Verdammt, schon wieder!“, brüllte er plötzlich los, spuckte und beäugte ekelerregt und wütend, die verbliebende Hälfte eines sich krümmenden Wurmes. „Tausend mal habe ich das schon gesagt und Debatten geführt! Und was hat sich verändert? Nichts! Ist es denn zuviel verlangt, Äpfel ohne Würmer zu wollen? Ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer! Wie oft soll ich das noch sagen?! Was nützt alles Palavern, wenn doch nichts passiert?!“

Ich aß derweilen meinen Apfel auf und bestaunte die folgende Illumination, als er nun seinen weißen Oberkörper nach rechts schwenkte und seinen hoch roten Kopf in das kalte Wasser des Zierbrunnens eintauchte. In meiner Phantasie wartete ich auf das Geräusch eines deutlichen Zischens und eine aufsteigende Dampfwolke, die zu meiner Enttäuschung natürlich ausblieb.

Das Wasser
Ich neigte mich ebenfalls über den Brunnenrand, bildete mit beiden Händen einen Kelch und schöpfte mir Wasser zum Mund.
Das Wasser war kristallklar, kalt und frisch, – perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Das Wasser schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte das Wasser für mich, wie immer, eher fade.

„Schau dir das an!“, sagte der alte Mann, langsam wieder in Rage kommend. „Siehst du das Mosaik auf dem Grund des Brunnens?“

Ich lehnte mich über den Brunnenrand und schaute so konzentriert ich nur konnte, durch das türkis blaue Wasser, auf ein aus Mosaiksteinen zusammengesetztes Bild, aus tausend herrlichen Mustern.

„Der Mosaikstein in der linken unteren Ecke ist zersprungen!“, rief er, als ob ich schwerhörig wäre.

Ich gab meine Bedauerung zum Ausdruck und bestätigte ihm, dass dieses wohl tatsächlich nicht seine Richtigkeit haben kann.

Der Grashalm
Bald darauf saßen wir auf dem Rasen und debattierten, ob es denn nicht möglich wäre, Grashalme im Garten Eden einzusäen, die nicht gleich umknickten, wenn man sie beträte.
Und so „schaukelten“ wir uns die folgenden Stunden gegenseitig hoch. Was vorher gut war, schien nun unvollkommen, Kleinigkeiten wurden bedeutsam, Unwichtiges wichtig, Unvollkommenes wurde verurteilt und irgend jemand trug die Schuld dafür.

Der zweite Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Meine Augen waren wieder vom grellen Licht geblendet und ich senkte meinen Blick. Langsam begannen sich meine Augen zu erholen und ich begann meine Umgebung zu erkennen. Ich stand wieder barfuss auf dem angenehm kühlen Marmorboden in Mitten des hohen weißen Saales. Vor mir die drei gläsernen Rundbögen. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und die linke Flügeltür war wieder leicht geöffnet. Die Vögel zwitscherten und eine lauwarme Brise ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Ich folgte der Einladung und ging erneut zur geöffneten Tür. Mein üblicher Blick nach links durch eine geöffnete Tür, fiel wieder flüchtig in den anderen großen weißen Saal, wo sich gewohnheitsmäßig einige Menschen, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, gegenüber standen und angeregt palaverten. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht. Ich schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete wieder tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Der alte Mann stand, mal wieder, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel. Er war, wie immer, alleine.
Ja, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und mir wurde wieder bewusst, dass jeder, der zum Brummen und Apfelbaum ging, somit auch unvermeintlich den alten Mann besuchen müsste. Und er freute sich immer so, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.

Der Alten Mann (Zweifel)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich wieder zu mir um und lächelte.
Ja, es war nicht nötig, etwas zu sagen, - vielleicht, war es auch wirklich nicht mehr möglich, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Der Apfel
Ich pflückte einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt, wie immer, süß und saftig.
Doch es war eben nichts besonderes für mich.
Und so schmeckte mir der Apfel, wie immer, eher mehlig.

„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.

Das Wasser
Und so trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt, wie immer, kristallklar, kalt und frisch.
Doch es war wieder nichts besonderes für mich.
So schmeckte mir das Wasser, wie immer, eher fade.

„Schau dir das an!“, klang es in scheinbar weiter Ferne dumpf.

Der Grashalm
Und mein Blick viel träge zu Boden, wanderte von einem Grashalm zum nächsten, schwebte langsam über die Wiesen, hinüber zu den grünen Hügeln, über die vielen Blumen und zu den vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. Und meine Blicke verharrten am Horizont, wo ein langer, hoher, goldener Zaun die Grenze des Garten Edens bildete.

„Ein abgebrochener Grashalm!“, hörte ich ihn.

Die Frage
Ich schaute dem alten Mann ernst und tief in seine stahlblauen Augen und Stille kehrte ein.
Die tiefen Augen, zwischen den kleinen Falten, unter den weißen Augenbrauen, sprachen von einer langen Erfahrung aus einer traurigen und enttäuschten Vergangenheit:

„Alter Mann“, sagte ich zu ihm und zog eine Augenbraue hoch, „so wie sich deine Welt, zwischen diesem Baum und jenem Brunnen befindet, so ist auch meine Welt begrenzt durch den goldenen Zaun des Garten Edens. Kannst Du mir sagen, was mich hinter dem goldenen Zaun erwartet, dessen Grenzen ich bisher nie zu überschreiten wagte?“

„Mein Junge“, seufzte er und schüttelte lächelnd mit seinem Kopf, „hinter dem goldenen Tor des Garten Edens, ist das Leben.“

„Was ist das Leben?“, fragte ich ihn.

„Nichts, was einen Grünschnabel wie dich interessieren sollte. Dort gibt es nichts, was es zu begehren wert wäre. Ich sehe deine schelmischen Pläne hinter deiner unschuldigen Stirn“, grinste er. „Doch streiche dir deine Flausen aus dem Kopf und denke nicht weiter über diesen Unsinn nach. Hier nimm! Iß diesen Apfel!“, sprach er und versuchte vom Thema abzulenken.

Es ärgerte mich, dass er mich so herabwürdigend behandelte und mir so grundsätzlich jede Fähigkeit aberkannte, dass er es sogar für überflüssig hielt, meine Frage zu beantworten, um auf meinen Wunsch nach Erkenntnis, Weiterentwicklung und Selbstentfaltung einzugehen. Aber so schnell wollte ich mich nicht abspeisen lassen:

„Was erwartet mich im Leben?!“

Der alte Mann schaute auf mich herab: „Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, gerade du würdest es nicht einmal drei Tage dort aushalten und auf allen vieren kämest Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Es haben schon ganz andere versucht, das Leben zu leben. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir bestimmt nicht gefallen.“

Ich überlegte einen Moment. Zu einseitig schlecht erschien mir seine Beschreibung vom Leben, zu ängstlich seine Einstellung und sein Rat an mich, nur an Vertrautem festhalten zu sollen und es noch nicht einmal zu wagen, über Unbekanntes nachzudenken. Ich bezweifelte außerdem, ob es angemessen war, so wenig Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten haben zu dürfen, wie er es mir vermittelte. Eigentlich sollte mich seine Aussage nicht wundern, denn schließlich verließ er nie seinen Platz zwischen dem Apfelbaum und dem Zierbrunnen, um sich mal frei im Garten Eden zu bewegen, obwohl ich dort nie eine Bedrohung fand. Aber warum hatte er eine so geringschätzige Meinung über mich und traute mir sogar noch weniger zu, als anderen? Es erweckte bei mir den Anschein, als ob er in Wahrheit eine Vertuschung seiner eigenen Angst oder eines eigenen Versagen bezweckte und mich nur deshalb von meinem eventuell Erfolg abhielt, um sich meinen Respekt zu sichern. Sein Rat bezweckte also vielleicht eher seinem Eigennutz, als seiner ehrlichen Sorge um mich. Wie würde er sich wohl fühlen, wenn mir etwas gelänge, was ihm in der Vergangenheit vielleicht nicht gelungen war? – Wenn ich mich zu etwas fähig erweise, wozu er nicht imstande war? Wäre er dann neidisch auf mich? Würde dies sein Selbstwertgefühl sinken lassen? Hatte er Angst, ich würde dann auf ihn herabsehen? Oder gab es, in Bezug auf das Leben, einen wirklich berechtigten Grund für ihn, sich um mich sorgen zu müssen?

“Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, sprach ich provokativ und hoffte auf überzeugendere Argumente, die mir erklären sollten, weshalb ich ihm mehr trauen sollte, als dem Gefühl, welches in mir ausbrechen wollte, um mir zu sagen, ich solle etwas verändern.

Irgendwie unpassend, legte er scheinbar freundschaftlich einen Arm auf meine Schulter und enthüllte aus meiner Sicht altklug, selbstgefällig und respektlos seine wahre Ansicht über andere und mich:
„Du bist jung und forsch, aber auch blauäugig und dumm. Mach doch, was du willst, aber nur ein törichter Narr verlässt den Garten Eden, um in das Leben zu gehen. Du wirst es sehen. Ich gebe dir höchstens drei Tage. Du wirst auf Knien zurückkommen und mir recht geben!“

Aus meinen Augen hatte er vor allem mich als Person in Frage gestellt. Er schien seiner Überzeugung und meiner Unfähigkeit, ihn zu verstehen, so sicher zu sein, dass er sich nicht einmal bemühte, mit mir zu diskutieren, sondern billigte mir statt dessen jegliche Freiheit zu, in mein eigenes Verderben zu rennen, während er mir gleichzeitig seinen Schutz durch hilfreiche Tipps für das Leben vorenthielt. Wenn er um mich besorgt war, warum half er mir nicht konstruktiv mit Information, die mich für das Leben hätten wappnen können? Ich vermisste irgendwelche nützlichen Hinweise, die mir hätten helfen können, nicht die gleichen Fehler zu machen, wie er. So ließ er es aber zu, mich in Fallen tappen zu lassen, die ich hätte umgehen können, wenn er mir aus den Details seiner Erfahrung berichtet hätte. Mit seine ungenauen Anspielungen machten er mir nur Angst und seine Sicherheit verunsicherte mich. Besser, als mit jeder Argumentation, manipulierte er mich hierdurch, ihm unwissend vertrauen zu sollen. Er heilt mich in seiner Abhängigkeit; und das wusste er sicherlich.
Ich drehte mich um und verließ seinen Platz, um zurückgezogen, für mich alleine, nachdenken zu können. Ich fühlte mich durch seine geringschätzige Bewertung über mich, der unpräzisen Angstmachung und der von ihm so dargestellten Aussichtslosigkeit meiner „närrischen“ Ambition, in meinem Mut erschüttert, denn woher sollte ich wissen, ob er nicht sogar recht hatte. Was, wenn er recht hätte? Was, wenn ich recht hätte? Was würde mich wirklich hinter dem goldenen Zaun des Garten Edens erwarten?
Um die Last seiner Worte beschwert und in meinen Gedanken gefangen, wandelte ich, mit dem Blick nach unten, auf die blendend hellweißen Marmorplatten des Weges, zurück zur Villa.

Das erste Leben
Der dritte Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus dem gleißendes Licht und erkannte, wie ich mal wieder im hohen weißen Saal mit den drei erhabenen Flügelfenstern aufgewacht war. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür.
Im linken Raum, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, standen wieder einige Menschen und palaverten. Ich wusste natürlich, worüber sie redeten, aber es interessierte mich eben nicht mehr. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe saßen wieder vereinzelnd Menschen an weißen Steintische. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

“Dies, ist der Garten Edens“, wusste ich.

Der alte Mann stand, wie immer alleine, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel und mir wurde wieder bewusst:

„Dies ist sein Platz!“

Der Aufbruch
Ich folgte in alter Gewohnheit den weißen Stufen hinunter in den Garten – doch dieses mal blieb ich plötzlich stehen. Seltsam ergriff mich der weiße vor mir liegende Marmorweg. Vage Sicherheit überkam mich mit leuchtender Klarheit. Und als ob ich es der Welt ins Angesicht schreien wollte, platzte es aus mir heraus und sprach doch nur zu mir selbst, mit abgehakten Worten, jedes sein eigenes Gewicht in der Bedeutung:

„Und dies ist mein Weg!“

Der alte Mann drehte sich aus der Ferne zu mir um. Einen Augenblick verharrten unsere sich begegneten Blicke, dann begann er langsam mit dem Kopf zu schütteln und begann arrogant zu lächeln: „Keine drei Tage!“, rief er.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Und so folgte ich etwas unsicher dem weißen Marmorweg und spürte auf meinem Rücken die mich lähmen wollende Blicke des alten Mannes. Gleichmäßig kurzgemähtes Gras umsäumte meine gleißend helle Straße und sollte mich bis ans Ende von Eden und den Anfang des Lebens begleiten. Die Bäume begannen mit meinem Fortkommen ihre Silhouette zu verändern. Dünne Nebelschwaden schlichen durch die Täler und suchten Zuflucht vor der aufsteigenden Mittagssonne. Die weißen Fliesen meines Weges zogen, mit jedem meiner Schritte, gleichmäßig unter mir hindurch und ich blickte auf sie herunter, als schaute ich von oben auf eine Welt, die ich verlassen hatte. Monoton begrüßten mich rhythmisch abwechselnd meine nackten Füße, die in mein Sichtfeld eben so schnell kamen, wie sie verschwanden. Meine Augen blickten auf, zum Horizont der vor mir liegenden Bergkuppe. Allmählich kam sie mir näher und legte sich alsbald zu meinen Füßen. Ich schaute herab und dann sah ich es:

Ein hohes, goldenes und prunkvoll verziertes Tor:
Tausende von Ornamenten, Figuren und Fratzen, schienen die goldenen Gitterstäbe zusammenzuhalten und berichteten von Geschichten, die da waren, die da sind und die da möglicherweise kommen werden.
Rechts und links neben der doppeltürigen Pforte, etwas tiefer, schloss ein goldener Gitterzaun an und zog seine Linie über die Landschaft Edens, bis sich der Zaun in weiter Ferne, hinter Hügeln und Wäldern, nahe dem Horizont, meinen Blicken entzog. Ich näherte mich weiter dem Tor. Frauen in weißen Kleidern strebten vor mir nach rechts und links auseinander, verteilten sich am Wegesrand und standen mir Spalier. Sie blickten mich an, aber schwiegen. Langsam begann sich das riesige Tor zu öffnen und schwer schwenkten mir die Flügel entgegen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Hinter dem Tor und durch die Gitter der Grenze Edens, lugte eine Landschaft hindurch, die mir fremder war, als alles was ich bisher kannte. Ein lehmiger, steiniger Weg zog sich unregelmäßig durch eine sandige flache Steppe. Einige braune, blattlose Büsche spähten mit ihren verdorrten Ästen zwischen den kleineren und größeren grauen Steinen hervor. Der Wind wehte feinen Sand über die Prärie. Dahinter folgte eine flache Tundra, bewachsen von wilden hohen Wiesen und allem braunen Gestrüpp. Schließlich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, ein dichter dunkler Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien.
„Dies ist das Leben“, wusste ich.
Doch wusste ich auch, was ich da tat?

„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du wirst dir selbst begegnen und es wird dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an die Worte des alten Mannes.

“Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, machte ich mir Mut.

Die Jungvögel und die Lumpen
Noch kurz bevor ich das Tor durchschritt und das Leben betrat, blicke ich nach links und rechts, zum Fuße der goldenen Grenze des Garten Edens und bemerkte zweierlei Menschen, die davor und die dahinter saßen.

Die davor saßen, die im Garten Eden, trugen saubere weiße Gewänder und saßen nebeneinander aufgereiht, wie junge Vögel auf einem Ast, denen die Daunen zu lang und die Federn noch zu kurz waren, um flügge zu sein. Und so hockten sie, in ihrer Sehnsucht zu fliegen, doch in ihrer Feigheit verbleibend, palavern nebst ihres vertrauten Nachbarn. Schnatternd und fachsimpelnd, bewertend und beurteilend, tauschten sie einander aus und richteten dabei ihre Blicke durch die Gitter des Zauns. Sie lästerten über die Akteure des Lebens, übertrumpften sich gegenseitig in theoretischem Wissen und hypothetischen Entscheidungen und sie wetteiferten, welcher der ihrigen, im Falle des Falles, wohl am besten abschneiden würde, wenn er denn im Leben wäre.

Die dahinter saßen, die im Leben, waren in kleinen Gruppen an den Zaun gedrängt. Verhüllt und eingekauert in tristlosen, dicken, grauen Stoffen. Ihre Gesichter vermummt. Aus den schützenden Tüchern ihrer Lumpen, dem sandigen Sturm und der heißen Sonne trotzend, funkelten verborgene Augen aus kleinen Sehschlitzen hervor. Sie waren die wohlhabenden des Lebens und Maulhelden des Garten Edens. Oh, wie sie mit ihrem Mut prahlten und die „Jungvögel“ hochmütig zum besser machen anstachelten, wenn sie bald durchs Tor in den sicheren Garten Edens gekrochen kamen und Rechenschaft ablieferten mussten, während sie hier Ihren Durst am Brunnen löschten und Ihren Appetit am Apfelbaum stillten, statt sich ihren Lebensunterhalt im Leben zu erkämpfen.

Und so, wie die da draußen fluchtbereit unweit des errettenden Eingangs saßen, verweilten die da drinnen unweit des Ausgangs der ersehnten Freiheit, feige zwischen dem harten Leben und dem schützenden Garten Edens verharrend. Ängstliche Torwächter zwischen Ungewissheit und Heimat, an der goldenen Grenze zwischen Flucht und Zuflucht.

Ich machte keinen Unterschied zwischen denen die davor und denen, die dahinter saßen. Für mich waren sie allesamt Drückeberger, die weder das Leben erlebt, noch sich einer Ehre verdient gemacht hatten. Selbstgefällige Pantoffelhelden oder vielleicht auch nur bedauernswerte Geschöpfe, die sich mit ihren scheinbaren Heldentaten etwas einredeten und sich mit ihrem vermeintlichen Wissen nur ausredeten.

Ich wollte sie noch fragen, was sie dort eigentlich taten, doch als ich ihre Gesichter sah, wusste ich, sie würden mir ewig eine Antwort schulden.

Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Dumpf hörte ich ihr angeregtes palavern und wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.

Der erste Schritt
Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch, betrat mit einigen Schritten mutig den lehmigen Boden jenseits der Grenze - und atmete tief und ahnungslos die kochend heiße staubige Luft des Lebens ein. - Wie Feuer eines Flammenwerfers drang die Hitze viel zu tief durch die Luftröhre in meine Lungen und feiner Sand und Staub reizten mich zum Husten.

Ich hatte plötzlich außerdem das Gefühl, mein Körper wäre um ein vielfaches schwerer geworden. Meine dünnen schwachen Beinchen vermochten kaum mein Gewicht zu tragen. Ich stemmte mich breitbeinig, wie auf Stelzen, wackelig ausbalancierend, gegen die ungeheure Gravitation der Erde und wagte es kaum mein Gewicht auf nur ein Bein zu verlegen, um den nächsten Schritt zu riskieren, da ich fürchtete, nicht genügend Kraft zu haben, um auf einem Bein stehen zu können.

„Wie, um Gottes Willen, soll ich die Kraft aufbringen, in dieser Welt vier Wochen zu überleben?“ , fragte ich mich verblüfft und voller Entsetzen und röchelte so flachatmig es ging, um den heißen Atem nicht tiefer in mich eindringen zu lassen, als unbedingt nötig.

Ich neigte mich gegen den heißen Wind und schaute über meine Schulter nach hinten, zu den flatternden Tüchern, unter denen irgendwo Menschen Schutz vor den Naturelementen suchten. Sand peitschte mir ins Gesicht und haftete in meinen tränenden Augen, so dass ich augenblicklich versuchte, mir diesen mit meinen staubigen Händen herauszuwischen, was die Situation noch verschlimmerte. Also blickte ich mit zugekniffenen Augen nach vorne und machte mir Mut, so weit es ging:

„Jede noch so lange Wanderung“, sagte ich mir, “beginnt immer mit einem ersten Schritt!“

Und so verlegte ich mein ganzes Gewicht auf mein linkes Bein und stelzte mit meinem Rechten nach vorne. Ich riss mich zusammen und legte meine gesamte Energie auf nur einen Gedanken:

„Gehe! Schritt für Schritt! Gehe!“

Und meine weichen Füße gehorchten. Sie fielen platt auf den vor mir liegenden Lehmboden und begruben, die darauf liegenden kleinen, scharfkantigen Steinchen, die sich gemeiner weise immer wieder die selben Stellen suchten, um sich durch meine dünnen Fußsolen in das Fleisch zu bohren.
Bald entdeckte ich eine neue Atemtechnik. Ich atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus. So ließ sich die heiße Luft besser ertragen und weniger Sand sammelte sich in meinem Mund. Rhythmisch knirschte ich auf den Sandkörnern zwischen meinen Zähnen, im Takt meiner schweren Schritte.

„Wenigstens habe ich was zu beißen“, sagte ich zu mir mit einem gewissen Galgenhumor.

Bald waren meine Füße von den scharfkantigen Steinen an vielen Stellen aufgerissen. In einiger meiner Fußstapfen erkannte ich, hin und wieder, kleine Blutstropfen.

Die Sonne brannte unbarmherzig und hart auf meine weiße Haut. Immer wieder drehte ich mich um und fragte mich, ob ich wohl noch die Kraft hätte umzukehren, um gegebenenfalls das errettende Tor erreichen zu können. Einen Moment lang war ich dabei wohl etwas unaufmerksam und trat ungeschickt, mit meinem linken Fuß, auf eine scharfe Kante eines fußballgroßen Steines. Wie ein Rasiermesser schnitt sich die raue Kante in meinen Fußballen ein. Ich versuchte noch mein Gleichgewicht zu verlagern, rutsche aber aus, schrappte an einem Dornenbusch vorbei und viel aufschreiend, erst gegen die harte Seitenfläche eines Felsens und endete schließlich, der Länge nach, im Sand. Auf meiner linken Schulter liegend, krümmte ich mich vor Schmerzen. Mit meiner linken Hand hielt ich meinen schmerzenden Fuß und mit der anderen, meinen gestoßenen Hinterkopf. Ich schrie vor Leid und Wut, während ich in Embryonallage eingekrümmt, auf dem heißen sandigen „Bett“ lag.

Es tat gut, als nach einiger Zeit der Schmerz etwas nachließ.
Mein rechter Arm, ich hielt mit ihm noch immer meinen Hinterkopf fest, schenkte mir etwas Schatten im Gesicht. Ich beobachtete unter diesem Arm hindurch, wie unter meiner linken Hand, Blut aus dem Fuß hindurch sickerte und den trockenen Sand langsam dunkelrot einfärbte. Bald begann die Blutung zu stillen. Ich schaute flach über dem Boden in die Ferne, zurück des Weges, den ich kam und sah in aller Pracht den Ort, den ich vielleicht nie hätte verlassen sollen. Den Garten Eden.
So lag ich vielleicht noch eine halbe Stunde lang im Sand. Dann setzte ich mich schließlich auf und lehnte mich mit meinem Rücken gegen eine steile Fläche des hohen Steins, mit der mein Hinterkopf vorhin, „Kontakt“ geschlossen hatte. Ich spuckte ein paar Krümel Sand aus meinem trockenen Mund. Die Zunge klebte förmlich am Gaumen und ich hatte unendlich großen Durst. Mein dünnes Hemdchen war zerrissen, und meine Haut war zerkratzt und von der Sonne verbrannt. Ich zog rote Hautfetzen von meinem Arm. Mein Kopf dröhnte und mir war übel.

Einbruch der Nacht
Es wurde bald auffällig still um mich herum. Der Wind schlief langsam ein. Bald war nichts zu hören, außer ein leises Rascheln einiger langer Gräser, unweit meines Sitzplatzes. Dann sah ich die riesige rote Sonne im Westen. Der leuchtende Ball begann sich langsam zu einem Oval zu verzerren, bis er tief über dem Horizont zu zerfließen schien. Die Schatten der kleinen Hügel und großen Felsbrocken wurden länger, streckten sich über den roten Boden und zogen Richtung Osten dunkle „Barrieren“ über meinen Weg. Als das Himmelsfeuer im Nord-Westen verglimmte und nur noch vereinzelnd kleine Zirruswolken, hoch oben, im rötlichen Schein der untergegangenen Sonne, die Nacht einleiteten, funkelten bereits die ersten silbernen Sterne zwischen ihnen hindurch und das dunkle Blau des Himmels wurde zu tief schwarzer Nacht. Bald strahlten nur noch die Sterne mit ihrem fahlen Licht auf den Boden der Steppe. Die kleinen Quarzkristalle meines Granitsteines, an den ich immer noch gelehnt war, funkelten ganz leicht im Sternenlicht. Der Sand und der Stein gaben noch für kurze Zeit ihre gespeicherte Energie des Tages ab. Dann wurde alles bitter kalt und weder Stein noch Sand spendeten Wärme. Mit einer leichten Briese drang eisige Kälte unter meine dünne, zerrissene Kleidung, kroch über meine verbrannte Gänsehaut und ich fröstelte. Ich kauerte mich zusammen und schlief endlich zitternd ein.

Ein neuer Morgen
Langsam erhob sich der rote, schwere Stern in das Himmelsgewölbe und begann, mit seinen ersten Strahlen, die Kälte der Nacht zu vertreiben. Ich öffnete mein rechtes Auge, mein linkes war noch mit der linken Gesichtshälfte im Sand vergraben und blickte auf einen, im rötlichen Morgenlicht beschienen, kleinen Vogel, der einige Zentimeter vor meinem Gesicht hockte und mich neugierig, mal mit seinem rechten und mal mit seinem linken Auge, begutachtete. Wie gerädert hob ich meinen bleiernen Kopf aus dem Sand und schaute dem davonfliegenden Vogel hinterher. Ich schob mich am Felsen hoch und lehnte mich wieder mit meinem Rücken an ihn. Noch wie gelähmt vor Kälte, erreichten mich die ersten schläfrigen Sonnenstrahlen und verströmten wohlige Wärme. Dort lag der Garten Eden. Ganz klein konnte ich den Brunnen und den Apfelbaum sehen. Irgendwo dazwischen erahnte ich den alten Mann, der über klares Wasser, gegen den Durst und über süße Äpfel, zum Stillen seines Hungers, verfügte. Ich hatte schrecklichen Durst. Sollte ich umkehren? Abschätzend blickte ich in die entgegengesetzte Richtung. Der Wald schien nicht mehr so weit entfernt.

„Vier Wochen“, sagte ich mir. „Nur vier Wochen.“

Die Suche nach dem Weg
Ich stellte mich auf meine schmerzenden Füße und schleppte mich weiter des Weges Richtung Wald.
Bald erreichte ich die Tundra.

„Endlich kein Sand mehr“, dachte ich mir.

Dichte schwarze Wolken zogen herauf und verdunkelten den Himmel. Es Donnerte. Das Rascheln der hohen Gräser wurde lauter. Wind kam auf, änderte seine Richtung und nahm unaufhörlich an Stärke zu. Blitze schlugen in einigen Kilometern in den Boden ein. Es begann mit einigen wenigen Tropfen, doch dann schüttete es wie aus Eimern. Ich hielt meine Hände auf, schlürfte daraus das segenreiche Wasser und spülte den schlammigen Sand in meinem Mund herunter. Mein Durst legte sich und mein Hunger machte sich bemerkbar. Die Regentropfen trafen sich auf Grashalmen, Moosen und auf dem lehmigen Boden zwischen den Steinen. Sie versammelten sich und flossen gemeinsam in kleinen Rinnsälen auf Bahnen des geringsten Widerstandes. Aus Rinnsälen wurden Bäche und aus Pfützen kleine Teiche. Immer größere Wassermassen drängten sich durch das Gestrüpp und überfluteten den Boden. Lehm und Sand wurde zu Schlamm. Mein Weg glich inzwischen einem kleinen Fluss und der Sturm tobte und riss kleine Zweige, Gräser und Blätter mit sich. Immer tiefer versank ich mit jedem Schritt im Schlamm und jeder Schritt wurde zum Kampf. Ich war bis auf die Knochen nass. Der Sturm blies über meinen patschnassen Körper und stahl ihm jegliche Restwärme. Um nicht tiefer in den kalten Matsch einzusinken, kroch ich auf allen Vieren weiter.
Hinter mir leuchtete der Garten Eden. Dort schien am blauen Himmel die Sonne, aber in der entgegengesetzten Richtung, nur etwa hundert Meter vor mir entfernt, lag auch der ersehnte Wald. Mein Ziel. Ich musste es einfach schaffen und schleppte mich weiter. Endlich erreichte ich die Waldkante und suchte nun Verzweifelt eine Möglichkeit, in den Wald hineinzugelangen, um Schutz zu finden, aber seine Grenze war dermaßen verwuchert und mit Dornenbüschen verbarrikadiert, dass ich keinen Weg hineinfinden konnte.

Stürmische Nacht
Es wurde unter den tosenden Gewitterwolken immer dunkler. Inzwischen musste die Sonne wohl schon längst untergegangen sein, aber ich gab nicht auf. Trotz meiner Müdigkeit suchte ich bis tief in die Nacht im tobenden Sturm, unter schüttendem Regen und donnernden Blitzen, einen Weg in den Wald, bis ich irgendwann erschöpft aufgab und mich in den Schlamm fielen ließ.

Der Regen peitschte mir weiterhin unaufhörlich ins Gesicht, aber ich regte mich nicht mehr.
Apathisch hatte ich nur noch einen Blick für den Garten Eden, dessen warmes Leuchten mich in seinen Bann zog. Meine Heimat, ein einziger kleiner Lichtschimmer in weiter Ferne, scheinbar unberührt vom Grollen und Heulen dieses Gewitters und Hagels, weit weg vom peitschendem Sturm, der hier an meinem Körper riss, ihn durchnässte und jeglicher Wärme entzog. Noch einmal drückte ich mich hoch, um in dieser Dunkelheit einen Blick auf die Schönheit des Glanzes werfen zu können. Und ich begann mich von der magischen Anziehungskraft, der leuchtenden Wärme, einfangen zu lassen und strebte dem apokalyptischen Geschehen, in diesem dunklen Tunnel, zu entfliehen, hin zum Licht der Heimat, wie die Motte zum Schein des Feuers.
Und so wühlte ich mich durch die Nacht, durch Schlamm und Wassermassen, zurück auf dem Weg nach Hause. Erst kroch ich, doch bald marschierte ich wieder. Ohne Emotion, ohne Schmerz, taub und mechanisch, wie eine Maschine. Und wenn ich nur noch einen kleinen Finger hätte bewegen können, ich hätte ihn bis zu meinem bitteren Ende bewegt.

Im Morgengrauen erreichte ich die Grenze zur Steppe und schleppte mich wieder über den Sand unter der glühenden Sonne. Als ich dann endlich das goldene Tor des Garten Edens erreichte, krabbelte ich auf blutigen Händen und Knien der Erlösung entgegen. Zwei weiße schemenhafte Gestalten kamen mir durch die Pforte entgegen, stützten mich unter den Schultern und schleiften mich endlich hinein. Sie legten mich sanft, mit dem Gesicht nach unten, auf den weißen Marmorboden. Dann entfernten sie sich wieder ein paar Meter von mir und beobachteten mich mit respektvollem Abstand.
Niemand sprach, - es gab keinen Laut, - absolute Ruhe.
Ich winkelte meine Knie an und hockte mich auf meine Hacken. Nach vorne gebeugt, verweilte ich einen Moment und beobachtete meinen Schatten, dessen Silhouette ein Abbild von mir selbst auf die Fliesen zeichnete. Ich holte, mit mehreren Verzögerungen, tief Luft. Dann gewannen meine Gefühle des tiefen Schmerzes die Oberhand und ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Ich weinte.

Schließlich wurde mein Körper wieder leicht wie eine Feder. Trotz der Narben auf meiner roten Haut und den wunden Füßen, Knien und Händen, vergingen meine Schmerzen. Langsam erhob ich mich in meinen zerfetzten Lumpen. Ich blickte um mich herum und erkannte nun, dass die weißen Gestallten, die mich in den Garten Eden brachten, die Frauen in den weißen Gewändern waren, die mir bereits bei meinem Weg ins Leben, am Tor, Spalier gestanden hatten. Die Frauen in ihren weißen Gewändern standen noch immer um mich herum und schauten mich mit entsetzten Blicken an, aber niemand sagte etwas. Auch ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Also drehte ich mich schweigend von ihnen weg und begann langsam der weißen Marmorstraße in Richtung der weißen Villa zu folgen, hin zu jenem mir vertrauten Ort, wo ich einen alten Mann, zwischen einem Zierbrunnen und einem Apfelbaum, wiedersehen würde.
Still schwebte ich zwischen den grünen Hügeln auf dem Weg des Lichts.

Und da erblickte ich ihn abermals, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können. Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich jedes Mal, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.

Der alten Mann (Reue)
Ich verließ den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch das kurze Gras, bis ich neben ihm stand.
Eine Zeitlang verweilte ich still neben ihm und traute mich nicht ein Wort zu sagen. Dann unterbrach ich die erdrückende Stille und sprach leise,

„Du hattest Recht, alter Mann. Ich war ein Narr.“

Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, mehr zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, wirklich etwas zu sagen, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Der Apfel
Ich pflückte wieder einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt. Er war wirklich unglaublich perfekt.
Er war süß, saftig und außergewöhnlich lecker.
Noch nie schmeckte mir ein Apfel so gut, wie dieser.
Oh, wie ich ihn genoss und spürte, wie mein Hunger verflog.

„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.

Das Wasser
Alsbald trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt. Es war wirklich unglaublich perfekt.
Es war kristallklar, kalt und frisch.
Noch nie schmeckte mir Wasser so gut, wie dieses.
Oh, wie ich es genoss und spürte, wie mein Durst verflog.

„Schau Dir das an!“, klang es dumpf in scheinbar weiter Ferne.

Der Grashalm
Gesättigt, legte ich mich auf das weiche kurze Gras, genoss diesen wundervollen Blick über die Landschaft und versank, im angenehmen Halbschatten der Blätter, in meine Gedanken.

„Erst das Saure, machte das Süße, süßer“, durchfuhr mich ein Geistesblitz.

„Ein abgebrochener Grashalm!“, tönte es zu mir herüber.

Ich schaute dem alten Mann in sein fahles Gesicht.
Dann ließ ich meinen Kopf ins Gras fallen und blickte durch die grünen Blätter in den blauen Himmel,

„Ja, so wird es wohl sein“, sagte ich mir erneut. “Erst das Saure, macht das Süße, süßer“.

Ein warmer Sonnenstrahl drang durch die Blätter hindurch und blendete mich. Ich genoss mit verschlossenen Augen die Wärme in meinem Gesicht und schlief in der Nachmittagssonne ein.


Das zweite Leben
Der sechste Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts. Ich war wieder im hohen weißen Saal erwacht und stand entspannt, leicht bekleidet, in meinem weißes Gewand, barfuss auf dem glatten, angenehm kühlen, Marmorboden. Langsam erkannte ich wieder die drei hohe Flügelfenster vor mir. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Ich hörte Vögelgezwitscher. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und eine lauwarme Brise wehte herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster, leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Ich schritt wieder an den palavernden Menschen vorbei, schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete, erst ganz langsam nur durch die Nase, dann doch ganz tief, die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen wie immer einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Der alte Mann stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen.

Dies war sein Platz.

Schon aus dieser Entfernung konnte ich seinen Missmut hören. Er meckerte, wie immer, über die Unvollkommenheit der süßen Äpfel, über den zersprungen Mosaikstein, im Brunnen des klaren Wassers, und über den abgebrochenen Grashalm des weichen Rasens.

Der alten Mann (Erkenntnis)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten und streifte bald barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.

„Ich gehe fort“, sprach ich.

„Du gehst fort? Wohin? Du bis doch gerade erst nach Hause gekommen“, antwortete er mir entsetzt.

„Ich gehe zurück ins Leben“, sagte ich und erwartete, dass er mich nun für dumm und vergesslich erklären würde.

„Wie kann man nur so dumm und vergesslich sein!“, erwiderte er. „Hast Du schon vergessen, wie du zurück kamst? Deine Haut ist jetzt noch rot und vernarbt. Ich hatte dich beobachtet, wie du im Leben littest. Wie oft sah ich dein verzweifeltes Gesicht, wenn Du zum Garten Eden zurückblicktest und dir ersehntest, du wärst hier! Du schautest dich um und erstarrtes praktisch zur Salzsäule, verharrtest in deinem Kummer und stecktest in deiner Sehnsucht und deinem Selbstmitleid fest. Und? Hast du vielleicht den Weg in den Wald gefunden?“

Ich versuchte ihm zu erklären, wie ich dachte: „Wie hätte ich den Weg in den Wald finden sollen, wo ich doch keinen Blick nach vorne richtete? All meine Aufmerksamkeit und Gedanken galten alleine dem Garten Eden. Meine Sehnsucht zur Vergangenheit war größer, als meine Konzentration auf die Gegenwart und meine Hoffnung in die Zukunft.
Und ja, Du hast Recht. Bei meinem Blick zurück, erstarrte ich tatsächlich zur Salzsäule und verharrte im Weiterkommen. Denn ich war zu schwach.
Das nächste Mal will ich daher meiner Herkunft keines Blickes und keines Gedankens würdigen, sondern konzentriert nach vorne gerichtet, aufmerksam, dem Weg des Lebens folgen. So werde ich diesen Fehler kein zweites Mal begehen, bis die Zeit gekommen ist, da ich mich erinnern kann, ohne fest zu klammern und ich los lassen kann, obwohl ich Wissen habe, - bis die Zeit gekommen ist, dass meine Hoffnung mehr Macht über mich hat, als mein Wissen.“

Regungslos stand er mir gegenüber und ich wartete auf irgend eine Reaktion.
Nach einer halben Ewigkeit öffnete er leicht den Mund, atmete ein und zog seine rechte Augenbraue hoch. Das war alles.

„In vier Wochen sehen wir uns wieder“, unterbrach ich die Geduldsprobe.

Ich drehte mich um, griff mir meinen kleinen Rucksack und schnallte ihn auf den Rücken. Ich war dieses Mal besser vorbereitet. Ein kurzer Ruck an den Trageriemen und er saß bombenfest.

„Ich wünsche Dir alles Gute“, sagte ich noch.

Dann machte ich mich auf den Weg.

Der zweite Schritt
Ich flog fast über den weißen Marmorweg, denn ich wollte keine Zeit vergeuden und erreichte schnell das goldene Tor zum Leben. Die Frauen in den weißen Gewändern standen wieder Spalier und warfen mir erstaunte Blicke zu. Auch die „Jungvögel“, die davor saßen und die „Lumpen“, die dahinter saßen, schauten gespannt zu mir herüber. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.

Die Tore öffneten sich:

„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

„Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten, denn dies ist das Leben“, wusste ich.

Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch und atmete, ganz vorsichtig und langsam, durch die Nase, die heiße, staubige Luft des Lebens ein.

Ich erwartet wieder den Kampf mit der Gravitation, aber obgleich ich mein schwereres Gewicht spürte, stand ich fest und sicher. Meine Beine hatten durch mein letztes Leben an Muskeln dazu gewonnen und waren nun bereit mich zu tragen, wohin ich wollte.

Und ich schritt noch etwas zaghaft auf die spitzen Steine des Lehmweges, aber obgleich ich den ungleichmäßigen Druck unter meinen nackten Füßen merkte, spürte ich keinen Schmerz. Meine Füße hatte durch mein letztes Leben Hornhaut bekommen und diese schützte sie nun wie ein Panzer.

Und die Sonne glühte erbarmungslos auf meinen Körper, aber obgleich ich die stärke Ihrer Strahlung merkte, verbrannte meine Haut nicht, denn sie war braun geworden.

„Wen interessiert der Garten Eden? Vergiss ihn, bis der Tag gekommen ist“, sagte ich zu mir selbst.

Und so durchquerte ich schnell die Steppe und ich drehte mich nicht um.
Und ohne einen Gedanken an den Garten Eden zu verschwenden, erreichte ich bald die Tundra. Schon am Nachmittag stand ich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, vor dem dichten dunklen Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien. Aber ich schaute nach vorne, denn ich wusste, dass es ihn gab und fand einen kleinen verschlängelten Pfad, der erst rechts am Waldesrand entlang, dann plötzlich in einem Linksknick, in Mitten des tiefen Waldes führte. Ich hatte ihn tatsächlich gefunden!

„Dies war mein Weg!“, freute ich mich und gab mir Zuversicht.

Und so beschritt ich voller Hoffnung, aber auch mit Befürchtungen vor der Ungewissheit, den langen Weg in den tiefen Wald.
Dichtes, dunkles Grün der hohen Baumkronen umrankte mich, wie das Gewölbe eines Tunnels. Einige helle Sonnenstrahlen durchdrangen vereinzelnd das Blättergewölbe und berührten den Boden des Waldweges. Die Luftfeuchtigkeit war hoch. Feiner Nebel lag auf der Erde und kroch an manchen stellen die Baumstämme hoch. Die trockenen Schleimhäute meiner staubigen Nase begannen, wie ein Schwamm, die kühle Feuchtigkeit des schattigen Waldes aufzunehmen und so konnte ich bald wieder sehr intensiv Gerüche wahrnehmen. Es roch nach jungen Pilzen, vermodertem Holz, verharzten Tannen und nasser Erde. Ich brauchte Nahrung. Und so folgte ich dem Weg, immer tiefer, in den dunklen Wald hinein. Ich schaute konzentriert nach vorne und nach oben, stets auf der Suche nach etwas Essbarem. Und ich suchte nach etwas, was ich kannte. Ich suchte nach Äpfeln.

Der große Baum
Viel höher als erwartet, zwischen den grünen Blättern eines Laubbaumes, erahnte ich schon bald einen blättergrünen Apfel. Ein Apfel in dieser Höhe erschien mir nicht plausibel. Ich traute meinen Augen nicht so recht und wollte diesen scheinbaren Umstand erst einmal prüfen. Skeptisch, näherte ich mich dem dicken Baustamm. Am Fuße angelangt, zwischen seinen mächtigen Wurzeln, die wie große Schlangen im Erdreich versanken, blickte ich nach oben und konnte mich schließlich selbst versichern: Dort oben, in ziemlich großer Höhe, hing tatsächlich ein grüner Apfel. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor einen so hohen Apfelbaum gesehen. Ich musste auch noch nie auf so einen hohen Baum klettern, um einen Apfel zu pflücken! Aber was hätte ich tun sollen. Ich hatte Hunger.
Nur gut, dass mich keiner sehen konnte, als ich versuchte, mit Anlauf, den Baumstamm herauf zu laufen oder, in völlig lächerlichen Köperhaltungen, verkrampft nach Griffen in der Baumrinde suchte. Es sah vielleicht nicht besonders elegant aus, aber irgendwie gelang es mir dann mit einer Grätsche, kopfüber, bei gleichzeitigem kräftigem Wegdrücken meines Körpers mit beiden Armen nach oben, die erste Astgabel des Baumes zu erklimmen. Von unten aus betrachtet, hatte ich somit den schwierigsten Teil des Kletterns geschafft, da oberhalb der Gabel, die Verästelung des Baumes zunahm und somit enger zusammenliegende Tritt- und Haltemöglichkeiten, mein Weiterkommen verbessern dürften. Zwischen den Blättern hindurch, bahnte ich meinen Weg durch die Baumkrone. Ich hatte mich nicht geirrt. Hier oben gab es so viele Äste, dass ich problemlos höher hinauf steigen konnte. Bald wühlte ich mich auf einem horizontal verlaufenden, dicken Ast durch das Grün. Energisch bog ich einen sperrigen Zweig zur Seite, setzte einen großen Schritt nach vorne und erschrak. Ich stand plötzlich, außerhalb der dichten Baumkrone, auf dem schmalen Ast im Freien. Rechts, links, wie auch da runter, nichts als leere! Ich war inzwischen vielleicht 9 Meter über dem Erdboden. Der ausladende, knorrige Ast, auf dem ich stand, streckte sich noch einige Meter aus dem Blätterwerk des Baumes heraus und verjüngte sich zu einer dünn schwankenden Astspitze, in den bodenlosen Himmel. Mit beiden Händen umklammerte ich verkrampft einen, über meinen Kopf befindlichen, Ast. Jener verlief parallel, etwa zwei Meter über dem Ast, auf dem ich stand. Auch dieser wurde zu seinem Ende hin dünner und endete schließlich in einem kleinen, filigranen Astgabelchen. An der Spitze des letzten Zweiges, hing ein kleines grünes Blättchen. Und unter diesem kleinen Blättchen, hing ein saftig grünes Äpfelchen. Es tänzelte fast höhnisch, in ca. vier Meter Entfernung vor mir, im freien Wind.

„OK“, sagte ich mir und schaute an meinen Füßen vorbei in den Abgrund, „nur nicht hinunter sehen!“

Ich zwang mich nach oben zu schauen und erblickte meine zitternden Hände an dem Ast über mir. Weiße Wolken bewegten sich am blauen Himmel, im Hintergrund meiner Hand, und dies gab mir das irreleitende Gefühl, der Baum kippe mit mir nach rechts um: „Auch keine gute Idee.“ Und so stierte ich wieder auf den grünen, wackelnden Apfel vor mir. Im Hintergrund des Ziels meiner Begierde, senkte sich unter mir ein Blätterdach niedriger Bäume. Dahinter schien sich eine Lichtung mit einem See zu befinden.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Apfel:

„Ich muss mich nur am oberen Ast festhalten und auf dem unteren Ast balancieren. Wenn ich herunterfalle, werde ich sterben. Wenn ich nichts esse, werde ich auch sterben. Es ist theoretisch nicht unmöglich, an diesen Apfel zu gelangen“, sagte ich mir.

Ich bemerkte die Vorherrschaft meiner mich blockierenden Höhenangst:

„Du Angst! Du hast mir geholfen, nicht voreilig zu handeln und hast mich zu Vorsicht ermahnt. OK. Ich habe es verstanden. Nun hilfst du mir aber nicht weiter, denn ich will nicht als dein Sklave falsche Entscheidungen hinnehmen müssen, sonder mit meinem freiem Willen eine Entscheidung auf Vernunft durchsetzen! Ich lasse jetzt nicht mehr zu, dass Du Macht über mich hast. Ich bin dein Herr. Also verschwinde.“

Ich redete mir ein, es gäbe keine Tiefe, als wäre es eine Illusion und ich befände mich in Wirklichkeit unmittelbar über dem Boden. Meinen Augen bat ich, nicht auf den Hintergrund zu achten, sondern nur den Vordergrund schön scharf zu stellen. Es sollte nur noch den Ast geben, auf dem ich stand, den Ast, an dem ich mich festhielt und den Apfel, den ich bekommen musste. Für die nächsten Minuten sollte es keine andere Welt für mich geben.

„Dem Mutigen gehört die Welt!“, sagte ich und versuchte hiermit meine Angst zu verdrängen.

Und so ging ich, Schritt für Schritt, Handgriff für Handgriff, auf meinem schwankenden Weg im Wind, und näherte mich dem grünen, runden Ziel.
Ich erreichte den Apfel. Eigentlich wollte ich dem Apfel noch einen Spruch für seine Dreistigkeit an den Kopf werfen, sich einen so frechen Platz ausgesucht zu haben, doch bei dem Gewackel auf den dünnen Zweigen in dieser Höhe, dem böigen Wind und meinem unsichern Halt über dem Abgrund, verschlug mir meine Panik die Sprache. So pflückte ich ihn nur schnell und steckte ihn in meine Tasche, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von meinem Halt abzuwenden. Konzentriert balancierte ich ebenso vorsichtig zurück, wie ich mich aus dem Blätterhaus herausgewagt hatte, bis ich mich endlich wieder innerhalb der Baumkrone befand, wo die Äste wieder dicker und stabiler waren und mir die grünen Blätter um mich herum, ein Gefühl von Halt, Sicherheit und Geborgenheit vermittelten.

„Ha, geschafft! ha ha! Soll das etwa schon alles gewesen sein? War ja ein Kinderspiel!“, und mein aufgeregtes Gackern klang bald eher wie blödes Grunzen.

Ich beruhigte mich jedoch langsam und genoss in diesem kleinen grünen Nest die Schönheit des hohen, stillen Versteckes. Die Sonnenstrahlen, welche durch eine kleine Öffnung im Blätterdach von oben zu mir herunter gelangten, verliehen den feuchten, grünen Blättern, um mich herum, einen seidigen Glanz. Rechts oben von mir bemerkte ich, wie ein einzelner Wassertropfen, von einem Blatt, auf das nächst tiefere viel und dabei jedes mal eine kleine Wasserspur auf seinem grünen „Landeplatz“ hinterließ. Irgendwie glich das kriechen der mickrigen Silbermurmel, einer kleinen Schnecke, die manchmal in ihrer Eile, auf das nächste Blatt hüpfte. Sozusagen eine Springschnecke. Dann verschwand der Tropfen im unteren Dickicht und ich besann mich wieder auf mich selbst:

„Du hast gerade etwas getan, was Du noch nie tatest“, wurde mir bewusst.
„Du warst dir nicht sicher, ob du es schaffen würdest und nun hast Du eine Aufgabe gelöst, die du dir erst kaum zutrautest.
Als du die lähmenden Mauern in dir niederrissest und sich sodann dein Horizont erweiterte, als du deine Angst besiegtest und den Mut aufbrachtest, dich auf neue Möglichkeiten einzulassen, als du an deine Fähigkeiten glaubtest und dir begannst mehr zuzutrauen, wurdest du vom Sklaven deiner Angst, zum Herren deiner selbst.
Mit jeder Angst, die du überwindest, wirst du also ein Stück freier. Jede Aufgabe lässt dich wachsen. Ich fühle mich nun stärker, größer und freier, als jemals zuvor. Ich fühle mich gut.“

Mit meiner rechten Hand holte ich den Apfel aus meiner Tasche und betrachtete ihn mit einem großen Glücksgefühl. Ich nahm einen kräftigen Bissen. Und obwohl er schrumpelig war, schmeckte er besser als jeder Apfel, den ich je gegessen hatte. Es tat gut, wieder etwas im Magen zu haben, aber ich glaube, dies war nicht der einzige Grund für seinen köstlichen Geschmack:

„Nichts ist so süß, wie der Erfolg der eigenen Bemühung“, dachte ich mir.
„Geschenkt, hätte mir der Apfel vielleicht nicht so gut geschmeckt.“

Und so verwandelte sich meine Unsicherheit auf Grund von Unwissenheit, in Sicherheit aufgrund meines neuen Wissens. Ich hatte Selbstvertrauen und ich stieg weiter hinauf. Ich pflückte so viele Äpfel, wie ich in meinen kleinen Rucksack unterbringen konnte. Schließlich kletterte ich hinab und fand, am Fuße des mächtigen Stammes, endlich wieder sichern Halt auf breitem Boden. Ich blickte noch einmal nach oben, schaute in die Tiefe der Baumkrone und lächelte, wie zu einem guten Freund. Dann betrachtete ich mich selbst:

„So, wie dieser lebendige Baum zum Lichte strebt, so bist auch du endlich mal über dich hinausgewachsen. Und so, wie der in die Höhe wachsende Baum nur deshalb an Stärke hinzugewinnen kann, weil er seinen in die tiefe wachsenden Wurzeln vertraut, kannst also auch du nur Stärke mit deinem Mut zum Selbstvertrauen gewinnen.“

Ich schaute voller Stolz auf die Äpfel in meinem kleinen Rucksack. Dies waren meine Trophäen, meinen Schatz, ein Beweis für mögliche Erfolgschancen und praktisch gesehen, erst einmal Nahrung für ein paar sorglose Tage. Ich hatte nun ein bisschen Zeit zum Suchen nach Essbarem gewonnen. Der Erfolg gab mir Hoffnung. Zwar eine Hoffnung auf eine Zukunft ohne Sicherheit, aber immerhin eine Zukunft mit Grund zur Zuversicht. Vielleicht wird es nicht immer so sein und dann hoffe ich auf eine zweite Chance, aber diesen Erfolg wird mir nie einer nehmen können. Vielleicht werde ich von meinem Erfolg länger zehren können, als von den Äpfeln selbst, denn nun gab es in meinem Wissen eine beruhigende Gewissheit: Was einmal möglich war, kann ein zweites mal nicht grundsätzlich unmöglich sein. Ich hatte Gesiegt! War dies vielleicht das Geheimnis der Hoffnung?

Ich beschloss, ab jetzt, jede meiner Erfahrung im Nachhinein zu überdenken, um mir immer wieder bewusst zu machen, wo ich im Leben stehe, was ich aus meiner letzten Erfahrung lernen könnte und ob das Leben mehr aus guten oder schlechten Erfahrungen besteht.
Vielleicht braucht man ausschließlich schöne Erfahrungen, um Hoffnung zu haben.

„Nun“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Mut, besiegte ich die Angst und hatte Erfolg.
Durch meinen Erfolg, erkannte ich meine Macht und gewann an Mut.
Glücklich über meine erfolgreiche Tat und, durch das Erkennen meiner Macht, mutiger, bin ich nun zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“

Dann schwang ich meinen Rucksack auf den Rücken, zog mit einem festen Ruck die Trageriemen fest, ging zurück auf den Weg und setzte meine Reise in die Tiefen des Waldes und der Ungewissheit fort.

„Die Sonne begrüßt dich und die Träume machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Die Glöckchen
Ich folgte dem sich schlängelnden Weg durch das Gehölz. Mit jedem zügigen Schritt, den ich ging, wippte mein kleiner Rucksack auf meinen schmalen Schultern leicht hin und her. Meine Trageriemen passten sich, in einem leisen Knartschen, den Bewegungen an. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die letztens noch meinen Weg beschienen, blieben nun aus. Es Dämmerte. Links von mir funkelte ein zaghaftes Glitzern durch die Bäume.

„Dies könnte der See der Lichtung sein, den ich von meinem Baum aus gesehen hatte“, dachte ich mir.

Das Gezwitscher der Vögel veränderte sich, denn so die einen sich schlafen legten, wachten andere auf. Und seltsame Rufe hallten nun durch den Wald.
Ich kam an eine Gabelung. Der Hauptweg schien geradeaus zu gehen. Zu meiner Rechten, verschwand im Dunkeln ein Weg, unter einem dichten, niedrigen Blätterdach, mehrerer ausladender Bäume. Irgendetwas bewegte sich dort. Aus selbiger Richtung hörte ich leise Glöckchen läuten. Ich stellte mich an die linke Seite des Weges und versuchte, so gut ich konnte, zu erspähen, was sich dort aus dem dunklen Tunnel auf mich zu bewegen würde. Die Glöckchen wurden lauter. Schwarze Schatten kamen aus der Dunkelheit hervor. Es waren menschenähnliche Gestalten, eingehüllt in langen dunklen Kutten. Ihre Gesichter waren unter Kapuzen versteckt. Der Vorderste trennte sich aus seiner Formation und kam direkt auf mich zu. Er hob seinen Kopf und ein großer Schnabel schaute mich an.

„Gehet aus dem Weg Fremder und fliehet! Die Pest geht um!“

Er griff zu seinem Schnabel und schob mit ihm eine Maske nach oben. Dunkle Augen, so schwarz wie Löcher, starrten mich ernst aus einem grauen Gesicht an.

„Gehet Fremder und verweilet nicht, sonst seid auch ihr des Todes geweiht!“

Hinter ihm strömten weitere Menschen aus dem Dunkeln hervor. Mit aufgerissenen Augen, tippelte ich unbeholfen rückwärts eine kleine Böschung hinunter, bis ich mit meinem Rücken gegen einen Baumstamm stieß. Der Mann mit der Maske klappte seinen Schnabel wieder herunter, setzte sich erneut an die Spitze der armen Geschöpfe und lotste sie auf den Weg in die Richtung, aus der ich kam. Sie zogen sehr langsam an mir vorbei. Außer ein vereinzelndes leises Wimmern, war von ihnen nichts zu hören. Sie stützten sich gegenseitig, wenn sie alleine nicht mehr gehen konnten. Einige hielten Kinder in ihren Armen. Viele dieser Kinder schienen tot zu sein, denn sie ließen ihre kleinen, grauen Ärmchen nach unten hängen, und sie baumelten unbeteiligt hin und her, selbst wenn sie irgendwo anstießen. Aber selbst die kleinen Kinder, die noch lebten und mich manchmal mit ihren großen Augen ansahen, gaben keinen Mucks von sich. Zuletzt zogen sie einen, mit Leichen beladenen, Handkarren an mir vorbei und hinterließen einen süßlichen Geruch der Verwesung. Langsam verschwand die Menge wieder im Dunkeln. Das Poltern der Holzräder wurde immer leiser und der Klang der Glöckchen verstummte. Stille kehrte ein. Plötzlich schreckte mich ein lautes Knackten im Wald auf. Irgendwo im Gehölz ortete ich das Flattern aufsteigender Vögel. Ich schaute mich um. Es war nun beinahe Nacht.
Ich entschied mich, links meines Weges, querfeldein, durch den Wald zur Lichtung zu gehen. Langsam tastete ich mich an den dunklen Baumstämmen vorbei und trat, möglichst behutsam, auf den unsichtbaren Waldboden auf. Hin und wieder zerstörte ich trotzdem die Stille der Nacht und zerbrach unverhofft, laut krachend, einen großen Zweig unter meinen Füßen. Immer deutlicher glitzerten, zwischen den Bäumen, die kleinen Wellen des Sees hindurch, der sich hinter der Waldkante, in einer Lichtung, befinden sollte. Bald erreichte ich den Waldrand und hatte freien Ausblick auf den See. Vorsichtig stieg ich den dahinterliegenden Hang hinab und erreichte schließlich, in einer kleinen Bucht, den Strand. Dicht vor dem Wasser kniete ich mich in den Sand, löschte meinen Durst und setzte mich auf den Boden. Ich lehnte mich nach hinten, stützte mich auf meine Ellenbogen auf und streckte meine Beine. Einige hundert Meter von mir entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Sees, toste ein silberner Wasserfall im fahlen Schein des inzwischen aufgegangenen Vollmondes. Ich blickte zum Mond auf und bewunderte die kalte Schönheit dieses weißen Himmelskörpers, der sich einsam im glitzernden See widerspiegelte und zwischen den dunklen Wäldern der Nacht, die funkelnde Kontur der Wasseroberfläche, hervorhob. Seine tröstenden Strahlen fielen sanft auf meinen Strand und tauchten ihn in weiches Licht. Müde öffnete ich meinen Rucksack, nahm einen meiner Äpfel heraus und aß ihn sehr langsam.

„Nein“, sagte ich mir, „dies war keine schöne Erfahrung:
Eben erkannte ich meine Ohnmacht und verlor dadurch an Mut.
Durch meinen verloren gegangenen Mut, fühlte ich mich meiner Angst wehrlos ausgeliefert. Nun fürchte ich mich vor einer Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit weiß.“

Traurig, über meine erfolglose Tatenlosigkeit, vom Mitleid langsam ins Selbstmitleid verfallend und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, feiger, bin ich nun wieder skeptischer in meiner Hoffnung.“

Ermattet und Müde des Hoffens, legte ich mich in den Sand, ließ die seltsamen Eindrücke des Tages, wie ein Echo, verklingen und schlief schließlich in einem Strom der Bilder ein.


Ein Leben am Wasserfall

Die Sonne ging auf. Es war klarer blauer Himmel. Leise rauschten die Wellen, wenn sie sich beim Erreichen des Strandes ein letztes Mal aufblähten, um letztendlich doch nur aufzulaufen. Doch sie brachten feine Sedimente aus den Tiefen der Wasserwelt ans Tageslicht. Und kleine Schätze, angespült aus einer Welt, der Strömungen, flogen nun, in einer Welt der Winde umher. Der gegenüberliegende weiß glitzernde Wasserfall zeigte sich, in der aufgehenden Morgensonne, in erhabendem Stolz. Die spritzende Gischt, an seinem Fuße, läutete im lauten Getöse, kraftvoll und selbstsicher, ohne Scham und Muße, die lebendige Freude des Lebens an diesem Tage ein und sprudelte die Luft des Morgens und die Strahlen der Sonne, zwischen die verschlafenen Wogen des Sees.

„Die Sonne begrüßt dich und die Wassern machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und ich entledigte mich meiner Kleider. Nackt schwamm ich durch die erfrischende Kühle des Sees und näherte mich mit wachsender Vorfreude dem glitzernden Wasserfall. Ich erreichte das andere Ufer und erklomm einen warmen, glatten Felsbrocken, der mir mit seiner sanften Neigung aus dem kalten Nass, einladend, zum einfachen Aufstieg verhalf. Um den Wasserfall, bildeten aneinandergereihte Felsbrocken, eine kleine Bucht. Wie auseinandergezogene Vorhänge, teilten sich die herunterstürzenden Wassermassen in einen großen Hauptwasserfall und einen kleineren Nebenwasserfall. Dieser verfehlte den direkten Weg in den See und erschüttete sich statt dessen, wie eine große Dusche, auf einem glatten Felsplateau. Ich näherte mich dieser von Gott erschaffende Brause, stellte mich schließlich unter sie und genoss das prickelnde Gefühl der lauwarmen Massage. Langsam schritt ich näher zur Felswand und ließ den Wasserfall, über mich, seinen großen Bogen ziehen. Ich drehte mich um und beobachtete, wie die Sonne, durch die Kristalle der gläsernen Wasserfäden, ihre bunt glitzernden Strahlen brach, während sich die Konturen und Farben, der dahinterliegenden Landschaft, wabbernd verzerrten. Ein ungewöhnlicher Schatten unterbrach das Farbenspiel. Ich trat durch den Wasserfall hindurch und sah am Ufer des Sees, einige Meter vor mir entfernt, einen kaum bekleideten Mann auf einem Felsen stehend. Er stand mit dem Rücken zu mir und trug nichts, außer einen Lendenschurz und einen alten Strohhut. In seinem rechten ausgestreckten Arm hielt er einen bedrohlichen Speer, an dessen hinteren Ende, eine Schnur hing. Plötzlich warf er ihn blitzschnell vor sich ins Wasser. Ich ging langsam auf ihn zu und sah, wie der Mann seinen Speer, mit einem Fisch an der Spitze, wieder herausholte. Er drehte sich zu mir um, musterte mich einen Augenblick und wendete seinen Blick dann wieder von mir ab, um sich seinem Fang zu widmen. Ich stellte mich neben ihn auf den Felsen.

„Was tut Ihr dort?“, fragte ich ihn.

„Ich fische. Sind besonders köstlich“, antwortete er spartanisch, lege den getöteten Fisch neben sich auf den Felsen und beobachtete, ohne mich weiter zu beachten, wieder die Wasseroberfläche. Der Fisch zuckte noch ein paar Mal. Dann lag sein schuppiger Körper, silbern glänzend, in der Sonne und ein großes, totes Auge starrte mich an.

„Um selbst zu leben, musste der Mann also Fleisch essen und dafür einen Fisch töten“, dachte ich: „Und das nennt man dann also Fischen.“

Ich folgte dem Ziel seiner Blicke und sah, wie sich viele Fische am Rand des Wasserfalls im sprudelnden Wasser tummelten. Wir standen beide auf diesem Felsen und beobachteten schweigend das Geschehen.

„Die Fische töteten sich nicht gegenseitig“, dachte ich weiter. „Sie fischten nicht. Vielleicht würden sie „menschen“, wenn sie stärker wären als der Mensch, um sich von seinem Fleisch zu ernähren, um selbst zu leben.“

Ich blickte auf meinen eigenen Körper:

„Bot mein Körper, dem Fischer, nicht viel mehr Fleisch, als ein Fisch? Dennoch menschte er nicht, sondern fischte. Warum? Vielleicht lag es ja daran, dass wir uns beide mehr glichen, als ein Mensch dem Fisch. Ist es dann richtig, zu töten, was andersartig ist, aber falsch, zu töten, was gleich ist? Es scheint auf jeden Fall ein Vorteil zu sein, dem stärkeren und nicht dem schwächeren zu gleichen.“

Mir fiel auf, wie sich ebenso die sich gleichenden Fische gefunden hatten, um ihr Leben innerhalb eines Schwarmes gemeinsam zu verbringen.

„Vielleicht ist es ein Vorteil, überhaupt jemandem zu gleichen.“

Ich schaute den Fischer an, musterte seinen muskulösen Körper und seine scharfe Waffe.

„Wir sind uns nicht gleich“, überlegte ich weiter, „nur ähnlich. Ich sehe nicht genauso aus wie er und vermag nicht mit den gleichen Fähigkeiten aufzuweisen. Was würde er wohl tun, wenn er bemerkte, dass wir uns nicht glichen, sondern nur ähnlich waren? Wann würde er beginnen in mir einen Fisch zu sehen?“

Der Fischer drehte sich zu mir um und seine grün leuchtenden Augen, in seinem versteinerten Gesicht, schienen mich zu durchbohren. Dann lege sich zögernd ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht und er fragte mich freundlich, mit tiefer und ruhiger Stimme:

„Möchtet Ihr es auch einmal versuchen, Fremder?“

„Ihr fragt mich?“, reagierte ich etwas überrascht und zögerte einen Moment.

Dann begann ich allmählich zu verstehen: Er hatte wohl durchaus unsere Ungleichheit gesehen, aber auch unsere Ähnlichkeit erkannt. Es bestand also scheinbar aus seiner Sicht, zwischen uns, die Chance des Aufbaus von Gemeinsamkeiten und nun verhalf er mir, mich ihm anzugleichen. Vielleicht um zu testen, wie sehr ich für ihn Mensch oder Fisch war?
Trotz meines Bewusstseins, mit meinen Fähigkeiten und seinen Erwartungen konfrontiert worden zu sein, wagte ich, die Herausforderung anzunehmen.
Ich versuchte mich locker zu geben.

„Ja, warum eigentlich nicht“, antwortete ich.

Der Fischer überreichte mir seinen Speer und ließ mich amüsiert meine Versuche machen.
Zu dieser Zeit war ich für ihn wohl nur ein männlicher Backfisch.
Ich suchte mir einen besonders dicken Fisch aus und warf den Speer, mit aller Kraft, auf mein Ziel und voll daneben. Ich hätte schwören können, dass ich ihn hätte getroffen haben müssen.
Der Fischer bat mich um die Rückgabe des Speeres und hielt ihn dann zur Hälfte ins Wasser.
Der lange Stiel des Speeres schien unter der Wasseroberfläche einen Knick nach oben zu bekommen.

„Seht Ihr das?“, fragte er mich schmunzelnd, „die Welt unter Wasser bekommt ihr eigenes Licht. Die Oberfläche bricht die Strahlen der Sonne. Ihr müsst unter den Fisch zielen, um ihn zu treffen!“

Er drückte mir energisch seinen Speer in die Hand und forderte mich mit einem Nicken zu einem neuen Versuch auf. Und ich zielte dieses Mal unterhalb eines Fisches und traf.
Wir lachten beide und freuten uns über den Erfolg. Ein Erfolg im Lehren und Lernen und ein Erfolg im finden einer neuen Zusammengehörigkeit.
Wir wechselten uns ab und holten noch einige Fische heraus. Und wenn der eine Müde wurde, machte der andere weiter.
Bald war ich nicht mehr nur sein Schüler und er nicht mehr nur mein Lehrer, sondern wir wurden Partner, die für ein gemeinsames Ziel kämpften. Das Ziel, uns beim Fang von unserer Nahrung, gegenseitig zu unterstützen. Das Ziel, gemeinsam zu überleben.

So gut wie er, war ich natürlich nicht. Wir hatten schließlich 10 Fische gefangen. Ich konnte dabei mit einer Beteiligung von drei Fischen „glänzen“. Aber dies schien nicht wichtig zu sein, auch nicht für ihn. Vielleicht war dem Fischer bewusst, dass es auch für ihn schlechter hätte ausgehen können. Vielleicht wusste er, dass es um mehr, als den kurzfristigen eigenen Erfolg ging, denn was nützt er einem, wenn man sich dadurch eventuell zukünftigen Chancen beraubt. Vielleicht hatte er aber auch einfach eine weitsichtigere Lebenseinstellung, eine Einstellung für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden. Nun war ihm meine Gnade sicherer, falls er meine Hilfe brauchen würde, so wie ich seine Gnade erfuhr, als er mir half.

Bald holte er ein paar trockene Äste und feines Gestrüpp aus dem Wald, entzündete ein kleines Feuer und zeigte mir, wie man Fische ausnimmt. Als der Abend einbrach, saßen wir am Feuer und hielten an langen Stöcken unseren Fang in die züngelnden Flammen. Die Sonne ging unter und nahm alle Farben mit sich. Nur das Feuer glühte noch rot und ließ flackernde Schatten über die Felsen huschen. Wir aßen voller Genus den heißen Fisch und redeten bis tief in die Nacht. Er erzählte mir von seiner Frau und seinen Kindern, vom Jagen und Fischen, Überfluss und Hunger, von guten und schlechten Zeiten, Glück und Trauer, von Zeiten der Anerkennung und der Einsamkeit, untermalt vom Prasseln des Feuers und aufsteigenden Funken aus der Glut. Wie viele Dinge er in seinem Leben erlebt hatte, dachte ich mir. Manche seiner Ereignisse waren so komisch, dass ich vom vielen Lachen schon Bauchschmerzen bekommen hatte. Er gestand mir seine eigene Unvollkommenheit und war für mich damit so himmlisch menschlich. Wie hilflos er manchmal war, wenn er schwere Zeiten durchstand. Und wie wundervoll und spannend manche seiner vielen Entdeckungen über die Zusammenhänge des Lebens waren. Dann kehrte Müdigkeit ein. Die Flammen verloren an Kraft und wir rückten näher ans Feuer zusammen, um uns liegend, trotz kleiner werdenden Gezüngels, wenigstens an der ausstrahlenden Wärme der roten Glut, gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Genüsslich gesättigt, angenehm gewärmt und nicht allein, war dies eine besonders beruhigende und schöne Nacht für mich.

„Ja“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Tatendrang und meiner Neugierde, Offenheit und Vertrauen, wurde meine Neugierde befriedigt und mir Offenheit und Vertrauen geschenkt.
Durch Offenheit und gegenseitigem Vertrauen, legte sich eine Sicherheit der Zweisamkeit, über die Unsicherheit meiner Einsamkeit.“

Glücklich, über die Belohnung des erfolgreichen Sieges über meine Trägheit, glücklich, ein Geschenk einer neu gefundener Sicherheit in der Zweisamkeit empfangen zu haben und, durch das Erkennen meiner Macht, sogar unerwartete Chancen finden zu können, mutiger, bin ich nun wieder zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“

Ich drehte mich auf den Rücken, betrachtete den silbernen Mond, wie er still über uns wachte und schlief zufrieden ein.

Die Weiterreise
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren der Fischer und jegliche Spur von ihm, verschwunden. Die Welt war in diesen frühen Morgenstunden noch grau. Ein dünner Rauchfaden schlängelte sich zwischen der grauen Asche aus der verliebenden Glut in den Himmel. Vor mir spielten kleine Wellen ihr Spiel, mit den Rändern der Felsen. Der Wasserfall rauschte in befremdlicher Eintönigkeit. Eine Zeitlang hoffte ich noch, er käme zurück, aber ich wartete vergeblich. Die einzigen Stimmen, die ich manchmal unter dem Rauschen des Wasserfalles zu hören glaubte, entsprangen nur meiner Phantasie. Und so saß ich alleine, einsam und still, auf einem kleinen Felsen, in Mitten der weiten unbekannten Landschaft. Ich wartete an einem verlassenen Ort und mir wurde allmählich bewusst, dass ich wieder alleine war.

Eine kühle Brise frischte unter der grauen Wolkendecke auf und ich bekam Gänsehaut.
Nach einiger Zeit raffte ich mich dann schließlich schwermütig auf, sprang fröstelnd in das kalte Wasser und kraulte durch die grünen Luftblasen, unter den langsam schwingenden Wogen der langen großen Wellen, zurück zu jener Bucht, wo ich meinen kleinen Rucksack und meine Kleider zurück gelassen hatte. Ich erreichte nass und unterkühlt den Strand und sah meinen Rucksack neben meinen verstreuten Kleidern im Sand liegen. Erst jetzt viel mir auf, wie lieblos ich meine Sachen zurückgelassen hatte. Ich zog sie aus dem Sand und kleidete mich im kühlen Wind an. Der Himmel blieb von dünnen, grauen Wolken bedeckt und überließ die schläfrige Sonne ihrer Träume. Als ob ich Angst hätte jemanden wecken zu können, setzte ich mir leise meinen Rucksack auf, zog meinen Kragen hoch und machte mich dann still auf den Weg in Richtung des Waldes, hinter dessen Baumstämme mir der Wind nicht folgen würde und ein Blätterdach mein Schutz vor Regen war. Und so verließ ich schließlich den Hang, am höchsten Punkt der Bucht, entfloh meiner Fernsicht über die hellegraue Weite und tauchte in das dunkelgrüne Dickicht des Waldes ein, an dessen Dunkelheit sich meine Augen erst noch gewöhnen mussten.

Langsam kroch ich durch das Unterholz und ließ den See immer weiter hinter mir. Ich drehte mich nicht um. Bald erreichte ich wieder den Weg an der Stelle, an der ich ihn verließ und warf an der Wegesgabelung einen kurzen Blick in Richtung des noch immer dunklen Blättertunnels, aus der, vor noch gar nicht langer Zeit, die Pestkranken herauskamen. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich die Glöckchen hörte und dunkle Schatten aus dem schwarzen Loch zu mir ins Licht traten. Doch das Loch wartete still und ereignislos und drohte nur mit meinen Erinnerungen. Es war, als ob es auf eine kurze Unaufmerksamkeit von mir warten würde, um mich dann plötzlich wieder mit einem schrecklichen Ereignis überraschend überrumpeln zu können.
Ich entschloss dem größeren, helleren Hauptweg zu folgen und marschierte los. Immer dichter werdender Nebel legte sich über meinen Weg. Ich hörte kein Vogelgezwitscher. Außer meinen eigenen Schritten, meinem Atmen und dem typischen Knartschen der Lederriemen meines kleinen Rucksacks, hörte ich nichts. Zwischen den Baumwipfeln drang ein dunkles gleichmäßiges Licht aus dem grauen Himmel über mir und erreichte nur schwach den Boden zu meinen Füßen.

Der Bettler
Ich bewegte mich tiefer in den Nebel hinein und erahnte langsam eine Gestallt, die rechts am Wegesrand sitzend, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt war. Dieser Mensch saß dort ganz alleine. Sein Körper war in lange dunkle Tücher gehüllt und sein Gesicht unter einer Kapuze versteckt. Als ich mich ihm näherte, hob er seinen rechten Arm und streckte mir seine nach oben geöffnete Hand wie eine Schale entgegen. Seine Kapuze war so weit nach vorne gezogen, dass es mir unmöglich war, im Schatten seiner Kopfverschleierung, sein Gesicht zu erkennen. Unnachgiebig hielt er mir seinen Arm entgegen, ohne etwas zu sagen.
Ich wusste, dass er mich um eine Spende bat, doch ich wusste nicht, was ich ihm hätte geben können. Wenn ich ihm meinen letzten Apfel geschenkt hätte, wäre er um diesen Apfel reicher als ich und ich um diesen Apfel ärmer als er geworden. Hätte ich mit ihm meinen Platz tauschen sollen? War mein kleiner Apfel nicht die einzige Sicherheit für diesen Tag, die ich noch hatte? Ich wendete mich von ihm ab und ließ ihn, an seinen Baum sitzend, im Nebel alleine. Ich schämte mich. Die Last meines Rucksackes erschien mir schwerer zu werden, meine Schritte wurden schleppender und mir wurde leicht schwindelig.

Unbekannte Früchte
Bald erschien auf der linken Seite meines Weges ein kleiner Gemüsestand. Hinter einem niedrigen Holztisch saß eine Frau und schaute mich auffordernd an. Vor ihr lagen, in kleinen Flechtkörben sortiert, Auberginen zum Verkauf bereit. Noch nie hatte ich Auberginen gesehen. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen. Und so schlurfte ich schweren Schrittes weiter meines Weges und ließ auch sie zurück.

Dann kam ich an einen zweiten kleinen Gemüsestand, ebenfalls zur Linken meines Weges. Auch hier saß jemand hinter einem kleinen Holztisch. Vor ihm stapelten sich in flachen Holzkisten, leuchtend rote und fast runde Tomaten. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen.

„Welch Vielfalt es doch gibt“, dachte ich mir und ging einerseits erfreut über die schöne Erfahrung über die Vielfalt, doch anderseits traurig über meinen Ausschluss an der Teilnahme dieses Lebensspiels, langsam weiter.

„Hey,“ rief mich jemand von hinten, „fang auf!“

Ich drehte mich um. Der Mann hinter dem Tomatenstand war aufgestanden und warf mir augenblicklich eine seiner Tomaten zu. Ich fing sie auf und hielt diese kostbare rote Murmel in meinen Händen. Ich lächelte ihm zu und versuchte, so deutlich es ging, ihm meine Freude über sein Geschenk, dankend, mit einer Armbewegung, zu zeigen. Ich biss erwartungsvoll in das rote Fleisch der Tomate und versuchte, so intensiv wie möglich, alle Geschmacksreize wahrzunehmen, um den herrlichen Saft in seiner Vollkommenheit zu kosten.


Gnadenlos
Schließlich ging ich weiter. Aber es fiel mir immer schwerer. Bald war mir so schwindelig und ich fühlte mich so schwach, dass ich mich an einen Baum setzen musste, um zu pausieren. Mir wurde abwechselnd warm und kalt. Meine Füße schienen nach oben schweben zu wollen.

„Was ist nur los mit mir?“, fragte ich mich. „Bin ich etwa krank geworden?“

Wie vom Blitz getroffen, durchfuhr mich eine schreckliche Ahnung:

„Hatte ich mich bei den Aussätzigen angesteckt? Hatte ich die Pest?“

Ich versuchte meinen Körper nach irgendwelchen ungewöhnlichen Merkmalen zu untersuchen, aber meine Sinne waren inzwischen zu sehr getrübt, um mir einen klaren Eindruck über mich verschaffen zu können und meine, bei jeder Bewegung schmerzenden Glieder, ließen mich bald meine Selbstanalyseversuche aufgeben.

„Du musst weitergehen!“, ermahnte ich mich und zog mich am Baumstamm hoch.

Ich fühlte mich elendig. Langsam schlurfte ich weiter und hustete immer wieder irgend etwas Schleimiges aus. Alles begann sich um mich zu drehen. Ich verlor mein Gleichgewicht und viel der Länge nach auf den Boden in den Matsch. Erneut kroch ich zum nächsten Baumstamm und versuchte mich auf einen Punkt, in der sich um mich drehenden Welt, zu konzentrieren. Wieder saß ich, mit meinem Rücken gegen einen Baum gelehnt, am Wegesrand.

„Du musst etwas essen“, sagte ich mir.

Ich griff in meinen Rucksack und holte meinen letzten Apfel heraus. Es fiel mir schwer, das scheinbar hohe Gewicht des Apfels zu heben. Ich setzte ihn an meinen Mund an, doch es fehlte mir die Kraft, in ihn hineinbeißen zu können. Dann fiel er mir aus der Hand und rollte davon. Mir wurde bitter kalt. Ich versuchte, so gut es ging, mich in meinem Hemd zu verstecken und kauerte mich zusammen.
Plötzlich kam eine kleine Gruppe von drei fröhlichen Menschen an mir vorbei. Sie schienen gut gekleidet zu sein und wurden durch meinen Anblick in ihrem lauten Lachen kurz unterbrochen. Ich streckte meinen rechten Arm und hielt ihnen meine nach oben geöffnete Hand, fast wie eine Schale, entgegen, auf dass sie meine Hand ergreifen würden, um mir zu helfen. Ich versuchte sie anzusprechen, doch mein Hals war so zugeschnürt, dass ich es nicht vermochte, auch nur einen Ton herauszubringen. Einen kurzen Moment lang sahen sie mich überrascht an. Dann begann einer von ihnen die Stille durch einen Spruch zu unterbrechen und regte die anderen hierdurch zum Lachen an. Sie gingen fort und verließen meine Welt ebenso laut, wie sie gekommen waren.
Ich ließ meinen Arm fallen.
Ruhig hörte ich der Stille zu und lauschte meinem schweren Atem. Ab und zu verlangsamte sich die Drehung meiner Welt und kam zum Stillstand. Mein Arm lag erschlafft neben meinen Beinen auf dem feuchten, kalten Boden. Meine Kleidung war dreckig und bedeckt von Matsch. Ich schaute auf meine noch immer geöffnete, zitternde Hand.

„Natürlich!“, leuchtete es mir ein, „ich musste für sie nicht anders ausgesehen haben, als der Bettler, den ich vorhin am Wegesrand seinem Schicksal überließ.“

Und mir wurde plötzlich bitterlich bewusst, dass ich wohlmöglich keinen Bettler, sondern einen um Hilfe bittenden Kranken zurückgelassen hatte. Was ich möglicherweise ihm angetan hatte, passierte nun mir. Nun ging es mir richtig dreckig.

Bald kam ein Wandersmann des Weges. Auch er hielt bei meinem Anblick für kurze Zeit inne. Ich ließ mich nach vorne fallen und versuchte ihm entgegen zu kriechen, blieb aber kraftlos liegen. Der Wandersmann wich zurück und wechselte schnell die Wegesseite. Dann ging auch er fort und ließ mich zurück.

„Soll dies nun das Ende meines Lebens sein?“, fragte ich mich. „So weit bin ich gekommen und nun, noch kurz bevor ich meine vier Wochen des Lebens erreicht habe, bin ich gezwungen zu verlieren. Hatte der alte Mann in Eden doch recht und Gewinnen ist letztendlich unmöglich?“

„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an seine Worte.

„Nein“, sagte ich mir, „diese letzte Erfahrung meines Lebens, war keine Schöne:
Durch meine Unfähigkeit mir selbst helfen zu können, erkannte ich meine Ohnmacht.
Ich fand nichts, was mir Sicherheit gab. Weder eine Sicherheit für mein Leben, noch eine Sicherheit in meinen Entscheidungen.
Was nützten mir die kurzfristigen Erfolge, die mir keine zukünftigen Chancen boten? Wo hatte ich Gnade gezeigt und wo blieb die der anderen, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade, letztendlich, in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden?
Ich fürchtete in meiner Vergangenheit zu Recht eine Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit gefunden hatte und erlag nun meiner vorauszusehenden Aussichtslosigkeit.
Traurig, über mein erfolgloses Leben, ins Selbstmitleid verfallen und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, stagniert, bin ich nun ohne jede Hoffnung.“

Meine Sinne schwanden und langsam begannen sich die Konturen meiner Umgebung aufzulösen. Die Nebel begannen sich um mich zu drehen. Schatten wurden zur Dunkelheit und ich stürzte in einen Strudel der Schwärze, durch einen Tunnel zum Licht.

Das Dorf
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines kleinen dunklen Raumes, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt lag ich barfuss und so leicht bekleidet in einem Bett, dass ich mein weiches Gewand, auf meiner Haut, kaum fühlen konnte. Ich empfand die weiße Bettdecke, über meinem sauberen Körper, als angenehm wärmend. Langsam erkannte ich vor mir ein kleines Flügelfenster, an dessen Seiten weiße Vorhänge bis zum Boden reichten. Links davon befand sich eine kleine Tür.
Die morgendliche Sonne floss sanft durch das kleine Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Das kleine Fenster war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinter liegenden Veranda, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die weißen Vorhänge leise und sanft nach außen schwingen.
Eine Frau in einem langen weißen Gewand beugte sich über mich und tupfte, mit einem kühlen, nassen Tuch, meine Stirn ab.

„Bin ich wieder im Garten Eden?“, fragte ich sie leise.

Sie setzte sich rechts von mir auf einen kleinen Hocker.
„Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht“, antwortete sie mit lieblicher Stimme und schenkte mir ein gütiges Lächeln.

„Wo bin ich dann? Wie komme ich hierher?“, stutzte ich.

„Ein Mann aus unserem Dorf hat euch unweit unseres Hauses auf dem Boden liegend gefunden. Ihr ward sehr krank und hattet Fieber. Vielleicht eine Infektion. Der Rat der drei Weisen entschied sich, euch vorübergehend bei uns aufzunehmen und gab mir die Ehre, die Verantwortung übernehmen zu dürfen, euch gesund zu pflegen.“

Sie griff zum Nachttisch neben dem Bett und reichte mir eine kleine Schale mit köstlich duftender Suppe. Ein großer Silberlöffel lag darin zum zugreifen bereit.

„Diese Kartoffelsuppe wird euch wieder Kraft geben“, untermauerte sie ihre Handlung. „Esst, aber seid vorsichtig, sie ist heiß!“

Sie unterstützte mich leicht mit ihrem freien linken Arm unter meinem Nacken. Ich setzte mich aufrecht hin und blickte in die klare Brühe der Schale. Mir fielen darin die kleinen gelben Stückchen auf.

„Kartoffeln?“, fragte ich sie und zeigte ihr ungehemmt meine Unwissenheit.

„Kartoffeln! – von unseren Feldern!“, antwortete sie etwas verwundert über meine Frage.

Kleinlaut äußerte ich die nächste Frage: „Felder?“

Sie schaute mich einfach nur an. Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, ob ich die Frage ernst meinte.
Ich nahm den Löffel in die Hand und schlürfte vorsichtig die heiße Suppe. Noch nie hatte ich etwas so köstliches gegessen. In meinen Gedanken wiederholte ich ihre Erklärung und bemühte meine Phantasie, mir irgendein Bild von ihrer Erklärung zu machen: „Kartoffeln! - von unseren Feldern! Soso.“

Ich merkte, wie sich mein Hunger langsam legte.

„Wieso hatte mich dieser Mann gerettet?“, schmatzte ich, bevor ich meine Suppe im Mund ausreichend heruntergeschluckt hatte. „Alle anderen gingen an mir vorbei.“

„Ja, es ist verständlich, dass ihr euch dieses fragt“, antwortete sie. „Der Mann, der euch fand, ist sich selbst und der Gemeinschaft natürlich wichtiger als ihr. Er war jedoch der Meinung, dass ihr dringender Hilfe brauchtet, als er selbst. Zu helfen, ist bei uns etwas Ehrenvolles. Er wusste, sich um euch zu bemühen, würde ihm zu mehr Ehre in der Gemeinschaft verhelfen.“

„Ist Ehre denn so wichtig?“, hakte ich nach.

Sie versuchte es mir zu erklären: „Um so ehrenvoller jemand ist, desto wichtiger ist er für die Gemeinschaft und um so wichtiger jemand in der Gemeinschaft ist, desto mehr Hilfe kann er aus dieser erwarten, denn die drei Weisen beschließen für die Gemeinschaft vorrangig zuerst das zu tun, was am wichtigsten ist. So wird auch von der Gemeinschaft erst dem geholfen, der am wichtigsten ist. Wichtiger als das wichtigste ist nur, was dringender ist, solange das ansonsten wichtigste nicht durch seine zurückgesetzte Priorität gefährdet ist.“

Sie schaute mich prüfend an und versuchte aus meinen Augen abzulesen, ob ich sie richtig verstanden hätte. Dann suchte sie nach einfacheren Worten:

„Die Gemeinschaft konnte es sich eben leisten, sich um euren dringen Fall zu kümmern, ohne wichtiges für uns zu gefährden. Da ich zur Zeit von allen am wenigsten Hilfe benötige, wurde mir die Ehre erteilt, euch pflegen zu dürfen. So verdanke ich euch meinen Zuwachs an Ehre. Die Hilfe der Gemeinschaft wird mir gewisser.“

„Wer ist denn der wichtigste?“, frage ich sie nach einer längeren Denkpause.

„Der Einzelne ist sich selbst wichtiger als ein Anderer, denn der Einzelne kann dem anderen nicht helfen, wenn er selbst mehr Hilfe braucht, als dieser. Wichtiger als man selbst, ist für den Einzelnen jedoch die Gemeinschaft. Jeder Einzelne würde sich für die Gemeinschaft opfern, wenn dieses Opfer der Gemeinschaft helfen würde.
Aus Sicht der Gemeinschaft, ist es genau umgekehrt. Das wichtigste für die Gemeinschaft ist, der Einzelne. Die Gemeinschaft würde sich für den einzelnen opfern, wenn dieses Opfer dem Einzelnen hilft. So ist für die Gemeinschaft die Minderheit wichtiger, als die Mehrheit und der Einzelne wichtiger als die Minderheit, denn jede noch so große Gemeinschaft ist nur das Ergebnis der Verhaltenweisen aller Einzelner. Wir glauben, eine Gemeinschaft muss sich an seinem Umgang mit seiner Minderheit messen lassen“, erklärte sie.

„Und wer sind die drei Weisen?“, hakte ich weiter nach.

„Die drei Weisen sind die Einzelnen, die in der Gemeinschaft die höchste Ehre erreichten und die Anlaufstelle aller Informationen sind. Sie können daher am besten übersehen, wer und was das wichtigste für die Gemeinschaft ist, was entsprechend vorrangig getan werden sollte, welches das wichtigste Ziel ist und nicht gefährdet werden darf, wem vorrangig geholfen werden sollte und wer gerade am besten seine Hilfe zur Verfügung stellen könnte. Letztendlich stimmen wir dann ab. Da die Weisen durch ihr Amt nicht mehr selbst helfen können, behalten sie ihr Amt nicht auf Dauer, sondern geben früher oder später ihr Amt jeweils an einen nächsten ab, der mehr Ehre erlangt hat, als sie selbst. Sie sind nicht völlig frei in ihren Entscheidungen, denn auch sie haben sich an Leitlinien zu halten, wie jeder andere. Leitlinien entstehen durch die Gemeinschaft und durch sie werden sie auch verändert.“

„Leitlinien? Ihr meint die Regeln des Dorfes, nach denen ihr lebt?“

„Es gibt keine Regeln mehr, denn Regeln neigen dazu, irgendwann nur noch ihrer selbst zu existieren, ohne einen Sinn für das Leben zu haben. Wenn eine grundsätzliche Regel, gedacht für das Wohl der Gemeinschaft, sich in den meisten Einzelfällen als sinnlos herausstellt, wird die Regel automatisch wieder gestrichen. Die Bedeutung von Einzelfällen wird höher erachtet, als Grundsätzlichkeiten. Damit es überhaupt möglich ist, herauszufinden, ob Regeln sinnvoll sind, darf man sie jederzeit brechen. So darf jeder ungestraft eine Regel brechen, wenn er in einem Einzelfall eine Regel für sinnlos hält. Allerdings trägt man dann auch die Verantwortung dafür, falls man, durch einen Bruch einer grundsätzlichen Regel, der Gemeinschaft oder einem anderen, einen Schaden zugefügt hat, der, bei Beachtung der Regel, nicht eingetreten wäre. Auch in guter Absicht kann man sich demnach der Fehleinschätzung strafbar machen. Es ist also wichtig, alle Regeln mit Bedacht zu verwenden. Regeln wurden somit zu Leitlinien, denn neue Erfahrungen und jeweilige Lebenssituationen verändern sie und es gibt keinen Zwang ihrer Befolgung.
Leitlinien sind nun unser roter Faden. Sie geben uns Hilfe für Entscheidungen zum Wohle aller. Schließlich kommt es nicht auf die Einhaltung einer Regel an, sondern auf die dahinterliegende Absicht jeder Regelidee. Es ist eben nicht möglich, eine Verhaltensregel für einen Grundgedanken so zu formulieren, dass diese, in allen möglichen Lebenssituationen auch sinnvoll ist. Manchmal dient es einem Grundgedanken nicht, sich an eine Regel zu halten. Manchmal würde ein Halten an Regeln dem Grundgedanke sogar widersprechen. Sich an eine Regel zu halten kann zuweilen mehr Schaden anrichten, als eine Regel zu brechen. Wichtig ist der dahinterliegende Grundgedanke, also die Absicht hinter einer Regel. Regeln zwingen einen häufig zu unsinnigem Handeln, Leitlinien helfen uns zu überlegtem, verantwortungsbewusstem und sinnvollem Handeln.“

„Ist es dann nicht für den Einzelnen möglich, die Gemeinschaft für seinen eigenen Vorteil auszunutzen?“, äußerte ich kritisch.

„Falls jemand in böser Absicht, zu seinem Vorteil, einem anderen Einzelnen oder der Gemeinschaft, Schaden zufügt, riskiert er entehrt zu werden.“

Ich löffelte meine Suppe aus und leerte die Schale bis zum letzten Tropfen. Die Suppe war wirklich sehr lecker gewesen. Schließlich stellte ich die Schale auf den Nachttisch neben mich.

„Sag mir bitte, gibt es in eurer Gemeinschaft, wo die Gemeinschaft für den einzelnen das wichtigste sein soll, überhaupt noch einen Spielraum für Individualismus?“, provozierte ich sie absichtlich.

Ich wollte verstehen, wo sich ihre Lebensweise von anderen abgrenzt und welche Nachteile es aus diesen Vorteilen zu tolerieren gilt. Denn nur, wenn ich die Grenzen zu alternativen „Puzzleteilen“ zu sehen vermag, wenn ich die Silhouetten im Gefüge der Ganzheit erkenne, kann ich das Einzelne durch Differenzierung zum anderen vergleichen und verstehen. Nur so bin ich in der Lage etwas für mich zu beurteilen und gegebenenfalls eine Entscheidung zu treffen. Alles wird eben durch seine Grenze zum anderen definiert. So kritisierte ich absichtlich provokativ ihre Lebensweise und wartete auf eine erklärende Rechtfertigung, die mir hilft zu verstehen. Gemeinschaft und Individualismus ist doch ein Widerspruch in sich selbst, nicht war? Die „Nuss“ muss sie erst einmal knacken. Wie würde sie mit diesem Widerspruch umgehen? Ich wartete gespannt auf die Reaktion meiner Kritik.

Sie grinste mich an. Offenbar hatte sie mich durchschaut und mit dieser typischen Kritik gerechnet. Es gefiel mir, dass sie grinste, zeigte es mir doch, dass sie sich über viele Dinge Gedanken gemacht hatte und ich warte gespannt auf ihre Lösung dieses Konfliktes.

„Für uns ist Vielfalt wichtiger als Gleichheit“, antwortete sie verblüffend einfach. „Wir gehen davon aus, das jeder Mensch und jedes Wesen, über besondere einmalige Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, die mindestens einer, früher oder später, benötigt. Niemand ist nutzlos und niemand auf Dauer unabhängig von anderen. So ist die Natur. Das ist das Prinzip der Symbiose. Wir Menschen können uns darüber weitsichtige Gedanken machen. Sie funktioniert um so besser, desto vielfältiger das Ganze durch seine Einzelteile ist.
Stellt euch vor, ihr hättet ein Puzzle in einer festgelegten Größe. Wenn dieses Puzzle nur zehn Teile hätte und ihr würdet ein Teil herausnehmen, so gäbe es ein sehr großes Loch. Bestände das Puzzle jedoch aus Tausend Teilen, würde die Herausnahme eines Teiles nur ein sehr kleines Loch zur Folge haben. Da es niemanden gibt, der alles kann und auch niemand so sein kann, wie ein anderer, ist es also sinnvoll und am besten, möglichst unterschiedliche Personen zu haben.

Niemand weiß, was kommt und was man brauchen wird. Nicht selten gibt oder bekommt man etwas, ohne das es einem bewusst wird. Oft kann man erst nicht erkennen, wofür etwas gut ist. Keiner kann letztendlich mit Sicherheit sagen, weshalb sich das eine oder andere gerade in eine bestimmte Richtung entwickelt. Zu komplex sind die sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhänge der Kleinigkeiten, die in ihrem Zusammenspiel manchmal so große Wirkungen haben. Sicher kann man nur sagen, dass alles, früher oder später, eine Rolle spielen wird. Also kommt man zum Schluss, um so individueller der Einzelne in einer Gemeinschaft ist, desto besser.
So ist es im Interesse der Gemeinschaft, jedem Einzelnen bei der Suche zu helfen, sich selbst, seine Stärken und Schwächen, eben seine ganz eigenen Begabungen und Schwierigkeiten, zu finden. In dieser Zeit braucht der Einzelne natürlich Zeit für sich und manchmal die Hilfe der anderen. Früher oder später wird dieser jedoch seine Begabungen gefunden und entwickelt haben. Eines Tages wird er vielleicht sogar der einzige sein, der ausschließlich mit seinen Eigenschaften jemand anderem helfen kann.“

„Moment mal, manchmal muss es doch besonders dringende Fälle geben! Da kann sich der Individualist doch nicht einfach der Gemeinschaft entziehen!“, warf ich ein.

Sie nickte mit dem Kopf: „Der lernende Individualist, wie jedes Kind, ist vielleicht mehr auf Hilfe angewiesen, als er zu Helfen vermag, daher wird er meistens auch als letztes behelligt, die Ehre zu erhalten, anderen zu helfen. In dringenden Fällen erhält er jedoch die Chance, im Rahmen seiner Möglichkeiten, durch sein Helfen, mehr Ehre zu erlangen, um sich somit für die Zukunft der Hilfe anderer wertvoller zu erweisen. Möglicherweise geht es ja sogar um den existentiellen Erhalt der Gemeinschaft, von der er profitiert. Es ist zwar klug, sich zurück zu ziehen, um sich auf sich selbst zu besinnen und zu finden, aber es wäre dumm, tatenlos zu bleiben und andere in Ihrer Not alleine zu lassen, um den Verfall und das Ende desjenigen oder derjenigen zu sehen, dessen Hilfe man später direkt oder indirekt benötigt. Schließlich solltet ihr nie vergessen: Selbst, wenn ihr glaubt, für euch wäre jemand überflüssig, ein anderer braucht ihn vielleicht, um euch eines Tages helfen zu können. Oder wollt ihr vielleicht behaupten, ihr wüsstest immer, wer euch eines Tages helfen wird und wen dieser für sein Leben benötigte? Wer kann schon für sich selbst sagen, welcher Hilfe er eines Tages bedarf?
Was würde euch ein kurzfristiger Erfolg nützen, wenn ihr euch letztendlich, durch diesen Erfolg, eurer zukünftigen Chancen beraubtet? Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen sollen, ist Gnade wichtiger als Vorrecht.“

Ich erschrak, denn diese letzte Aussage kam mir sehr bekannt vor.
So zögerte ich einen Moment, doch eine letzte Frage musste ich noch stellen:

„Welche Hilfe bietet denn schon ein Musiker, Schauspieler oder Künstler? Nicht jeder findet seine Begabung als Arzt, kann andere gesund pflegen, ist vielleicht in der Lage, so eine leckere Suppe für jemanden zu kochen, ist ein guter Verkäufer oder kann so ein prachtvolles Bett bauen, wie dieses, in dem ich liege. Ist man nicht mit einer falschen Begabung dazu verdammt, ehrenlos zu bleiben?“

„Aber nein!“, warf sie ein. „Was glaubst ihr, von wem sich der Tischler die Inspirationen für die wunderschönen Drechselarbeiten an diesem Bett geholt hat? Er hat sicherlich so manches Bild und viele unserer Staturen der Künstler bewundert und trillerte während seiner Arbeit fröhlich ein Lied von unseren Musikern. Die Theaterspieler und Philosophen regen uns zum nachdenken an und verhelfen uns zu besseren Entscheidungen. Ohne Freude und Inspiration kann niemand schöpferisch sein oder hätte die Kraft, anderen zu nutzen. Kunst ist nicht weniger wichtig als Wirtschaft, im Gegenteil, denn ohne Gedanken, Produktion und Dienstleistung, gäbe es nicht den Indikator Tausch. Alles ist letztendlich notwendig, wie verrückt es anfangs auch erscheinen mag. Das ist eben das Gesetzt der Symbiose, die es ohne die Vielfalt nicht gäbe.
Was würde euch ein schneller Erfolg beim Bau eines Hauses nützen, wenn ihr hierfür auf ein solides Fundament verzichtet hättet?
Was nützt euch der Gewinn einer Schlacht, wenn ihr den Krieg verliert?
Man muss das Kalb eben erst groß ziehen, bevor man es melken kann.
Vergesst nicht, Erfolg liegt in der Weitsicht und Geduld, denn kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn ihr euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen können.“

Sie schaute mich immer noch freundlich an, lächelte und wirkte ehrlich glücklich.
Dann nahm sie meinen Teller vom Nachtschrank und verließ den Raum durch eine kleine, mit Schnitzereien geschmückte, Holztür und ging in einen anderen mir unbekannten Raum.
Eine Zeitlang starrte ich noch auf diese Tür, dann ließ ich meine Blicke im Raum umherschweifen, bis ich meine Aufmerksamkeit auf mich selbst lenkte. Ich analysierte mit einigen Bewegungen meinen Körper und kam schließlich zu dem Entschluss, dass es mir gesundheitlich eigentlich wieder recht gut ging. Plötzlich sprang die verzierte Tür auf, meine Pflegerin kam heraus und huschte, mir ein kurzes Lächeln zuwerfend, aus der Eingangstür neben dem Fenster ins Freie hinaus. Nun ja, ein wenig gehetzt sah sie aus. Sie hatte die Tür hinter sich nicht richtig verschlossen und so öffnete sie sich wieder und ich erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende Holzveranda, deren geschwungenes Geländer eine Linie vor dem Hintergrund des grünen Waldes bildete. Der Himmel darüber war strahlend blau und die morgendliche Sonne schien mir plötzlich alle schweren Gedanken zu vertreiben.
Wie friedlich es hier war.

„Die Sonne begrüßt dich und die Türe macht für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so stand ich auf. Ich entdeckte neben meinem Bett frische Kleidung, die mir die Frau neben dem Bett bereit gelegt hatte. Als ich sie anzog, entdeckte ich einen kleinen Spiegel hinter dem Bett. Ich ging auf ihn zu, betrachtete mein Spiegelbild und musste erst einmal lachen. Ich sah aus, wie ein eingelaufener Cowboy in zu großen Kleidern. Ansonsten aber sehr schick. Einzig der braune Wildlederhut passte wie angegossen. Noch etwas wackelig auf den Beinen, ging ich zur geöffneten Tür.

Noch kurz bevor ich die Veranda betrat, blicke ich nach links auf ein Schriftstück, das neben der Tür angeschlagen war. Eigentlich waren es drei Schriftstücke, doch sie schienen, wenn auch in etwas unterschiedlicher Interpretation, selbiges zu zitieren und auf das gleiche Wesentliche hinzuweisen:


„Ich bin jetzt auf dem Weg zu dir. Ich bleibe nicht länger in der Welt, aber sie bleiben in der Welt. Heiliger Vater, bewahre sie in deiner göttlichen Gegenwart, die ich ihnen vermitteln durfte, damit sie eins sind, so wie du und ich eins sind.
Solange ich bei ihnen war, habe ich sie in deiner göttlichen Gegenwart beschützt und bewahrt. Keiner von ihnen ist verloren gegangen, nur der eine, der verloren gehen musste, damit die Voraussage der Heiligen Schriften in Erfüllung ging.
Und jetzt bin ich auf dem Weg zu dir. Ich sage dies alles, solange ich noch bei ihnen in der Welt bin, damit meine Freude ihnen in ganzer Fülle zuteil wird.
Ich habe ihnen dein Wort weitergesagt. Deshalb hasst sie die Welt, denn sie gehören nicht zu ihr, ebenso wie ich nicht zu ihr gehöre.
Ich bitte dich nicht, sie aus der Welt wegzunehmen, aber sie vor dem Bösen in Schutz zu nehmen.
Sie gehören nicht zu dieser Welt, so wie ich nicht zu ihr gehöre.
Lass sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und weihe sie dadurch zum Dienst. Dein Wort erschließt diese Wirklichkeit.
Ich sende sie in die Welt, wie du mich in die Welt gesandt hast.
Ich weihe mein Leben für sie zum Opfer, damit sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und zum Dienst geweiht sind.
Ich bete nicht nur für sie, sondern auch für alle, die durch ihr Wort von mir hören und zum Glauben an mich kommen werden.
Ich bete darum, dass sie alle eins seien, so wie du in mir bist, Vater, und ich in dir. So wie wir sollen auch sie in uns eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die gleiche Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, so wie du und ich.
Ich leben in ihnen und du lebst in mir; so sollen auch sie vollkommen eins sein, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und dass du sie, die zu mir gehören, ebenso liebst wie mich.“



„Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.
Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkennen, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.“



„Ich bete für sie alle, dass sie eins sind, so wie du und ich eins sind, Vater - damit sie in uns eins sind, so wie du in mir bist und ich in dir bin und die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die Herrlichkeit geschenkt, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind –
ich in ihnen und du in mir, damit sie alle zur Einheit vollendet werden. Dann wird die Welt wissen, dass du mich gesandt hast, und wird begreifen, dass du sie liebst, wie du mich liebst.“



Hier wurde ein Mann zitiert, der sich in dieser Welt als einen Fremden betrachtete und von einer Erkenntnis erzählte. Eine Erkenntnis, die aus seiner Sicht jeden betreffen müsste. Eine Erkenntnis über eine tatsächliche Wirklichkeit, in der alles Eins wäre, in der also alles untrennbare Teile einer einzigen Einheit wären. Es wäre ja möglich, dass wir nur zu unvollkommen in unserer Wahrnehmung sind, um diesen Zusammenhang zu erblicken. Wer dieses jedoch sehen konnte, der müsste zum logischen Schluss kommen, das die Einheit seine eigenen Teile eigentlich nur lieben konnte und es entsprechen sinnvoll wäre, wenn sich auch die Teile gegenseitig und diese natürlich die gesamte Einheit, lieben würden, damit die Einheit, die wir ja dann alle zusammen wären, überhaupt sinnvoll und als Ganzes funktionieren kann. Alles andere wäre logischer weise absurd. Und ich schaute auf meinen Körper und vertiefte meine Gedanken. Würden zum Beispiel meine eigenen Zellen gegeneinander und gegen meinen Körper rebellieren, so würde ich krank werden und davon hätten meine Zellen schließlich auch keinen Vorteil, da sie von meinem Körper abhängig sind. Doch warum fehlte uns dann die Wahrnehmung für das Ganze? Warum sahen wir dann nicht, dass alles nur eins ist? Welchen Vorteil gibt es für eine Einheit, durch uns mit einer scheinbaren Vielfalt zu spielen? Wofür existiert die scheinbare Vielfalt? Dient sie, vielleicht wie Bauklötze, dem Akt der Schöpfung? Ist die Komplexität der vielfältigen Bedeutungen zwischen den Teile der Einheit so groß, dass hierin, für Teile wie uns, die Unfähigkeit begründet liegt, die Wahrheit über das Gesamte zu erkennen, was wir gemeinsam bilden? Da ich hier drei Zitate sah, ging ich davon aus, dass diese möglicherweise als Grundlage für eine Diskussion gedacht waren. Mir gefiel, dass sich diese Menschen mit solchen Grundgedanken auseinander setzten, denn wenn unsere Realität tatsächlich auf dieser oder einer ähnlichen Wahrheit beruhen würden, könnte dies einen bedeutenden Einfluss auf eine Überdenkung unserer Handlungsziele zur Folge haben.

Ich drehte mich wieder zur Tür, schob sie weit auf, betrat die große Veranda und atmete, erst vorsichtig und dann ganz tief, die wundervolle frische Morgenluft ein. Auf der Veranda standen ein Holztisch mit Stühlen und ein Schaukelstuhl. Außer mir, war niemand dort.
Ich stützte meine Hände auf das hölzerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die Wiese bis hin zum Wald schweifen.

„Dies, ist das Leben“, wusste ich.

Dann vielen mir laute Rufe und Gesänge auf. Irgendwoher kam Musik. Ich beschloss den Klängen nach zu gehen und stieg eine kleine Treppe von der Veranda hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den kleinen Hausweg und streifte barfuss durch den Morgentau des Grases, bis ich neben dem Haus auf einen großen Marktplatz einsehen konnte. Dieser Platz war umringt von vielen kleinen Fachwerkhäusern mit reetgedeckten Dächern. Ihre Fassaden waren mit bunten Bildern und Schnitzereien geschmückt. In der Mitte des Platzes stand ein hoher grüner Baum nebst einem großen Steinbrunnen. Auf dem Platz standen verschiedene Staturen und wunderschöne bunte Plastiken. Hinter dem Baum spielte eine Kapelle und die meisten Menschen tanzten und lachten. Nur ein Liebespaar schien sich gerade über irgendetwas zu streiten. Einige Kinder tobten um den Baum oder Brunnen herum und spielten fangen oder saßen auf dem Baum und sangen die Lieder der Musiker mit. Andere saßen auf dem Boden und malten oder schrieben etwas in den Sand.

Ich näherte mich den Zeichnungen im Sand. Einige Kinder waren vielleicht erst vier Jahre alt, konnten aber schon schreiben und rechnen. Sie machten es ihren Eltern nach. Es war für sie eine Ehre, anderen helfen zu können und so halfen sich auch schon die kleinen Kinder gegenseitig und brachten sich alles gegenseitig bei. So wuchs bereits die Ehre der Kinder.


An dem Baumstamm hing eine kleine Tafel. Ich ging hin und las, was dort geschrieben stand:


Wichtig ist das Wohl.
Wichtiges hat Vorrang vor Unwichtigem.
Dringenderes hat Vorrang vor Wichtigem, solange das Wichtige nicht gefährdet wird.
Das Wohl der Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen, sowie das Wohl des Einzelnen auch das Wohl der Gemeinschaft ist.
Für den Einzelnen ist das Wohl der Gemeinschaft das wichtigste.
Für die Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen das wichtigste.
Für die Gemeinschaft ist der Einzelne wichtiger als Minderheiten und Minderheiten wichtiger als die Mehrheit.

Ihr könnt dem anderen nur so weit ein ehrenwerter Helfer sein, wie Ihr Euch selbst Ehrenwert seid. So erlangt Eure Ehre.

Ehre sei dem, der Gnade hat, denn Gnade ist wichtiger als Recht.

Ehre sei dem, der anderen hilft seine einzigartigen Begabungen zu finden, welche sie auch sei, für wen sie auch sei, zum Wohle aller. Denn die Vielfalt ist das Vollkommene Ganze der unvollkommenden Einzigartigkeiten. So suchet nach der einzigartigen Begabungen jedes Einzelnen, derer jeder gebraucht wird.

Suchet und ihr werdet finden,
sähet und es wird wachsen,
habet Geduld und es wird vollendet,
bittet und es wird Euch gegeben,
bedenket der letztendlichen Schöpfungskraft in der Symbiose.

Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Leben.
Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Schöpfung.
Schöpfung ist Leben, wie Leben Schöpfung ist.
Ehre sei dem, der die Vielfalt unterstützt, denn er unterstützt die Schöpfung.
Ehre sei dem, der zum Wohle erschafft, denn er erschafft Leben.
Ehre sei dem, wer von dem gibt, was er erschaffen hat, zum Wohle aller, die da Eins sind, um den Prozess der Schöpfung fortzusetzen, mehr aus uns heraus zu werden, als wir sind, im Sinne Genesis.

Vielseitigkeit ist wichtiger als Einseitigkeit, denn sie schützt die Symbiose bei fehlender Vielfalt.
Ehre sei dem, der die Vielseitigkeit unterstützt, denn er unterstützt die Symbiose.

Kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn Ihr Euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt.
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.

Wohl dem, der Ehre hat, denn er ist wichtig für alle.



Irgend etwas berührte mich am Bein. Ich drehte mich nach links unten und sah, wie mich ein kleines Mädchen mit sehr großen Augen neugierig ansah:

„Seid ihr der kranke Fremde aus dem Wald?“, grinste sie mich an.

„Ja, der bin ich wohl. Dank der Menschen in diesem Dorf bin ich jedoch glücklicherweise wieder gesund“, erwiderte ich.

„Wo kommt ihr denn her?“, fragte sie weiter und lächelte neugierig.

Ich musste einen kurzen Moment nachdenken: „Aus Eden.“

„Ist das sehr weit weg?“

„Manchmal schon“, gab ich zurück, „Und wo kommt ihr her? Lebt ihr mit euren Eltern in diesem Dorf?“

„Ja natürlich. Schon mein ganzes Leben lang.“

Ich musste grinsen: „Wie alt seid ihr denn?“

„Ich bin fast sieben.“ Stolz sprühte aus ihren Augen.

Ich nutzte die Gelegenheit, um mehr über die Lebensart der Dorfgemeinschaft zu erfahren:

„Sind das Eure Leitlinien?“, fragte ich und zeigte auf die Tafel am Baumstamm.

„Nein, diese sind unsere Absichten. Unsere Leitlinien findet ihr in der Bibliothek oder auch teilweise auf der Hand.“

Sie zeigte hinter mich und ich erkannte auf dem Marktplatz einige Meter von mir entfernt eine hohe Plastik, die wie eine Hand geformt war, vielleicht, um visuell zu unterstützen, was dem Künstler bei den Leitlinien wichtig erschien. Ich ging hin, stellte mich vor sie und betrachtete die vor mir geöffnete, mehrere meterhohe, weiße Hand, deren Finger fast senkrecht in den Himmel ragten. In die Handfläche verewigte er in wunderschöner Schrift so klein, dass es fast wie eine Oberflächenstruktur der Haut wirkte, einen Teil der Leitlinien:



Jeder von Euch ist wie je ein Finger derselben Hand, desselben Armes und des einen Körpers, der alles ist, was war, jetzt ist und immer sein wird. Er ist das einzig wahre Eine, in denen Ihr, in scheinbar getrennten Teilen, gemeinsam das Eine bildet. Dieses Eine, ist Euer Herr, Euer Gott. Ihr sollt nicht andere Götter verehren. Betet sie nicht an. Dienet ihnen nicht und lasset sie nicht gegeneinander antreten, denn es gibt nur den Einen, dessen Teil Ihr seid. So liebet ihn, wie er Euch liebt und liebet Euch selbst, wie Euren Nächsten, auf das Ihr Euch einander begegnet, wie die Finger derselben Hand, die gemeinsam (be)greifen, im Sinne des allwissenden Einen. Schadet nicht Eurem Nächsten, denn Ihr schadet einen Teil des Einen und somit Euch selbst, weil auch Ihr Teil des Einen seid. Wer aber zum Wohle anderer lebt und im Sinne des Einen handelt, der handelt zum Wohle aller, des Einen und seines eigenen Wohls. Ihm soll Wohl widerfahren.

Das Eine ist Euer Herr, der ist, wer er ist und keines Namen bedarf. Missbrauche nicht unnützlich ihn, in seinem Namen, zu Euerm Eigennutz und behaupte nicht seine Absicht zu wissen, denn nur er weiß. So betet für Euer Wohl und um Gnade, solange es nicht zum Schaden eines anderen oder allem führe. Vertraut auf seine Weitsicht, Gerechtigkeit und Gnade, denn sie ist zum Wohl des Einen, was da alles ist und zudem Ihr selbst dazugehört, in Ewigkeit.

Ihr sollt den Feiertag ehren, auf dass Ihr zu Euch selbst findet.

Ihr sollt Eure Eltern ehren und ihnen Gehör schenken, so wie Ihr Eure Kinder in Ehren halten sollt und Gehör schenkt.

Ihr sollt nicht einander töten. Ehrt alles, was für Euch starb, damit Ihr leben konntet.

Ihr sollt nicht Eure Beziehung Verraten oder andere dazu verführen, sondern bewahrt Eure Loyalität und die Eures Nächsten.

Ihr sollt nicht einander bestehlen. Ehrt all die, für das, was Euch gegeben wurde, damit ihr leben konntet.

Ihr sollt nichts Falsches bezeugen, so dies zum Schaden eines Nächsten führt, sondern strebt nach Wahrheit und Klarheit, so es zum Besten ist.

Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Daseins, sein Ansehen, Position oder Leistung. Vergleicht nicht und setzt Euch nicht in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer selbst, um zu werden. Denn Ihr selbst habt Großes in Euch und könnt groß sein, wie kein anderer.

Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Habens, seine Frau, Mann, Kind, Freund oder alles was sein ist. Vergleicht nicht und setzt nicht das Eurige in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer Eigenes. Denn Ihr selbst könnt Großes haben, wie kein anderer.

Ihr sollt Böses nicht mit Bösem vergelten, denn Böses gebärt nur wieder böse Kinder.

Ihr sollt Euren Feinden vergeben, wie Euch vergeben wird, denn sie sind Kinder, wie ihr, die nicht wissen was sie tun.

Ihr sollt die Wunder und Herrlichkeit des Lebens mit Respekt und Ehrfurcht behandeln. Zerstört nicht, was Ihr nicht begreift, denn es ist ein bedeutsamer Teil von allem, dessen Bedeutung Ihr nicht erkennt. So behandelt alles im Zweifelsfall mit Liebe, denn Ihr wisst nicht, welchen Sinn es für Euch macht. Zerstörtes, kann Eurem Nächsten und letztlich auch Euch keine Gnade bringen, wenn Ihr Gnade sucht.

Konzentriert Euer Handeln nicht auf einen Kampf gegen das Böse, sondern konzentriert Euer Handeln auf einen Kampf für etwas Gutes.

Denkt an die Kinder. Fahrt Eure Kutschen im Dorf langsam.


„Die letzte Aussage war sicherlich ein besonders, persönliches Interesse des Künstlers“, dachte ich mir und musste schmunzeln.

„Wisst Ihr, warum es immer heißt, Ihr sollt nicht und nicht, Ihr dürft nicht?“, fragte mich das kleine Mädchen von eben, das mir offensichtlich unbemerkt gefolgt war und mich noch immer neugierig beobachtete.

„Ähm, eigentlich nicht. Es ist mir noch gar nicht aufgefallen“, antwortete ich etwas überrascht.“

„Wenn jemand sagt, Ihr sollt etwas nicht tun, so muss es doch jemanden geben, der nicht will, dass Ihr etwas tut, nicht war?“ Ihr Augen waren wirklich groß.

Ich dachte einen Moment nach: „Klingt eigentlich logisch, ja.“

Sie setzte mit ihrer Erklärung fort und hielt dabei irgendwie niedlich ihre kleinen Hände auf ihren Hüften: „Es ist uns also nicht verboten worden, all dieses zu tun, sonder jemand wünscht sich, dass wir dieses nicht tun. Wir müssen nicht, sondern wir sollen, weil jemand es will. Wir sind also nicht gezwungen, sondern haben die freie Entscheidung bekommen. Wenn uns jemand etwas empfiehlt ohne uns zu zwingen und zu drängen, kann es dann böse sein?“

„Eigentlich nicht“, schlussfolgerte ich, „klingt eher fürsorglich.“

„Das denke ich auch.“, sagte sie und hatte scheinbar ihre Selbstbestätigung bekommen.

Dann drehte sie sich unerwartet um und hüpfte, wie ein kleines Pony, in Richtung des Baumes zurück. Ein kleiner Junge stürmte plötzlich hinter dem Baum hervor, schubste sie leicht und rief lachend: „Ihr seid!“ Alle Kinder strebten auseinander und das kleine Mädchen lief auch schon den anderen hinterher, um sie zu fangen.

Ich konnte mir mein breites Grinsen nicht verkneifen, während ich den tobenden Kinder hinterher schaute.

Langsam schlenderte ich vom Geschehen des Marktes weg und bewunderte im Vorbeigehen die vielen mehr oder weniger schönen Plastiken und ausgestellten Bilder. Überall gab es kleine Tafeln, Zettel und kleine Verewigungen; und wenn es auch nur ein kleines Liebesgeständnis war. Viele schien hier ihre Meinung auf unterschiedlichste Weise an die Öffentlichkeit bringen zu wollen und mit ihren eigenen Vorstellung, Stoff für Diskussionen zu liefern. Wer nicht selbst Künstler, Poet oder Philosoph war, bediente sich derer, um seine Ansichten möglichst auffällig und schön ins rechte Licht rücken zu lassen, wie ich später erfuhr. Auf einem Bild erinnerte jemand an die sieben Todsünden, während jemand anderes eine Tafel aufgestellt hatte, um Tugenden zu sammeln. An anderer Stelle stand schlicht weg, dass jemand doof sei. Letztendlich diente dies alles als Basis für die Bildung, Streichung und Veränderung der Leitlinien dieser Gemeinschaft, in der jeder äußerte, was er für das Beste hielt oder überhaupt nicht mochte und insbesondere von den drei Weisen studiert wurde.

„Hey, Fremder!“, rief mich jemand, der mir aus einer kleinen Gasse entgegenkam, „Wir brauchen Eure Hilfe. Würdet Ihr uns die Ehre erweisen?“

Es war ein großer starker Mann mit einem Strohhut auf, einem weißen Trägershirt und einer dunklen Hose, die mit einem Gürtel, weit über der Hüfte, mir viel zu hoch geschnürt erschien und deren Hosenbeine entsprechend kaum tiefer als bis zu den Knien reichte. Er lachte mich an und kam mir mit offenen Armen entgegen. Nun war es so weit, dachte ich mir und war erstaunlich freudig überrascht. Man gab mir erstmalig die Chance, die erste Ehre zu erlangen, doch ich fühlte mich nicht recht qualifiziert, was immer auch meine Aufgabe sein würde.

„Was kann ich für Euch tun?“, fragte ich zurück, „glaubt Ihr, ich kann Euch eine Hilfe sein?“

„Ich werde Euch lehren, was Ihr wissen wollt. Wir brauchen Eure Hilfe auf unseren Kartoffelfeldern.“

Uns so folgte ich ihm durch eine Gasse auf einen Feldweg und sah schließlich das erste Mal ein Kartoffelfeld. Ein großes braunes Quadrat mit kleinen grünen Pflanzen, sorgfältig in Linien aufgereiht, lag, wie hineingeschnitten, in mitten des grünen Waldes. Nur am Rand des Feldes, in südlicher Richtung, standen kaum Bäume. In dieser Richtung schien eine schwarze Sandwüste anzuschließen. Ein warmer, leicht feuchter Wind, quoll aus dem Wald heraus, kroch über den heißen Acker, strömte dann bis tief hinein in die Wüste und verlor sich schließlich in bizarrem Flimmern in weiter Ferne. Auf dem Feld waren bereits viele Menschen, die mit nacktem Oberkörper, zwischen der heißen Sonne und grünen Pflanzen, auf dem warmen Ackerboden wühlten. Dennoch schien meine Ankunft aufzufallen, so dass sie sich zwischen ihren Arbeitsschritten aufrichteten und mich fast übertrieben aufmerksam begrüßten. Schon nach kurzer Zeit stiefelte einer na
 

David

Mitglied
Der Garten Eden
Teil 1




Vorwort
Große Umbrüche im Leben bringen manchmal seltsame Ereignisse mit sich.
Man sagt ja, so etwas lässt einen wachsen.

Diese Geschichte ist eine Erzählung von einem spirituellen Tagtraum, der mir in einer Lebenskrise widerfuhr.
Er dauerte drei Stunden.

Viele Figuren, Symbole, Bilder und Ereignisse auf dieser Reise, haben häufig mehr, als eine Bedeutung. Traumdeuter werden die Hintergründe einiger Symbole vielleicht erkennen. Manche Dinge bekommen jedoch noch einen weiteren Sinn, wenn man sie untereinander im Zusammenhang betrachtete.
Diese Geschichte beinhaltet also viele Geschichten in einer, mit Aussagen in Symbolen, kleinen Episoden, der gesamten Geschichte selbst und durch Verknüpfungen zu religiösen Zeugnissen.

So gebe ich nun eine Geschichte weiter, die mir durch einen Traum erzählt wurde.
Wer diese Geschichte liest und versteht, für den ist sie bestimmt.
Möge jeder für sich selbst entscheiden, ob und welche Bedeutungen er für sich darin entdecken kann.




Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.





Der Garten Eden

VORWORT 3
DER GARTEN EDEN 9
DER ERSTE MORGEN 9
DER ALTEN MANN 10
DER APFEL 10
DAS WASSER 11
DER GRASHALM 11
DER ZWEITE MORGEN 11
DER ALTEN MANN (ZWEIFEL) 12
DER APFEL 12
DAS WASSER 12
DER GRASHALM 12
DIE FRAGE 12
DAS ERSTE LEBEN 15
DER DRITTE MORGEN 15
DER AUFBRUCH 15
DIE JUNGVÖGEL UND DIE LUMPEN 16
DER ERSTE SCHRITT 17
EINBRUCH DER NACHT 18
EIN NEUER MORGEN 18
DIE SUCHE NACH DEM WEG 18
STÜRMISCHE NACHT 19
DER ALTEN MANN (REUE) 20
DER APFEL 20
DAS WASSER 20
DER GRASHALM 20
DAS ZWEITE LEBEN 21
DER SECHSTE MORGEN 21
DER ALTEN MANN (ERKENNTNIS) 21
DER ZWEITE SCHRITT 22
DER GROßE BAUM 23
DIE GLÖCKCHEN 25
EIN LEBEN AM WASSERFALL 27
DIE WEITERREISE 29
DER BETTLER 30
UNBEKANNTE FRÜCHTE 30
GNADENLOS 30
DAS DORF 32
VERÄNDERUNG IN EDEN 44
DIE HEIMKEHR 44
DER APFEL 45
DAS WASSER 46
DER GRASHALM 46
SCHÖPFUNG IN EDEN 46
ZWIESPALT IN EDEN 47
DIE VIER BURSCHEN 48
DAS DRITTE LEBEN 51
DER MORGEN 51
AUFBRUCH DER GEMEINSCHAFT 51
DIE VULKANLANDSCHAFT 52
DIE TRENNUNG 52
DER SCHRITT IN DIE HÖLLE 52
DER TOTE BAUM 53
DER GEYSIR 54
DIE LAVA 54
DIE HÖHLE 57
DER GIPFEL 57
DIE HEIMKEHR 60
AUFBRUCH INS PARADIES 62
DER NÄCHSTE MORGEN 62
DER PALAST 63
DER LETZTE MORGEN 63
DAS VIERTE LEBEN 65
DER ORT DES PARADIESES 65
DER ALTE MANN (DER NEUE MANN) 67
LANDKARTEN 68







Der Garten Eden
Der erste Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines hohen weißen Saales, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Langsam erkannte ich drei hohe Flügelfenster vor mir, die, durch einen wunderschönen weißen Rundbogen, in ihrer erhabenden Größe begrenzt, vom Boden bis kurz vor die hohe, gewölbte, mit Stuck besetzte Decke reichten. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen, weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.





„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür und erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende weiße Marmorterrasse, deren weißes geschwungenes Geländer, kontrastreich einen Saum zum azurblauen Himmel bildete. Noch kurz bevor ich die Terrasse betrat, blicke ich nach links durch eine geöffnete Tür in einen anderen großen weißen Saal. Einige Menschen standen sich dort gegenüber, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, und ich hörte dumpf ihr angeregtes palavern. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht mehr. Zu oft schon hatte ich, in der Vergangenheit, an den ergebnislosen Diskussionen teilgenommen, mich mit vergeblicher Müh eingebracht und auf eine hoffnungslose Veränderung gehofft. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete, wie immer, tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Nie war es anders. Und ich erblickte, wie jeden Morgen, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Ich glaube, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich jedes Mal, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.


Der alten Mann
Ich beschloss zu ihm zu gehen und folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Zugegeben, die Wahl seines Stammplatzes war nicht dumm. Dieser Ort hatte schon etwas praktisches. Wenn man Hunger hatte, brauchte man nur seinen linken Arm zu strecken und konnte problemlos nach einem grünen, saftigen und süßen Apfel greifen. Hatte man Durst, reichte eine kurze Neigung des Oberkörpers nach rechts, um sein Gesicht in das kristallklare Wasser des Zierbrunnens einzutunken. Gesättigt, genoss man dann diesen wundervollen Blick über die Landschaft, während man schläfrig, im angenehmen Halbschatten der Blätter, auf dem weichen Rasen lag.
Aber wenn man den besten Platz auf Eden nicht verlässt, weil man davon überzeugt ist, es gäbe keinen besseren, wird dann nicht der vollkommende Platz zum vollkommenden Gefängnis? Niemand sah eine Mauer, die ihn daran hinderte zu gehen, aber ich glaube, es gab eine Mauer, - in ihm. Eine Mauer der Angst.

Der Apfel
Fast demonstrativ, erhob der alte Mann seinen linken Arm, schob seine Hand durch das grüne Blättergewirr des Baumes und griff lässig nach einem der vielen Äpfel. Vor dem Hineinbeißen pflegte er seinen Mund dermaßen übertrieben groß aufzureißen, dass ich mich jedes Mal wunderte, warum er nie an einer Maulsperre litt.
Ich tat es ihm gleich und pflückte ebenfalls einen Apfel.

Er war unglaublich süß und saftig, - perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Der Apfel schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte der Apfel für mich, wie immer, eher mehlig.

„Verdammt, schon wieder!“, brüllte er plötzlich los, spuckte und beäugte ekelerregt und wütend, die verbliebende Hälfte eines sich krümmenden Wurmes. „Tausend mal habe ich das schon gesagt und Debatten geführt! Und was hat sich verändert? Nichts! Ist es denn zuviel verlangt, Äpfel ohne Würmer zu wollen? Ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer! Wie oft soll ich das noch sagen?! Was nützt alles Palavern, wenn doch nichts passiert?!“

Ich aß derweilen meinen Apfel auf und bestaunte die folgende Illumination, als er nun seinen weißen Oberkörper nach rechts schwenkte und seinen hoch roten Kopf in das kalte Wasser des Zierbrunnens eintauchte. In meiner Phantasie wartete ich auf das Geräusch eines deutlichen Zischens und eine aufsteigende Dampfwolke, die zu meiner Enttäuschung natürlich ausblieb.

Das Wasser
Ich neigte mich ebenfalls über den Brunnenrand, bildete mit beiden Händen einen Kelch und schöpfte mir Wasser zum Mund.
Das Wasser war kristallklar, kalt und frisch, – perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Das Wasser schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte das Wasser für mich, wie immer, eher fade.

„Schau dir das an!“, sagte der alte Mann, langsam wieder in Rage kommend. „Siehst du das Mosaik auf dem Grund des Brunnens?“

Ich lehnte mich über den Brunnenrand und schaute so konzentriert ich nur konnte, durch das türkis blaue Wasser, auf ein aus Mosaiksteinen zusammengesetztes Bild, aus tausend herrlichen Mustern.

„Der Mosaikstein in der linken unteren Ecke ist zersprungen!“, rief er, als ob ich schwerhörig wäre.

Ich gab meine Bedauerung zum Ausdruck und bestätigte ihm, dass dieses wohl tatsächlich nicht seine Richtigkeit haben kann.

Der Grashalm
Bald darauf saßen wir auf dem Rasen und debattierten, ob es denn nicht möglich wäre, Grashalme im Garten Eden einzusäen, die nicht gleich umknickten, wenn man sie beträte.
Und so „schaukelten“ wir uns die folgenden Stunden gegenseitig hoch. Was vorher gut war, schien nun unvollkommen, Kleinigkeiten wurden bedeutsam, Unwichtiges wichtig, Unvollkommenes wurde verurteilt und irgend jemand trug die Schuld dafür.

Der zweite Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Meine Augen waren wieder vom grellen Licht geblendet und ich senkte meinen Blick. Langsam begannen sich meine Augen zu erholen und ich begann meine Umgebung zu erkennen. Ich stand wieder barfuss auf dem angenehm kühlen Marmorboden in Mitten des hohen weißen Saales. Vor mir die drei gläsernen Rundbögen. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und die linke Flügeltür war wieder leicht geöffnet. Die Vögel zwitscherten und eine lauwarme Brise ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Ich folgte der Einladung und ging erneut zur geöffneten Tür. Mein üblicher Blick nach links durch eine geöffnete Tür, fiel wieder flüchtig in den anderen großen weißen Saal, wo sich gewohnheitsmäßig einige Menschen, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, gegenüber standen und angeregt palaverten. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht. Ich schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete wieder tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Der alte Mann stand, mal wieder, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel. Er war, wie immer, alleine.
Ja, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und mir wurde wieder bewusst, dass jeder, der zum Brummen und Apfelbaum ging, somit auch unvermeintlich den alten Mann besuchen müsste. Und er freute sich immer so, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.

Der Alten Mann (Zweifel)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich wieder zu mir um und lächelte.
Ja, es war nicht nötig, etwas zu sagen, - vielleicht, war es auch wirklich nicht mehr möglich, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Der Apfel
Ich pflückte einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt, wie immer, süß und saftig.
Doch es war eben nichts besonderes für mich.
Und so schmeckte mir der Apfel, wie immer, eher mehlig.

„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.

Das Wasser
Und so trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt, wie immer, kristallklar, kalt und frisch.
Doch es war wieder nichts besonderes für mich.
So schmeckte mir das Wasser, wie immer, eher fade.

„Schau dir das an!“, klang es in scheinbar weiter Ferne dumpf.

Der Grashalm
Und mein Blick viel träge zu Boden, wanderte von einem Grashalm zum nächsten, schwebte langsam über die Wiesen, hinüber zu den grünen Hügeln, über die vielen Blumen und zu den vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. Und meine Blicke verharrten am Horizont, wo ein langer, hoher, goldener Zaun die Grenze des Garten Edens bildete.

„Ein abgebrochener Grashalm!“, hörte ich ihn.

Die Frage
Ich schaute dem alten Mann ernst und tief in seine stahlblauen Augen und Stille kehrte ein.
Die tiefen Augen, zwischen den kleinen Falten, unter den weißen Augenbrauen, sprachen von einer langen Erfahrung aus einer traurigen und enttäuschten Vergangenheit:

„Alter Mann“, sagte ich zu ihm und zog eine Augenbraue hoch, „so wie sich deine Welt, zwischen diesem Baum und jenem Brunnen befindet, so ist auch meine Welt begrenzt durch den goldenen Zaun des Garten Edens. Kannst Du mir sagen, was mich hinter dem goldenen Zaun erwartet, dessen Grenzen ich bisher nie zu überschreiten wagte?“

„Mein Junge“, seufzte er und schüttelte lächelnd mit seinem Kopf, „hinter dem goldenen Tor des Garten Edens, ist das Leben.“

„Was ist das Leben?“, fragte ich ihn.

„Nichts, was einen Grünschnabel wie dich interessieren sollte. Dort gibt es nichts, was es zu begehren wert wäre. Ich sehe deine schelmischen Pläne hinter deiner unschuldigen Stirn“, grinste er. „Doch streiche dir deine Flausen aus dem Kopf und denke nicht weiter über diesen Unsinn nach. Hier nimm! Iß diesen Apfel!“, sprach er und versuchte vom Thema abzulenken.

Es ärgerte mich, dass er mich so herabwürdigend behandelte und mir so grundsätzlich jede Fähigkeit aberkannte, dass er es sogar für überflüssig hielt, meine Frage zu beantworten, um auf meinen Wunsch nach Erkenntnis, Weiterentwicklung und Selbstentfaltung einzugehen. Aber so schnell wollte ich mich nicht abspeisen lassen:

„Was erwartet mich im Leben?!“

Der alte Mann schaute auf mich herab: „Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, gerade du würdest es nicht einmal drei Tage dort aushalten und auf allen vieren kämest Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Es haben schon ganz andere versucht, das Leben zu leben. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir bestimmt nicht gefallen.“

Ich überlegte einen Moment. Zu einseitig schlecht erschien mir seine Beschreibung vom Leben, zu ängstlich seine Einstellung und sein Rat an mich, nur an Vertrautem festhalten zu sollen und es noch nicht einmal zu wagen, über Unbekanntes nachzudenken. Ich bezweifelte außerdem, ob es angemessen war, so wenig Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten haben zu dürfen, wie er es mir vermittelte. Eigentlich sollte mich seine Aussage nicht wundern, denn schließlich verließ er nie seinen Platz zwischen dem Apfelbaum und dem Zierbrunnen, um sich mal frei im Garten Eden zu bewegen, obwohl ich dort nie eine Bedrohung fand. Aber warum hatte er eine so geringschätzige Meinung über mich und traute mir sogar noch weniger zu, als anderen? Es erweckte bei mir den Anschein, als ob er in Wahrheit eine Vertuschung seiner eigenen Angst oder eines eigenen Versagen bezweckte und mich nur deshalb von meinem eventuell Erfolg abhielt, um sich meinen Respekt zu sichern. Sein Rat bezweckte also vielleicht eher seinem Eigennutz, als seiner ehrlichen Sorge um mich. Wie würde er sich wohl fühlen, wenn mir etwas gelänge, was ihm in der Vergangenheit vielleicht nicht gelungen war? – Wenn ich mich zu etwas fähig erweise, wozu er nicht imstande war? Wäre er dann neidisch auf mich? Würde dies sein Selbstwertgefühl sinken lassen? Hatte er Angst, ich würde dann auf ihn herabsehen? Oder gab es, in Bezug auf das Leben, einen wirklich berechtigten Grund für ihn, sich um mich sorgen zu müssen?

“Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, sprach ich provokativ und hoffte auf überzeugendere Argumente, die mir erklären sollten, weshalb ich ihm mehr trauen sollte, als dem Gefühl, welches in mir ausbrechen wollte, um mir zu sagen, ich solle etwas verändern.

Irgendwie unpassend, legte er scheinbar freundschaftlich einen Arm auf meine Schulter und enthüllte aus meiner Sicht altklug, selbstgefällig und respektlos seine wahre Ansicht über andere und mich:
„Du bist jung und forsch, aber auch blauäugig und dumm. Mach doch, was du willst, aber nur ein törichter Narr verlässt den Garten Eden, um in das Leben zu gehen. Du wirst es sehen. Ich gebe dir höchstens drei Tage. Du wirst auf Knien zurückkommen und mir recht geben!“

Aus meinen Augen hatte er vor allem mich als Person in Frage gestellt. Er schien seiner Überzeugung und meiner Unfähigkeit, ihn zu verstehen, so sicher zu sein, dass er sich nicht einmal bemühte, mit mir zu diskutieren, sondern billigte mir statt dessen jegliche Freiheit zu, in mein eigenes Verderben zu rennen, während er mir gleichzeitig seinen Schutz durch hilfreiche Tipps für das Leben vorenthielt. Wenn er um mich besorgt war, warum half er mir nicht konstruktiv mit Information, die mich für das Leben hätten wappnen können? Ich vermisste irgendwelche nützlichen Hinweise, die mir hätten helfen können, nicht die gleichen Fehler zu machen, wie er. So ließ er es aber zu, mich in Fallen tappen zu lassen, die ich hätte umgehen können, wenn er mir aus den Details seiner Erfahrung berichtet hätte. Mit seine ungenauen Anspielungen machten er mir nur Angst und seine Sicherheit verunsicherte mich. Besser, als mit jeder Argumentation, manipulierte er mich hierdurch, ihm unwissend vertrauen zu sollen. Er heilt mich in seiner Abhängigkeit; und das wusste er sicherlich.
Ich drehte mich um und verließ seinen Platz, um zurückgezogen, für mich alleine, nachdenken zu können. Ich fühlte mich durch seine geringschätzige Bewertung über mich, der unpräzisen Angstmachung und der von ihm so dargestellten Aussichtslosigkeit meiner „närrischen“ Ambition, in meinem Mut erschüttert, denn woher sollte ich wissen, ob er nicht sogar recht hatte. Was, wenn er recht hätte? Was, wenn ich recht hätte? Was würde mich wirklich hinter dem goldenen Zaun des Garten Edens erwarten?
Um die Last seiner Worte beschwert und in meinen Gedanken gefangen, wandelte ich, mit dem Blick nach unten, auf die blendend hellweißen Marmorplatten des Weges, zurück zur Villa.

Das erste Leben
Der dritte Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus dem gleißendes Licht und erkannte, wie ich mal wieder im hohen weißen Saal mit den drei erhabenen Flügelfenstern aufgewacht war. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür.
Im linken Raum, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, standen wieder einige Menschen und palaverten. Ich wusste natürlich, worüber sie redeten, aber es interessierte mich eben nicht mehr. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe saßen wieder vereinzelnd Menschen an weißen Steintische. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

“Dies, ist der Garten Edens“, wusste ich.

Der alte Mann stand, wie immer alleine, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel und mir wurde wieder bewusst:

„Dies ist sein Platz!“

Der Aufbruch
Ich folgte in alter Gewohnheit den weißen Stufen hinunter in den Garten – doch dieses mal blieb ich plötzlich stehen. Seltsam ergriff mich der weiße vor mir liegende Marmorweg. Vage Sicherheit überkam mich mit leuchtender Klarheit. Und als ob ich es der Welt ins Angesicht schreien wollte, platzte es aus mir heraus und sprach doch nur zu mir selbst, mit abgehakten Worten, jedes sein eigenes Gewicht in der Bedeutung:

„Und dies ist mein Weg!“

Der alte Mann drehte sich aus der Ferne zu mir um. Einen Augenblick verharrten unsere sich begegneten Blicke, dann begann er langsam mit dem Kopf zu schütteln und begann arrogant zu lächeln: „Keine drei Tage!“, rief er.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Und so folgte ich etwas unsicher dem weißen Marmorweg und spürte auf meinem Rücken die mich lähmen wollende Blicke des alten Mannes. Gleichmäßig kurzgemähtes Gras umsäumte meine gleißend helle Straße und sollte mich bis ans Ende von Eden und den Anfang des Lebens begleiten. Die Bäume begannen mit meinem Fortkommen ihre Silhouette zu verändern. Dünne Nebelschwaden schlichen durch die Täler und suchten Zuflucht vor der aufsteigenden Mittagssonne. Die weißen Fliesen meines Weges zogen, mit jedem meiner Schritte, gleichmäßig unter mir hindurch und ich blickte auf sie herunter, als schaute ich von oben auf eine Welt, die ich verlassen hatte. Monoton begrüßten mich rhythmisch abwechselnd meine nackten Füße, die in mein Sichtfeld eben so schnell kamen, wie sie verschwanden. Meine Augen blickten auf, zum Horizont der vor mir liegenden Bergkuppe. Allmählich kam sie mir näher und legte sich alsbald zu meinen Füßen. Ich schaute herab und dann sah ich es:

Ein hohes, goldenes und prunkvoll verziertes Tor:
Tausende von Ornamenten, Figuren und Fratzen, schienen die goldenen Gitterstäbe zusammenzuhalten und berichteten von Geschichten, die da waren, die da sind und die da möglicherweise kommen werden.
Rechts und links neben der doppeltürigen Pforte, etwas tiefer, schloss ein goldener Gitterzaun an und zog seine Linie über die Landschaft Edens, bis sich der Zaun in weiter Ferne, hinter Hügeln und Wäldern, nahe dem Horizont, meinen Blicken entzog. Ich näherte mich weiter dem Tor. Frauen in weißen Kleidern strebten vor mir nach rechts und links auseinander, verteilten sich am Wegesrand und standen mir Spalier. Sie blickten mich an, aber schwiegen. Langsam begann sich das riesige Tor zu öffnen und schwer schwenkten mir die Flügel entgegen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Hinter dem Tor und durch die Gitter der Grenze Edens, lugte eine Landschaft hindurch, die mir fremder war, als alles was ich bisher kannte. Ein lehmiger, steiniger Weg zog sich unregelmäßig durch eine sandige flache Steppe. Einige braune, blattlose Büsche spähten mit ihren verdorrten Ästen zwischen den kleineren und größeren grauen Steinen hervor. Der Wind wehte feinen Sand über die Prärie. Dahinter folgte eine flache Tundra, bewachsen von wilden hohen Wiesen und allem braunen Gestrüpp. Schließlich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, ein dichter dunkler Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien.
„Dies ist das Leben“, wusste ich.
Doch wusste ich auch, was ich da tat?

„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du wirst dir selbst begegnen und es wird dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an die Worte des alten Mannes.

“Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, machte ich mir Mut.

Die Jungvögel und die Lumpen
Noch kurz bevor ich das Tor durchschritt und das Leben betrat, blicke ich nach links und rechts, zum Fuße der goldenen Grenze des Garten Edens und bemerkte zweierlei Menschen, die davor und die dahinter saßen.

Die davor saßen, die im Garten Eden, trugen saubere weiße Gewänder und saßen nebeneinander aufgereiht, wie junge Vögel auf einem Ast, denen die Daunen zu lang und die Federn noch zu kurz waren, um flügge zu sein. Und so hockten sie, in ihrer Sehnsucht zu fliegen, doch in ihrer Feigheit verbleibend, palavern nebst ihres vertrauten Nachbarn. Schnatternd und fachsimpelnd, bewertend und beurteilend, tauschten sie einander aus und richteten dabei ihre Blicke durch die Gitter des Zauns. Sie lästerten über die Akteure des Lebens, übertrumpften sich gegenseitig in theoretischem Wissen und hypothetischen Entscheidungen und sie wetteiferten, welcher der ihrigen, im Falle des Falles, wohl am besten abschneiden würde, wenn er denn im Leben wäre.

Die dahinter saßen, die im Leben, waren in kleinen Gruppen an den Zaun gedrängt. Verhüllt und eingekauert in tristlosen, dicken, grauen Stoffen. Ihre Gesichter vermummt. Aus den schützenden Tüchern ihrer Lumpen, dem sandigen Sturm und der heißen Sonne trotzend, funkelten verborgene Augen aus kleinen Sehschlitzen hervor. Sie waren die wohlhabenden des Lebens und Maulhelden des Garten Edens. Oh, wie sie mit ihrem Mut prahlten und die „Jungvögel“ hochmütig zum besser machen anstachelten, wenn sie bald durchs Tor in den sicheren Garten Edens gekrochen kamen und Rechenschaft ablieferten mussten, während sie hier Ihren Durst am Brunnen löschten und Ihren Appetit am Apfelbaum stillten, statt sich ihren Lebensunterhalt im Leben zu erkämpfen.

Und so, wie die da draußen fluchtbereit unweit des errettenden Eingangs saßen, verweilten die da drinnen unweit des Ausgangs der ersehnten Freiheit, feige zwischen dem harten Leben und dem schützenden Garten Edens verharrend. Ängstliche Torwächter zwischen Ungewissheit und Heimat, an der goldenen Grenze zwischen Flucht und Zuflucht.

Ich machte keinen Unterschied zwischen denen die davor und denen, die dahinter saßen. Für mich waren sie allesamt Drückeberger, die weder das Leben erlebt, noch sich einer Ehre verdient gemacht hatten. Selbstgefällige Pantoffelhelden oder vielleicht auch nur bedauernswerte Geschöpfe, die sich mit ihren scheinbaren Heldentaten etwas einredeten und sich mit ihrem vermeintlichen Wissen nur ausredeten.

Ich wollte sie noch fragen, was sie dort eigentlich taten, doch als ich ihre Gesichter sah, wusste ich, sie würden mir ewig eine Antwort schulden.

Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Dumpf hörte ich ihr angeregtes palavern und wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.

Der erste Schritt
Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch, betrat mit einigen Schritten mutig den lehmigen Boden jenseits der Grenze - und atmete tief und ahnungslos die kochend heiße staubige Luft des Lebens ein. - Wie Feuer eines Flammenwerfers drang die Hitze viel zu tief durch die Luftröhre in meine Lungen und feiner Sand und Staub reizten mich zum Husten.

Ich hatte plötzlich außerdem das Gefühl, mein Körper wäre um ein vielfaches schwerer geworden. Meine dünnen schwachen Beinchen vermochten kaum mein Gewicht zu tragen. Ich stemmte mich breitbeinig, wie auf Stelzen, wackelig ausbalancierend, gegen die ungeheure Gravitation der Erde und wagte es kaum mein Gewicht auf nur ein Bein zu verlegen, um den nächsten Schritt zu riskieren, da ich fürchtete, nicht genügend Kraft zu haben, um auf einem Bein stehen zu können.

„Wie, um Gottes Willen, soll ich die Kraft aufbringen, in dieser Welt vier Wochen zu überleben?“ , fragte ich mich verblüfft und voller Entsetzen und röchelte so flachatmig es ging, um den heißen Atem nicht tiefer in mich eindringen zu lassen, als unbedingt nötig.

Ich neigte mich gegen den heißen Wind und schaute über meine Schulter nach hinten, zu den flatternden Tüchern, unter denen irgendwo Menschen Schutz vor den Naturelementen suchten. Sand peitschte mir ins Gesicht und haftete in meinen tränenden Augen, so dass ich augenblicklich versuchte, mir diesen mit meinen staubigen Händen herauszuwischen, was die Situation noch verschlimmerte. Also blickte ich mit zugekniffenen Augen nach vorne und machte mir Mut, so weit es ging:

„Jede noch so lange Wanderung“, sagte ich mir, “beginnt immer mit einem ersten Schritt!“

Und so verlegte ich mein ganzes Gewicht auf mein linkes Bein und stelzte mit meinem Rechten nach vorne. Ich riss mich zusammen und legte meine gesamte Energie auf nur einen Gedanken:

„Gehe! Schritt für Schritt! Gehe!“

Und meine weichen Füße gehorchten. Sie fielen platt auf den vor mir liegenden Lehmboden und begruben, die darauf liegenden kleinen, scharfkantigen Steinchen, die sich gemeiner weise immer wieder die selben Stellen suchten, um sich durch meine dünnen Fußsolen in das Fleisch zu bohren.
Bald entdeckte ich eine neue Atemtechnik. Ich atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus. So ließ sich die heiße Luft besser ertragen und weniger Sand sammelte sich in meinem Mund. Rhythmisch knirschte ich auf den Sandkörnern zwischen meinen Zähnen, im Takt meiner schweren Schritte.

„Wenigstens habe ich was zu beißen“, sagte ich zu mir mit einem gewissen Galgenhumor.

Bald waren meine Füße von den scharfkantigen Steinen an vielen Stellen aufgerissen. In einiger meiner Fußstapfen erkannte ich, hin und wieder, kleine Blutstropfen.

Die Sonne brannte unbarmherzig und hart auf meine weiße Haut. Immer wieder drehte ich mich um und fragte mich, ob ich wohl noch die Kraft hätte umzukehren, um gegebenenfalls das errettende Tor erreichen zu können. Einen Moment lang war ich dabei wohl etwas unaufmerksam und trat ungeschickt, mit meinem linken Fuß, auf eine scharfe Kante eines fußballgroßen Steines. Wie ein Rasiermesser schnitt sich die raue Kante in meinen Fußballen ein. Ich versuchte noch mein Gleichgewicht zu verlagern, rutsche aber aus, schrappte an einem Dornenbusch vorbei und viel aufschreiend, erst gegen die harte Seitenfläche eines Felsens und endete schließlich, der Länge nach, im Sand. Auf meiner linken Schulter liegend, krümmte ich mich vor Schmerzen. Mit meiner linken Hand hielt ich meinen schmerzenden Fuß und mit der anderen, meinen gestoßenen Hinterkopf. Ich schrie vor Leid und Wut, während ich in Embryonallage eingekrümmt, auf dem heißen sandigen „Bett“ lag.

Es tat gut, als nach einiger Zeit der Schmerz etwas nachließ.
Mein rechter Arm, ich hielt mit ihm noch immer meinen Hinterkopf fest, schenkte mir etwas Schatten im Gesicht. Ich beobachtete unter diesem Arm hindurch, wie unter meiner linken Hand, Blut aus dem Fuß hindurch sickerte und den trockenen Sand langsam dunkelrot einfärbte. Bald begann die Blutung zu stillen. Ich schaute flach über dem Boden in die Ferne, zurück des Weges, den ich kam und sah in aller Pracht den Ort, den ich vielleicht nie hätte verlassen sollen. Den Garten Eden.
So lag ich vielleicht noch eine halbe Stunde lang im Sand. Dann setzte ich mich schließlich auf und lehnte mich mit meinem Rücken gegen eine steile Fläche des hohen Steins, mit der mein Hinterkopf vorhin, „Kontakt“ geschlossen hatte. Ich spuckte ein paar Krümel Sand aus meinem trockenen Mund. Die Zunge klebte förmlich am Gaumen und ich hatte unendlich großen Durst. Mein dünnes Hemdchen war zerrissen, und meine Haut war zerkratzt und von der Sonne verbrannt. Ich zog rote Hautfetzen von meinem Arm. Mein Kopf dröhnte und mir war übel.

Einbruch der Nacht
Es wurde bald auffällig still um mich herum. Der Wind schlief langsam ein. Bald war nichts zu hören, außer ein leises Rascheln einiger langer Gräser, unweit meines Sitzplatzes. Dann sah ich die riesige rote Sonne im Westen. Der leuchtende Ball begann sich langsam zu einem Oval zu verzerren, bis er tief über dem Horizont zu zerfließen schien. Die Schatten der kleinen Hügel und großen Felsbrocken wurden länger, streckten sich über den roten Boden und zogen Richtung Osten dunkle „Barrieren“ über meinen Weg. Als das Himmelsfeuer im Nord-Westen verglimmte und nur noch vereinzelnd kleine Zirruswolken, hoch oben, im rötlichen Schein der untergegangenen Sonne, die Nacht einleiteten, funkelten bereits die ersten silbernen Sterne zwischen ihnen hindurch und das dunkle Blau des Himmels wurde zu tief schwarzer Nacht. Bald strahlten nur noch die Sterne mit ihrem fahlen Licht auf den Boden der Steppe. Die kleinen Quarzkristalle meines Granitsteines, an den ich immer noch gelehnt war, funkelten ganz leicht im Sternenlicht. Der Sand und der Stein gaben noch für kurze Zeit ihre gespeicherte Energie des Tages ab. Dann wurde alles bitter kalt und weder Stein noch Sand spendeten Wärme. Mit einer leichten Briese drang eisige Kälte unter meine dünne, zerrissene Kleidung, kroch über meine verbrannte Gänsehaut und ich fröstelte. Ich kauerte mich zusammen und schlief endlich zitternd ein.

Ein neuer Morgen
Langsam erhob sich der rote, schwere Stern in das Himmelsgewölbe und begann, mit seinen ersten Strahlen, die Kälte der Nacht zu vertreiben. Ich öffnete mein rechtes Auge, mein linkes war noch mit der linken Gesichtshälfte im Sand vergraben und blickte auf einen, im rötlichen Morgenlicht beschienen, kleinen Vogel, der einige Zentimeter vor meinem Gesicht hockte und mich neugierig, mal mit seinem rechten und mal mit seinem linken Auge, begutachtete. Wie gerädert hob ich meinen bleiernen Kopf aus dem Sand und schaute dem davonfliegenden Vogel hinterher. Ich schob mich am Felsen hoch und lehnte mich wieder mit meinem Rücken an ihn. Noch wie gelähmt vor Kälte, erreichten mich die ersten schläfrigen Sonnenstrahlen und verströmten wohlige Wärme. Dort lag der Garten Eden. Ganz klein konnte ich den Brunnen und den Apfelbaum sehen. Irgendwo dazwischen erahnte ich den alten Mann, der über klares Wasser, gegen den Durst und über süße Äpfel, zum Stillen seines Hungers, verfügte. Ich hatte schrecklichen Durst. Sollte ich umkehren? Abschätzend blickte ich in die entgegengesetzte Richtung. Der Wald schien nicht mehr so weit entfernt.

„Vier Wochen“, sagte ich mir. „Nur vier Wochen.“

Die Suche nach dem Weg
Ich stellte mich auf meine schmerzenden Füße und schleppte mich weiter des Weges Richtung Wald.
Bald erreichte ich die Tundra.

„Endlich kein Sand mehr“, dachte ich mir.

Dichte schwarze Wolken zogen herauf und verdunkelten den Himmel. Es Donnerte. Das Rascheln der hohen Gräser wurde lauter. Wind kam auf, änderte seine Richtung und nahm unaufhörlich an Stärke zu. Blitze schlugen in einigen Kilometern in den Boden ein. Es begann mit einigen wenigen Tropfen, doch dann schüttete es wie aus Eimern. Ich hielt meine Hände auf, schlürfte daraus das segenreiche Wasser und spülte den schlammigen Sand in meinem Mund herunter. Mein Durst legte sich und mein Hunger machte sich bemerkbar. Die Regentropfen trafen sich auf Grashalmen, Moosen und auf dem lehmigen Boden zwischen den Steinen. Sie versammelten sich und flossen gemeinsam in kleinen Rinnsälen auf Bahnen des geringsten Widerstandes. Aus Rinnsälen wurden Bäche und aus Pfützen kleine Teiche. Immer größere Wassermassen drängten sich durch das Gestrüpp und überfluteten den Boden. Lehm und Sand wurde zu Schlamm. Mein Weg glich inzwischen einem kleinen Fluss und der Sturm tobte und riss kleine Zweige, Gräser und Blätter mit sich. Immer tiefer versank ich mit jedem Schritt im Schlamm und jeder Schritt wurde zum Kampf. Ich war bis auf die Knochen nass. Der Sturm blies über meinen patschnassen Körper und stahl ihm jegliche Restwärme. Um nicht tiefer in den kalten Matsch einzusinken, kroch ich auf allen Vieren weiter.
Hinter mir leuchtete der Garten Eden. Dort schien am blauen Himmel die Sonne, aber in der entgegengesetzten Richtung, nur etwa hundert Meter vor mir entfernt, lag auch der ersehnte Wald. Mein Ziel. Ich musste es einfach schaffen und schleppte mich weiter. Endlich erreichte ich die Waldkante und suchte nun Verzweifelt eine Möglichkeit, in den Wald hineinzugelangen, um Schutz zu finden, aber seine Grenze war dermaßen verwuchert und mit Dornenbüschen verbarrikadiert, dass ich keinen Weg hineinfinden konnte.

Stürmische Nacht
Es wurde unter den tosenden Gewitterwolken immer dunkler. Inzwischen musste die Sonne wohl schon längst untergegangen sein, aber ich gab nicht auf. Trotz meiner Müdigkeit suchte ich bis tief in die Nacht im tobenden Sturm, unter schüttendem Regen und donnernden Blitzen, einen Weg in den Wald, bis ich irgendwann erschöpft aufgab und mich in den Schlamm fielen ließ.

Der Regen peitschte mir weiterhin unaufhörlich ins Gesicht, aber ich regte mich nicht mehr.
Apathisch hatte ich nur noch einen Blick für den Garten Eden, dessen warmes Leuchten mich in seinen Bann zog. Meine Heimat, ein einziger kleiner Lichtschimmer in weiter Ferne, scheinbar unberührt vom Grollen und Heulen dieses Gewitters und Hagels, weit weg vom peitschendem Sturm, der hier an meinem Körper riss, ihn durchnässte und jeglicher Wärme entzog. Noch einmal drückte ich mich hoch, um in dieser Dunkelheit einen Blick auf die Schönheit des Glanzes werfen zu können. Und ich begann mich von der magischen Anziehungskraft, der leuchtenden Wärme, einfangen zu lassen und strebte dem apokalyptischen Geschehen, in diesem dunklen Tunnel, zu entfliehen, hin zum Licht der Heimat, wie die Motte zum Schein des Feuers.
Und so wühlte ich mich durch die Nacht, durch Schlamm und Wassermassen, zurück auf dem Weg nach Hause. Erst kroch ich, doch bald marschierte ich wieder. Ohne Emotion, ohne Schmerz, taub und mechanisch, wie eine Maschine. Und wenn ich nur noch einen kleinen Finger hätte bewegen können, ich hätte ihn bis zu meinem bitteren Ende bewegt.

Im Morgengrauen erreichte ich die Grenze zur Steppe und schleppte mich wieder über den Sand unter der glühenden Sonne. Als ich dann endlich das goldene Tor des Garten Edens erreichte, krabbelte ich auf blutigen Händen und Knien der Erlösung entgegen. Zwei weiße schemenhafte Gestalten kamen mir durch die Pforte entgegen, stützten mich unter den Schultern und schleiften mich endlich hinein. Sie legten mich sanft, mit dem Gesicht nach unten, auf den weißen Marmorboden. Dann entfernten sie sich wieder ein paar Meter von mir und beobachteten mich mit respektvollem Abstand.
Niemand sprach, - es gab keinen Laut, - absolute Ruhe.
Ich winkelte meine Knie an und hockte mich auf meine Hacken. Nach vorne gebeugt, verweilte ich einen Moment und beobachtete meinen Schatten, dessen Silhouette ein Abbild von mir selbst auf die Fliesen zeichnete. Ich holte, mit mehreren Verzögerungen, tief Luft. Dann gewannen meine Gefühle des tiefen Schmerzes die Oberhand und ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Ich weinte.

Schließlich wurde mein Körper wieder leicht wie eine Feder. Trotz der Narben auf meiner roten Haut und den wunden Füßen, Knien und Händen, vergingen meine Schmerzen. Langsam erhob ich mich in meinen zerfetzten Lumpen. Ich blickte um mich herum und erkannte nun, dass die weißen Gestallten, die mich in den Garten Eden brachten, die Frauen in den weißen Gewändern waren, die mir bereits bei meinem Weg ins Leben, am Tor, Spalier gestanden hatten. Die Frauen in ihren weißen Gewändern standen noch immer um mich herum und schauten mich mit entsetzten Blicken an, aber niemand sagte etwas. Auch ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Also drehte ich mich schweigend von ihnen weg und begann langsam der weißen Marmorstraße in Richtung der weißen Villa zu folgen, hin zu jenem mir vertrauten Ort, wo ich einen alten Mann, zwischen einem Zierbrunnen und einem Apfelbaum, wiedersehen würde.
Still schwebte ich zwischen den grünen Hügeln auf dem Weg des Lichts.

Und da erblickte ich ihn abermals, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können. Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich jedes Mal, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.

Der alten Mann (Reue)
Ich verließ den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch das kurze Gras, bis ich neben ihm stand.
Eine Zeitlang verweilte ich still neben ihm und traute mich nicht ein Wort zu sagen. Dann unterbrach ich die erdrückende Stille und sprach leise,

„Du hattest Recht, alter Mann. Ich war ein Narr.“

Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, mehr zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, wirklich etwas zu sagen, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Der Apfel
Ich pflückte wieder einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt. Er war wirklich unglaublich perfekt.
Er war süß, saftig und außergewöhnlich lecker.
Noch nie schmeckte mir ein Apfel so gut, wie dieser.
Oh, wie ich ihn genoss und spürte, wie mein Hunger verflog.

„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.

Das Wasser
Alsbald trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt. Es war wirklich unglaublich perfekt.
Es war kristallklar, kalt und frisch.
Noch nie schmeckte mir Wasser so gut, wie dieses.
Oh, wie ich es genoss und spürte, wie mein Durst verflog.

„Schau Dir das an!“, klang es dumpf in scheinbar weiter Ferne.

Der Grashalm
Gesättigt, legte ich mich auf das weiche kurze Gras, genoss diesen wundervollen Blick über die Landschaft und versank, im angenehmen Halbschatten der Blätter, in meine Gedanken.

„Erst das Saure, machte das Süße, süßer“, durchfuhr mich ein Geistesblitz.

„Ein abgebrochener Grashalm!“, tönte es zu mir herüber.

Ich schaute dem alten Mann in sein fahles Gesicht.
Dann ließ ich meinen Kopf ins Gras fallen und blickte durch die grünen Blätter in den blauen Himmel,

„Ja, so wird es wohl sein“, sagte ich mir erneut. “Erst das Saure, macht das Süße, süßer“.

Ein warmer Sonnenstrahl drang durch die Blätter hindurch und blendete mich. Ich genoss mit verschlossenen Augen die Wärme in meinem Gesicht und schlief in der Nachmittagssonne ein.


Das zweite Leben
Der sechste Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts. Ich war wieder im hohen weißen Saal erwacht und stand entspannt, leicht bekleidet, in meinem weißes Gewand, barfuss auf dem glatten, angenehm kühlen, Marmorboden. Langsam erkannte ich wieder die drei hohe Flügelfenster vor mir. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Ich hörte Vögelgezwitscher. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und eine lauwarme Brise wehte herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster, leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Ich schritt wieder an den palavernden Menschen vorbei, schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete, erst ganz langsam nur durch die Nase, dann doch ganz tief, die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen wie immer einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Der alte Mann stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen.

Dies war sein Platz.

Schon aus dieser Entfernung konnte ich seinen Missmut hören. Er meckerte, wie immer, über die Unvollkommenheit der süßen Äpfel, über den zersprungen Mosaikstein, im Brunnen des klaren Wassers, und über den abgebrochenen Grashalm des weichen Rasens.

Der alten Mann (Erkenntnis)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten und streifte bald barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.

„Ich gehe fort“, sprach ich.

„Du gehst fort? Wohin? Du bis doch gerade erst nach Hause gekommen“, antwortete er mir entsetzt.

„Ich gehe zurück ins Leben“, sagte ich und erwartete, dass er mich nun für dumm und vergesslich erklären würde.

„Wie kann man nur so dumm und vergesslich sein!“, erwiderte er. „Hast Du schon vergessen, wie du zurück kamst? Deine Haut ist jetzt noch rot und vernarbt. Ich hatte dich beobachtet, wie du im Leben littest. Wie oft sah ich dein verzweifeltes Gesicht, wenn Du zum Garten Eden zurückblicktest und dir ersehntest, du wärst hier! Du schautest dich um und erstarrtes praktisch zur Salzsäule, verharrtest in deinem Kummer und stecktest in deiner Sehnsucht und deinem Selbstmitleid fest. Und? Hast du vielleicht den Weg in den Wald gefunden?“

Ich versuchte ihm zu erklären, wie ich dachte: „Wie hätte ich den Weg in den Wald finden sollen, wo ich doch keinen Blick nach vorne richtete? All meine Aufmerksamkeit und Gedanken galten alleine dem Garten Eden. Meine Sehnsucht zur Vergangenheit war größer, als meine Konzentration auf die Gegenwart und meine Hoffnung in die Zukunft.
Und ja, Du hast Recht. Bei meinem Blick zurück, erstarrte ich tatsächlich zur Salzsäule und verharrte im Weiterkommen. Denn ich war zu schwach.
Das nächste Mal will ich daher meiner Herkunft keines Blickes und keines Gedankens würdigen, sondern konzentriert nach vorne gerichtet, aufmerksam, dem Weg des Lebens folgen. So werde ich diesen Fehler kein zweites Mal begehen, bis die Zeit gekommen ist, da ich mich erinnern kann, ohne fest zu klammern und ich los lassen kann, obwohl ich Wissen habe, - bis die Zeit gekommen ist, dass meine Hoffnung mehr Macht über mich hat, als mein Wissen.“

Regungslos stand er mir gegenüber und ich wartete auf irgend eine Reaktion.
Nach einer halben Ewigkeit öffnete er leicht den Mund, atmete ein und zog seine rechte Augenbraue hoch. Das war alles.

„In vier Wochen sehen wir uns wieder“, unterbrach ich die Geduldsprobe.

Ich drehte mich um, griff mir meinen kleinen Rucksack und schnallte ihn auf den Rücken. Ich war dieses Mal besser vorbereitet. Ein kurzer Ruck an den Trageriemen und er saß bombenfest.

„Ich wünsche Dir alles Gute“, sagte ich noch.

Dann machte ich mich auf den Weg.

Der zweite Schritt
Ich flog fast über den weißen Marmorweg, denn ich wollte keine Zeit vergeuden und erreichte schnell das goldene Tor zum Leben. Die Frauen in den weißen Gewändern standen wieder Spalier und warfen mir erstaunte Blicke zu. Auch die „Jungvögel“, die davor saßen und die „Lumpen“, die dahinter saßen, schauten gespannt zu mir herüber. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.

Die Tore öffneten sich:

„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

„Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten, denn dies ist das Leben“, wusste ich.

Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch und atmete, ganz vorsichtig und langsam, durch die Nase, die heiße, staubige Luft des Lebens ein.

Ich erwartet wieder den Kampf mit der Gravitation, aber obgleich ich mein schwereres Gewicht spürte, stand ich fest und sicher. Meine Beine hatten durch mein letztes Leben an Muskeln dazu gewonnen und waren nun bereit mich zu tragen, wohin ich wollte.

Und ich schritt noch etwas zaghaft auf die spitzen Steine des Lehmweges, aber obgleich ich den ungleichmäßigen Druck unter meinen nackten Füßen merkte, spürte ich keinen Schmerz. Meine Füße hatte durch mein letztes Leben Hornhaut bekommen und diese schützte sie nun wie ein Panzer.

Und die Sonne glühte erbarmungslos auf meinen Körper, aber obgleich ich die stärke Ihrer Strahlung merkte, verbrannte meine Haut nicht, denn sie war braun geworden.

„Wen interessiert der Garten Eden? Vergiss ihn, bis der Tag gekommen ist“, sagte ich zu mir selbst.

Und so durchquerte ich schnell die Steppe und ich drehte mich nicht um.
Und ohne einen Gedanken an den Garten Eden zu verschwenden, erreichte ich bald die Tundra. Schon am Nachmittag stand ich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, vor dem dichten dunklen Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien. Aber ich schaute nach vorne, denn ich wusste, dass es ihn gab und fand einen kleinen verschlängelten Pfad, der erst rechts am Waldesrand entlang, dann plötzlich in einem Linksknick, in Mitten des tiefen Waldes führte. Ich hatte ihn tatsächlich gefunden!

„Dies war mein Weg!“, freute ich mich und gab mir Zuversicht.

Und so beschritt ich voller Hoffnung, aber auch mit Befürchtungen vor der Ungewissheit, den langen Weg in den tiefen Wald.
Dichtes, dunkles Grün der hohen Baumkronen umrankte mich, wie das Gewölbe eines Tunnels. Einige helle Sonnenstrahlen durchdrangen vereinzelnd das Blättergewölbe und berührten den Boden des Waldweges. Die Luftfeuchtigkeit war hoch. Feiner Nebel lag auf der Erde und kroch an manchen stellen die Baumstämme hoch. Die trockenen Schleimhäute meiner staubigen Nase begannen, wie ein Schwamm, die kühle Feuchtigkeit des schattigen Waldes aufzunehmen und so konnte ich bald wieder sehr intensiv Gerüche wahrnehmen. Es roch nach jungen Pilzen, vermodertem Holz, verharzten Tannen und nasser Erde. Ich brauchte Nahrung. Und so folgte ich dem Weg, immer tiefer, in den dunklen Wald hinein. Ich schaute konzentriert nach vorne und nach oben, stets auf der Suche nach etwas Essbarem. Und ich suchte nach etwas, was ich kannte. Ich suchte nach Äpfeln.

Der große Baum
Viel höher als erwartet, zwischen den grünen Blättern eines Laubbaumes, erahnte ich schon bald einen blättergrünen Apfel. Ein Apfel in dieser Höhe erschien mir nicht plausibel. Ich traute meinen Augen nicht so recht und wollte diesen scheinbaren Umstand erst einmal prüfen. Skeptisch, näherte ich mich dem dicken Baustamm. Am Fuße angelangt, zwischen seinen mächtigen Wurzeln, die wie große Schlangen im Erdreich versanken, blickte ich nach oben und konnte mich schließlich selbst versichern: Dort oben, in ziemlich großer Höhe, hing tatsächlich ein grüner Apfel. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor einen so hohen Apfelbaum gesehen. Ich musste auch noch nie auf so einen hohen Baum klettern, um einen Apfel zu pflücken! Aber was hätte ich tun sollen. Ich hatte Hunger.
Nur gut, dass mich keiner sehen konnte, als ich versuchte, mit Anlauf, den Baumstamm herauf zu laufen oder, in völlig lächerlichen Köperhaltungen, verkrampft nach Griffen in der Baumrinde suchte. Es sah vielleicht nicht besonders elegant aus, aber irgendwie gelang es mir dann mit einer Grätsche, kopfüber, bei gleichzeitigem kräftigem Wegdrücken meines Körpers mit beiden Armen nach oben, die erste Astgabel des Baumes zu erklimmen. Von unten aus betrachtet, hatte ich somit den schwierigsten Teil des Kletterns geschafft, da oberhalb der Gabel, die Verästelung des Baumes zunahm und somit enger zusammenliegende Tritt- und Haltemöglichkeiten, mein Weiterkommen verbessern dürften. Zwischen den Blättern hindurch, bahnte ich meinen Weg durch die Baumkrone. Ich hatte mich nicht geirrt. Hier oben gab es so viele Äste, dass ich problemlos höher hinauf steigen konnte. Bald wühlte ich mich auf einem horizontal verlaufenden, dicken Ast durch das Grün. Energisch bog ich einen sperrigen Zweig zur Seite, setzte einen großen Schritt nach vorne und erschrak. Ich stand plötzlich, außerhalb der dichten Baumkrone, auf dem schmalen Ast im Freien. Rechts, links, wie auch da runter, nichts als leere! Ich war inzwischen vielleicht 9 Meter über dem Erdboden. Der ausladende, knorrige Ast, auf dem ich stand, streckte sich noch einige Meter aus dem Blätterwerk des Baumes heraus und verjüngte sich zu einer dünn schwankenden Astspitze, in den bodenlosen Himmel. Mit beiden Händen umklammerte ich verkrampft einen, über meinen Kopf befindlichen, Ast. Jener verlief parallel, etwa zwei Meter über dem Ast, auf dem ich stand. Auch dieser wurde zu seinem Ende hin dünner und endete schließlich in einem kleinen, filigranen Astgabelchen. An der Spitze des letzten Zweiges, hing ein kleines grünes Blättchen. Und unter diesem kleinen Blättchen, hing ein saftig grünes Äpfelchen. Es tänzelte fast höhnisch, in ca. vier Meter Entfernung vor mir, im freien Wind.

„OK“, sagte ich mir und schaute an meinen Füßen vorbei in den Abgrund, „nur nicht hinunter sehen!“

Ich zwang mich nach oben zu schauen und erblickte meine zitternden Hände an dem Ast über mir. Weiße Wolken bewegten sich am blauen Himmel, im Hintergrund meiner Hand, und dies gab mir das irreleitende Gefühl, der Baum kippe mit mir nach rechts um: „Auch keine gute Idee.“ Und so stierte ich wieder auf den grünen, wackelnden Apfel vor mir. Im Hintergrund des Ziels meiner Begierde, senkte sich unter mir ein Blätterdach niedriger Bäume. Dahinter schien sich eine Lichtung mit einem See zu befinden.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Apfel:

„Ich muss mich nur am oberen Ast festhalten und auf dem unteren Ast balancieren. Wenn ich herunterfalle, werde ich sterben. Wenn ich nichts esse, werde ich auch sterben. Es ist theoretisch nicht unmöglich, an diesen Apfel zu gelangen“, sagte ich mir.

Ich bemerkte die Vorherrschaft meiner mich blockierenden Höhenangst:

„Du Angst! Du hast mir geholfen, nicht voreilig zu handeln und hast mich zu Vorsicht ermahnt. OK. Ich habe es verstanden. Nun hilfst du mir aber nicht weiter, denn ich will nicht als dein Sklave falsche Entscheidungen hinnehmen müssen, sonder mit meinem freiem Willen eine Entscheidung auf Vernunft durchsetzen! Ich lasse jetzt nicht mehr zu, dass Du Macht über mich hast. Ich bin dein Herr. Also verschwinde.“

Ich redete mir ein, es gäbe keine Tiefe, als wäre es eine Illusion und ich befände mich in Wirklichkeit unmittelbar über dem Boden. Meinen Augen bat ich, nicht auf den Hintergrund zu achten, sondern nur den Vordergrund schön scharf zu stellen. Es sollte nur noch den Ast geben, auf dem ich stand, den Ast, an dem ich mich festhielt und den Apfel, den ich bekommen musste. Für die nächsten Minuten sollte es keine andere Welt für mich geben.

„Dem Mutigen gehört die Welt!“, sagte ich und versuchte hiermit meine Angst zu verdrängen.

Und so ging ich, Schritt für Schritt, Handgriff für Handgriff, auf meinem schwankenden Weg im Wind, und näherte mich dem grünen, runden Ziel.
Ich erreichte den Apfel. Eigentlich wollte ich dem Apfel noch einen Spruch für seine Dreistigkeit an den Kopf werfen, sich einen so frechen Platz ausgesucht zu haben, doch bei dem Gewackel auf den dünnen Zweigen in dieser Höhe, dem böigen Wind und meinem unsichern Halt über dem Abgrund, verschlug mir meine Panik die Sprache. So pflückte ich ihn nur schnell und steckte ihn in meine Tasche, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von meinem Halt abzuwenden. Konzentriert balancierte ich ebenso vorsichtig zurück, wie ich mich aus dem Blätterhaus herausgewagt hatte, bis ich mich endlich wieder innerhalb der Baumkrone befand, wo die Äste wieder dicker und stabiler waren und mir die grünen Blätter um mich herum, ein Gefühl von Halt, Sicherheit und Geborgenheit vermittelten.

„Ha, geschafft! ha ha! Soll das etwa schon alles gewesen sein? War ja ein Kinderspiel!“, und mein aufgeregtes Gackern klang bald eher wie blödes Grunzen.

Ich beruhigte mich jedoch langsam und genoss in diesem kleinen grünen Nest die Schönheit des hohen, stillen Versteckes. Die Sonnenstrahlen, welche durch eine kleine Öffnung im Blätterdach von oben zu mir herunter gelangten, verliehen den feuchten, grünen Blättern, um mich herum, einen seidigen Glanz. Rechts oben von mir bemerkte ich, wie ein einzelner Wassertropfen, von einem Blatt, auf das nächst tiefere viel und dabei jedes mal eine kleine Wasserspur auf seinem grünen „Landeplatz“ hinterließ. Irgendwie glich das kriechen der mickrigen Silbermurmel, einer kleinen Schnecke, die manchmal in ihrer Eile, auf das nächste Blatt hüpfte. Sozusagen eine Springschnecke. Dann verschwand der Tropfen im unteren Dickicht und ich besann mich wieder auf mich selbst:

„Du hast gerade etwas getan, was Du noch nie tatest“, wurde mir bewusst.
„Du warst dir nicht sicher, ob du es schaffen würdest und nun hast Du eine Aufgabe gelöst, die du dir erst kaum zutrautest.
Als du die lähmenden Mauern in dir niederrissest und sich sodann dein Horizont erweiterte, als du deine Angst besiegtest und den Mut aufbrachtest, dich auf neue Möglichkeiten einzulassen, als du an deine Fähigkeiten glaubtest und dir begannst mehr zuzutrauen, wurdest du vom Sklaven deiner Angst, zum Herren deiner selbst.
Mit jeder Angst, die du überwindest, wirst du also ein Stück freier. Jede Aufgabe lässt dich wachsen. Ich fühle mich nun stärker, größer und freier, als jemals zuvor. Ich fühle mich gut.“

Mit meiner rechten Hand holte ich den Apfel aus meiner Tasche und betrachtete ihn mit einem großen Glücksgefühl. Ich nahm einen kräftigen Bissen. Und obwohl er schrumpelig war, schmeckte er besser als jeder Apfel, den ich je gegessen hatte. Es tat gut, wieder etwas im Magen zu haben, aber ich glaube, dies war nicht der einzige Grund für seinen köstlichen Geschmack:

„Nichts ist so süß, wie der Erfolg der eigenen Bemühung“, dachte ich mir.
„Geschenkt, hätte mir der Apfel vielleicht nicht so gut geschmeckt.“

Und so verwandelte sich meine Unsicherheit auf Grund von Unwissenheit, in Sicherheit aufgrund meines neuen Wissens. Ich hatte Selbstvertrauen und ich stieg weiter hinauf. Ich pflückte so viele Äpfel, wie ich in meinen kleinen Rucksack unterbringen konnte. Schließlich kletterte ich hinab und fand, am Fuße des mächtigen Stammes, endlich wieder sichern Halt auf breitem Boden. Ich blickte noch einmal nach oben, schaute in die Tiefe der Baumkrone und lächelte, wie zu einem guten Freund. Dann betrachtete ich mich selbst:

„So, wie dieser lebendige Baum zum Lichte strebt, so bist auch du endlich mal über dich hinausgewachsen. Und so, wie der in die Höhe wachsende Baum nur deshalb an Stärke hinzugewinnen kann, weil er seinen in die tiefe wachsenden Wurzeln vertraut, kannst also auch du nur Stärke mit deinem Mut zum Selbstvertrauen gewinnen.“

Ich schaute voller Stolz auf die Äpfel in meinem kleinen Rucksack. Dies waren meine Trophäen, meinen Schatz, ein Beweis für mögliche Erfolgschancen und praktisch gesehen, erst einmal Nahrung für ein paar sorglose Tage. Ich hatte nun ein bisschen Zeit zum Suchen nach Essbarem gewonnen. Der Erfolg gab mir Hoffnung. Zwar eine Hoffnung auf eine Zukunft ohne Sicherheit, aber immerhin eine Zukunft mit Grund zur Zuversicht. Vielleicht wird es nicht immer so sein und dann hoffe ich auf eine zweite Chance, aber diesen Erfolg wird mir nie einer nehmen können. Vielleicht werde ich von meinem Erfolg länger zehren können, als von den Äpfeln selbst, denn nun gab es in meinem Wissen eine beruhigende Gewissheit: Was einmal möglich war, kann ein zweites mal nicht grundsätzlich unmöglich sein. Ich hatte Gesiegt! War dies vielleicht das Geheimnis der Hoffnung?

Ich beschloss, ab jetzt, jede meiner Erfahrung im Nachhinein zu überdenken, um mir immer wieder bewusst zu machen, wo ich im Leben stehe, was ich aus meiner letzten Erfahrung lernen könnte und ob das Leben mehr aus guten oder schlechten Erfahrungen besteht.
Vielleicht braucht man ausschließlich schöne Erfahrungen, um Hoffnung zu haben.

„Nun“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Mut, besiegte ich die Angst und hatte Erfolg.
Durch meinen Erfolg, erkannte ich meine Macht und gewann an Mut.
Glücklich über meine erfolgreiche Tat und, durch das Erkennen meiner Macht, mutiger, bin ich nun zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“

Dann schwang ich meinen Rucksack auf den Rücken, zog mit einem festen Ruck die Trageriemen fest, ging zurück auf den Weg und setzte meine Reise in die Tiefen des Waldes und der Ungewissheit fort.

„Die Sonne begrüßt dich und die Träume machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Die Glöckchen
Ich folgte dem sich schlängelnden Weg durch das Gehölz. Mit jedem zügigen Schritt, den ich ging, wippte mein kleiner Rucksack auf meinen schmalen Schultern leicht hin und her. Meine Trageriemen passten sich, in einem leisen Knartschen, den Bewegungen an. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die letztens noch meinen Weg beschienen, blieben nun aus. Es Dämmerte. Links von mir funkelte ein zaghaftes Glitzern durch die Bäume.

„Dies könnte der See der Lichtung sein, den ich von meinem Baum aus gesehen hatte“, dachte ich mir.

Das Gezwitscher der Vögel veränderte sich, denn so die einen sich schlafen legten, wachten andere auf. Und seltsame Rufe hallten nun durch den Wald.
Ich kam an eine Gabelung. Der Hauptweg schien geradeaus zu gehen. Zu meiner Rechten, verschwand im Dunkeln ein Weg, unter einem dichten, niedrigen Blätterdach, mehrerer ausladender Bäume. Irgendetwas bewegte sich dort. Aus selbiger Richtung hörte ich leise Glöckchen läuten. Ich stellte mich an die linke Seite des Weges und versuchte, so gut ich konnte, zu erspähen, was sich dort aus dem dunklen Tunnel auf mich zu bewegen würde. Die Glöckchen wurden lauter. Schwarze Schatten kamen aus der Dunkelheit hervor. Es waren menschenähnliche Gestalten, eingehüllt in langen dunklen Kutten. Ihre Gesichter waren unter Kapuzen versteckt. Der Vorderste trennte sich aus seiner Formation und kam direkt auf mich zu. Er hob seinen Kopf und ein großer Schnabel schaute mich an.

„Gehet aus dem Weg Fremder und fliehet! Die Pest geht um!“

Er griff zu seinem Schnabel und schob mit ihm eine Maske nach oben. Dunkle Augen, so schwarz wie Löcher, starrten mich ernst aus einem grauen Gesicht an.

„Gehet Fremder und verweilet nicht, sonst seid auch ihr des Todes geweiht!“

Hinter ihm strömten weitere Menschen aus dem Dunkeln hervor. Mit aufgerissenen Augen, tippelte ich unbeholfen rückwärts eine kleine Böschung hinunter, bis ich mit meinem Rücken gegen einen Baumstamm stieß. Der Mann mit der Maske klappte seinen Schnabel wieder herunter, setzte sich erneut an die Spitze der armen Geschöpfe und lotste sie auf den Weg in die Richtung, aus der ich kam. Sie zogen sehr langsam an mir vorbei. Außer ein vereinzelndes leises Wimmern, war von ihnen nichts zu hören. Sie stützten sich gegenseitig, wenn sie alleine nicht mehr gehen konnten. Einige hielten Kinder in ihren Armen. Viele dieser Kinder schienen tot zu sein, denn sie ließen ihre kleinen, grauen Ärmchen nach unten hängen, und sie baumelten unbeteiligt hin und her, selbst wenn sie irgendwo anstießen. Aber selbst die kleinen Kinder, die noch lebten und mich manchmal mit ihren großen Augen ansahen, gaben keinen Mucks von sich. Zuletzt zogen sie einen, mit Leichen beladenen, Handkarren an mir vorbei und hinterließen einen süßlichen Geruch der Verwesung. Langsam verschwand die Menge wieder im Dunkeln. Das Poltern der Holzräder wurde immer leiser und der Klang der Glöckchen verstummte. Stille kehrte ein. Plötzlich schreckte mich ein lautes Knackten im Wald auf. Irgendwo im Gehölz ortete ich das Flattern aufsteigender Vögel. Ich schaute mich um. Es war nun beinahe Nacht.
Ich entschied mich, links meines Weges, querfeldein, durch den Wald zur Lichtung zu gehen. Langsam tastete ich mich an den dunklen Baumstämmen vorbei und trat, möglichst behutsam, auf den unsichtbaren Waldboden auf. Hin und wieder zerstörte ich trotzdem die Stille der Nacht und zerbrach unverhofft, laut krachend, einen großen Zweig unter meinen Füßen. Immer deutlicher glitzerten, zwischen den Bäumen, die kleinen Wellen des Sees hindurch, der sich hinter der Waldkante, in einer Lichtung, befinden sollte. Bald erreichte ich den Waldrand und hatte freien Ausblick auf den See. Vorsichtig stieg ich den dahinterliegenden Hang hinab und erreichte schließlich, in einer kleinen Bucht, den Strand. Dicht vor dem Wasser kniete ich mich in den Sand, löschte meinen Durst und setzte mich auf den Boden. Ich lehnte mich nach hinten, stützte mich auf meine Ellenbogen auf und streckte meine Beine. Einige hundert Meter von mir entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Sees, toste ein silberner Wasserfall im fahlen Schein des inzwischen aufgegangenen Vollmondes. Ich blickte zum Mond auf und bewunderte die kalte Schönheit dieses weißen Himmelskörpers, der sich einsam im glitzernden See widerspiegelte und zwischen den dunklen Wäldern der Nacht, die funkelnde Kontur der Wasseroberfläche, hervorhob. Seine tröstenden Strahlen fielen sanft auf meinen Strand und tauchten ihn in weiches Licht. Müde öffnete ich meinen Rucksack, nahm einen meiner Äpfel heraus und aß ihn sehr langsam.

„Nein“, sagte ich mir, „dies war keine schöne Erfahrung:
Eben erkannte ich meine Ohnmacht und verlor dadurch an Mut.
Durch meinen verloren gegangenen Mut, fühlte ich mich meiner Angst wehrlos ausgeliefert. Nun fürchte ich mich vor einer Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit weiß.“

Traurig, über meine erfolglose Tatenlosigkeit, vom Mitleid langsam ins Selbstmitleid verfallend und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, feiger, bin ich nun wieder skeptischer in meiner Hoffnung.“

Ermattet und Müde des Hoffens, legte ich mich in den Sand, ließ die seltsamen Eindrücke des Tages, wie ein Echo, verklingen und schlief schließlich in einem Strom der Bilder ein.


Ein Leben am Wasserfall

Die Sonne ging auf. Es war klarer blauer Himmel. Leise rauschten die Wellen, wenn sie sich beim Erreichen des Strandes ein letztes Mal aufblähten, um letztendlich doch nur aufzulaufen. Doch sie brachten feine Sedimente aus den Tiefen der Wasserwelt ans Tageslicht. Und kleine Schätze, angespült aus einer Welt, der Strömungen, flogen nun, in einer Welt der Winde umher. Der gegenüberliegende weiß glitzernde Wasserfall zeigte sich, in der aufgehenden Morgensonne, in erhabendem Stolz. Die spritzende Gischt, an seinem Fuße, läutete im lauten Getöse, kraftvoll und selbstsicher, ohne Scham und Muße, die lebendige Freude des Lebens an diesem Tage ein und sprudelte die Luft des Morgens und die Strahlen der Sonne, zwischen die verschlafenen Wogen des Sees.

„Die Sonne begrüßt dich und die Wassern machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und ich entledigte mich meiner Kleider. Nackt schwamm ich durch die erfrischende Kühle des Sees und näherte mich mit wachsender Vorfreude dem glitzernden Wasserfall. Ich erreichte das andere Ufer und erklomm einen warmen, glatten Felsbrocken, der mir mit seiner sanften Neigung aus dem kalten Nass, einladend, zum einfachen Aufstieg verhalf. Um den Wasserfall, bildeten aneinandergereihte Felsbrocken, eine kleine Bucht. Wie auseinandergezogene Vorhänge, teilten sich die herunterstürzenden Wassermassen in einen großen Hauptwasserfall und einen kleineren Nebenwasserfall. Dieser verfehlte den direkten Weg in den See und erschüttete sich statt dessen, wie eine große Dusche, auf einem glatten Felsplateau. Ich näherte mich dieser von Gott erschaffende Brause, stellte mich schließlich unter sie und genoss das prickelnde Gefühl der lauwarmen Massage. Langsam schritt ich näher zur Felswand und ließ den Wasserfall, über mich, seinen großen Bogen ziehen. Ich drehte mich um und beobachtete, wie die Sonne, durch die Kristalle der gläsernen Wasserfäden, ihre bunt glitzernden Strahlen brach, während sich die Konturen und Farben, der dahinterliegenden Landschaft, wabbernd verzerrten. Ein ungewöhnlicher Schatten unterbrach das Farbenspiel. Ich trat durch den Wasserfall hindurch und sah am Ufer des Sees, einige Meter vor mir entfernt, einen kaum bekleideten Mann auf einem Felsen stehend. Er stand mit dem Rücken zu mir und trug nichts, außer einen Lendenschurz und einen alten Strohhut. In seinem rechten ausgestreckten Arm hielt er einen bedrohlichen Speer, an dessen hinteren Ende, eine Schnur hing. Plötzlich warf er ihn blitzschnell vor sich ins Wasser. Ich ging langsam auf ihn zu und sah, wie der Mann seinen Speer, mit einem Fisch an der Spitze, wieder herausholte. Er drehte sich zu mir um, musterte mich einen Augenblick und wendete seinen Blick dann wieder von mir ab, um sich seinem Fang zu widmen. Ich stellte mich neben ihn auf den Felsen.

„Was tut Ihr dort?“, fragte ich ihn.

„Ich fische. Sind besonders köstlich“, antwortete er spartanisch, lege den getöteten Fisch neben sich auf den Felsen und beobachtete, ohne mich weiter zu beachten, wieder die Wasseroberfläche. Der Fisch zuckte noch ein paar Mal. Dann lag sein schuppiger Körper, silbern glänzend, in der Sonne und ein großes, totes Auge starrte mich an.

„Um selbst zu leben, musste der Mann also Fleisch essen und dafür einen Fisch töten“, dachte ich: „Und das nennt man dann also Fischen.“

Ich folgte dem Ziel seiner Blicke und sah, wie sich viele Fische am Rand des Wasserfalls im sprudelnden Wasser tummelten. Wir standen beide auf diesem Felsen und beobachteten schweigend das Geschehen.

„Die Fische töteten sich nicht gegenseitig“, dachte ich weiter. „Sie fischten nicht. Vielleicht würden sie „menschen“, wenn sie stärker wären als der Mensch, um sich von seinem Fleisch zu ernähren, um selbst zu leben.“

Ich blickte auf meinen eigenen Körper:

„Bot mein Körper, dem Fischer, nicht viel mehr Fleisch, als ein Fisch? Dennoch menschte er nicht, sondern fischte. Warum? Vielleicht lag es ja daran, dass wir uns beide mehr glichen, als ein Mensch dem Fisch. Ist es dann richtig, zu töten, was andersartig ist, aber falsch, zu töten, was gleich ist? Es scheint auf jeden Fall ein Vorteil zu sein, dem stärkeren und nicht dem schwächeren zu gleichen.“

Mir fiel auf, wie sich ebenso die sich gleichenden Fische gefunden hatten, um ihr Leben innerhalb eines Schwarmes gemeinsam zu verbringen.

„Vielleicht ist es ein Vorteil, überhaupt jemandem zu gleichen.“

Ich schaute den Fischer an, musterte seinen muskulösen Körper und seine scharfe Waffe.

„Wir sind uns nicht gleich“, überlegte ich weiter, „nur ähnlich. Ich sehe nicht genauso aus wie er und vermag nicht mit den gleichen Fähigkeiten aufzuweisen. Was würde er wohl tun, wenn er bemerkte, dass wir uns nicht glichen, sondern nur ähnlich waren? Wann würde er beginnen in mir einen Fisch zu sehen?“

Der Fischer drehte sich zu mir um und seine grün leuchtenden Augen, in seinem versteinerten Gesicht, schienen mich zu durchbohren. Dann lege sich zögernd ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht und er fragte mich freundlich, mit tiefer und ruhiger Stimme:

„Möchtet Ihr es auch einmal versuchen, Fremder?“

„Ihr fragt mich?“, reagierte ich etwas überrascht und zögerte einen Moment.

Dann begann ich allmählich zu verstehen: Er hatte wohl durchaus unsere Ungleichheit gesehen, aber auch unsere Ähnlichkeit erkannt. Es bestand also scheinbar aus seiner Sicht, zwischen uns, die Chance des Aufbaus von Gemeinsamkeiten und nun verhalf er mir, mich ihm anzugleichen. Vielleicht um zu testen, wie sehr ich für ihn Mensch oder Fisch war?
Trotz meines Bewusstseins, mit meinen Fähigkeiten und seinen Erwartungen konfrontiert worden zu sein, wagte ich, die Herausforderung anzunehmen.
Ich versuchte mich locker zu geben.

„Ja, warum eigentlich nicht“, antwortete ich.

Der Fischer überreichte mir seinen Speer und ließ mich amüsiert meine Versuche machen.
Zu dieser Zeit war ich für ihn wohl nur ein männlicher Backfisch.
Ich suchte mir einen besonders dicken Fisch aus und warf den Speer, mit aller Kraft, auf mein Ziel und voll daneben. Ich hätte schwören können, dass ich ihn hätte getroffen haben müssen.
Der Fischer bat mich um die Rückgabe des Speeres und hielt ihn dann zur Hälfte ins Wasser.
Der lange Stiel des Speeres schien unter der Wasseroberfläche einen Knick nach oben zu bekommen.

„Seht Ihr das?“, fragte er mich schmunzelnd, „die Welt unter Wasser bekommt ihr eigenes Licht. Die Oberfläche bricht die Strahlen der Sonne. Ihr müsst unter den Fisch zielen, um ihn zu treffen!“

Er drückte mir energisch seinen Speer in die Hand und forderte mich mit einem Nicken zu einem neuen Versuch auf. Und ich zielte dieses Mal unterhalb eines Fisches und traf.
Wir lachten beide und freuten uns über den Erfolg. Ein Erfolg im Lehren und Lernen und ein Erfolg im finden einer neuen Zusammengehörigkeit.
Wir wechselten uns ab und holten noch einige Fische heraus. Und wenn der eine Müde wurde, machte der andere weiter.
Bald war ich nicht mehr nur sein Schüler und er nicht mehr nur mein Lehrer, sondern wir wurden Partner, die für ein gemeinsames Ziel kämpften. Das Ziel, uns beim Fang von unserer Nahrung, gegenseitig zu unterstützen. Das Ziel, gemeinsam zu überleben.

So gut wie er, war ich natürlich nicht. Wir hatten schließlich 10 Fische gefangen. Ich konnte dabei mit einer Beteiligung von drei Fischen „glänzen“. Aber dies schien nicht wichtig zu sein, auch nicht für ihn. Vielleicht war dem Fischer bewusst, dass es auch für ihn schlechter hätte ausgehen können. Vielleicht wusste er, dass es um mehr, als den kurzfristigen eigenen Erfolg ging, denn was nützt er einem, wenn man sich dadurch eventuell zukünftigen Chancen beraubt. Vielleicht hatte er aber auch einfach eine weitsichtigere Lebenseinstellung, eine Einstellung für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden. Nun war ihm meine Gnade sicherer, falls er meine Hilfe brauchen würde, so wie ich seine Gnade erfuhr, als er mir half.

Bald holte er ein paar trockene Äste und feines Gestrüpp aus dem Wald, entzündete ein kleines Feuer und zeigte mir, wie man Fische ausnimmt. Als der Abend einbrach, saßen wir am Feuer und hielten an langen Stöcken unseren Fang in die züngelnden Flammen. Die Sonne ging unter und nahm alle Farben mit sich. Nur das Feuer glühte noch rot und ließ flackernde Schatten über die Felsen huschen. Wir aßen voller Genus den heißen Fisch und redeten bis tief in die Nacht. Er erzählte mir von seiner Frau und seinen Kindern, vom Jagen und Fischen, Überfluss und Hunger, von guten und schlechten Zeiten, Glück und Trauer, von Zeiten der Anerkennung und der Einsamkeit, untermalt vom Prasseln des Feuers und aufsteigenden Funken aus der Glut. Wie viele Dinge er in seinem Leben erlebt hatte, dachte ich mir. Manche seiner Ereignisse waren so komisch, dass ich vom vielen Lachen schon Bauchschmerzen bekommen hatte. Er gestand mir seine eigene Unvollkommenheit und war für mich damit so himmlisch menschlich. Wie hilflos er manchmal war, wenn er schwere Zeiten durchstand. Und wie wundervoll und spannend manche seiner vielen Entdeckungen über die Zusammenhänge des Lebens waren. Dann kehrte Müdigkeit ein. Die Flammen verloren an Kraft und wir rückten näher ans Feuer zusammen, um uns liegend, trotz kleiner werdenden Gezüngels, wenigstens an der ausstrahlenden Wärme der roten Glut, gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Genüsslich gesättigt, angenehm gewärmt und nicht allein, war dies eine besonders beruhigende und schöne Nacht für mich.

„Ja“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Tatendrang und meiner Neugierde, Offenheit und Vertrauen, wurde meine Neugierde befriedigt und mir Offenheit und Vertrauen geschenkt.
Durch Offenheit und gegenseitigem Vertrauen, legte sich eine Sicherheit der Zweisamkeit, über die Unsicherheit meiner Einsamkeit.“

Glücklich, über die Belohnung des erfolgreichen Sieges über meine Trägheit, glücklich, ein Geschenk einer neu gefundener Sicherheit in der Zweisamkeit empfangen zu haben und, durch das Erkennen meiner Macht, sogar unerwartete Chancen finden zu können, mutiger, bin ich nun wieder zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“

Ich drehte mich auf den Rücken, betrachtete den silbernen Mond, wie er still über uns wachte und schlief zufrieden ein.

Die Weiterreise
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren der Fischer und jegliche Spur von ihm, verschwunden. Die Welt war in diesen frühen Morgenstunden noch grau. Ein dünner Rauchfaden schlängelte sich zwischen der grauen Asche aus der verliebenden Glut in den Himmel. Vor mir spielten kleine Wellen ihr Spiel, mit den Rändern der Felsen. Der Wasserfall rauschte in befremdlicher Eintönigkeit. Eine Zeitlang hoffte ich noch, er käme zurück, aber ich wartete vergeblich. Die einzigen Stimmen, die ich manchmal unter dem Rauschen des Wasserfalles zu hören glaubte, entsprangen nur meiner Phantasie. Und so saß ich alleine, einsam und still, auf einem kleinen Felsen, in Mitten der weiten unbekannten Landschaft. Ich wartete an einem verlassenen Ort und mir wurde allmählich bewusst, dass ich wieder alleine war.

Eine kühle Brise frischte unter der grauen Wolkendecke auf und ich bekam Gänsehaut.
Nach einiger Zeit raffte ich mich dann schließlich schwermütig auf, sprang fröstelnd in das kalte Wasser und kraulte durch die grünen Luftblasen, unter den langsam schwingenden Wogen der langen großen Wellen, zurück zu jener Bucht, wo ich meinen kleinen Rucksack und meine Kleider zurück gelassen hatte. Ich erreichte nass und unterkühlt den Strand und sah meinen Rucksack neben meinen verstreuten Kleidern im Sand liegen. Erst jetzt viel mir auf, wie lieblos ich meine Sachen zurückgelassen hatte. Ich zog sie aus dem Sand und kleidete mich im kühlen Wind an. Der Himmel blieb von dünnen, grauen Wolken bedeckt und überließ die schläfrige Sonne ihrer Träume. Als ob ich Angst hätte jemanden wecken zu können, setzte ich mir leise meinen Rucksack auf, zog meinen Kragen hoch und machte mich dann still auf den Weg in Richtung des Waldes, hinter dessen Baumstämme mir der Wind nicht folgen würde und ein Blätterdach mein Schutz vor Regen war. Und so verließ ich schließlich den Hang, am höchsten Punkt der Bucht, entfloh meiner Fernsicht über die hellegraue Weite und tauchte in das dunkelgrüne Dickicht des Waldes ein, an dessen Dunkelheit sich meine Augen erst noch gewöhnen mussten.

Langsam kroch ich durch das Unterholz und ließ den See immer weiter hinter mir. Ich drehte mich nicht um. Bald erreichte ich wieder den Weg an der Stelle, an der ich ihn verließ und warf an der Wegesgabelung einen kurzen Blick in Richtung des noch immer dunklen Blättertunnels, aus der, vor noch gar nicht langer Zeit, die Pestkranken herauskamen. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich die Glöckchen hörte und dunkle Schatten aus dem schwarzen Loch zu mir ins Licht traten. Doch das Loch wartete still und ereignislos und drohte nur mit meinen Erinnerungen. Es war, als ob es auf eine kurze Unaufmerksamkeit von mir warten würde, um mich dann plötzlich wieder mit einem schrecklichen Ereignis überraschend überrumpeln zu können.
Ich entschloss dem größeren, helleren Hauptweg zu folgen und marschierte los. Immer dichter werdender Nebel legte sich über meinen Weg. Ich hörte kein Vogelgezwitscher. Außer meinen eigenen Schritten, meinem Atmen und dem typischen Knartschen der Lederriemen meines kleinen Rucksacks, hörte ich nichts. Zwischen den Baumwipfeln drang ein dunkles gleichmäßiges Licht aus dem grauen Himmel über mir und erreichte nur schwach den Boden zu meinen Füßen.

Der Bettler
Ich bewegte mich tiefer in den Nebel hinein und erahnte langsam eine Gestallt, die rechts am Wegesrand sitzend, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt war. Dieser Mensch saß dort ganz alleine. Sein Körper war in lange dunkle Tücher gehüllt und sein Gesicht unter einer Kapuze versteckt. Als ich mich ihm näherte, hob er seinen rechten Arm und streckte mir seine nach oben geöffnete Hand wie eine Schale entgegen. Seine Kapuze war so weit nach vorne gezogen, dass es mir unmöglich war, im Schatten seiner Kopfverschleierung, sein Gesicht zu erkennen. Unnachgiebig hielt er mir seinen Arm entgegen, ohne etwas zu sagen.
Ich wusste, dass er mich um eine Spende bat, doch ich wusste nicht, was ich ihm hätte geben können. Wenn ich ihm meinen letzten Apfel geschenkt hätte, wäre er um diesen Apfel reicher als ich und ich um diesen Apfel ärmer als er geworden. Hätte ich mit ihm meinen Platz tauschen sollen? War mein kleiner Apfel nicht die einzige Sicherheit für diesen Tag, die ich noch hatte? Ich wendete mich von ihm ab und ließ ihn, an seinen Baum sitzend, im Nebel alleine. Ich schämte mich. Die Last meines Rucksackes erschien mir schwerer zu werden, meine Schritte wurden schleppender und mir wurde leicht schwindelig.

Unbekannte Früchte
Bald erschien auf der linken Seite meines Weges ein kleiner Gemüsestand. Hinter einem niedrigen Holztisch saß eine Frau und schaute mich auffordernd an. Vor ihr lagen, in kleinen Flechtkörben sortiert, Auberginen zum Verkauf bereit. Noch nie hatte ich Auberginen gesehen. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen. Und so schlurfte ich schweren Schrittes weiter meines Weges und ließ auch sie zurück.

Dann kam ich an einen zweiten kleinen Gemüsestand, ebenfalls zur Linken meines Weges. Auch hier saß jemand hinter einem kleinen Holztisch. Vor ihm stapelten sich in flachen Holzkisten, leuchtend rote und fast runde Tomaten. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen.

„Welch Vielfalt es doch gibt“, dachte ich mir und ging einerseits erfreut über die schöne Erfahrung über die Vielfalt, doch anderseits traurig über meinen Ausschluss an der Teilnahme dieses Lebensspiels, langsam weiter.

„Hey,“ rief mich jemand von hinten, „fang auf!“

Ich drehte mich um. Der Mann hinter dem Tomatenstand war aufgestanden und warf mir augenblicklich eine seiner Tomaten zu. Ich fing sie auf und hielt diese kostbare rote Murmel in meinen Händen. Ich lächelte ihm zu und versuchte, so deutlich es ging, ihm meine Freude über sein Geschenk, dankend, mit einer Armbewegung, zu zeigen. Ich biss erwartungsvoll in das rote Fleisch der Tomate und versuchte, so intensiv wie möglich, alle Geschmacksreize wahrzunehmen, um den herrlichen Saft in seiner Vollkommenheit zu kosten.


Gnadenlos
Schließlich ging ich weiter. Aber es fiel mir immer schwerer. Bald war mir so schwindelig und ich fühlte mich so schwach, dass ich mich an einen Baum setzen musste, um zu pausieren. Mir wurde abwechselnd warm und kalt. Meine Füße schienen nach oben schweben zu wollen.

„Was ist nur los mit mir?“, fragte ich mich. „Bin ich etwa krank geworden?“

Wie vom Blitz getroffen, durchfuhr mich eine schreckliche Ahnung:

„Hatte ich mich bei den Aussätzigen angesteckt? Hatte ich die Pest?“

Ich versuchte meinen Körper nach irgendwelchen ungewöhnlichen Merkmalen zu untersuchen, aber meine Sinne waren inzwischen zu sehr getrübt, um mir einen klaren Eindruck über mich verschaffen zu können und meine, bei jeder Bewegung schmerzenden Glieder, ließen mich bald meine Selbstanalyseversuche aufgeben.

„Du musst weitergehen!“, ermahnte ich mich und zog mich am Baumstamm hoch.

Ich fühlte mich elendig. Langsam schlurfte ich weiter und hustete immer wieder irgend etwas Schleimiges aus. Alles begann sich um mich zu drehen. Ich verlor mein Gleichgewicht und viel der Länge nach auf den Boden in den Matsch. Erneut kroch ich zum nächsten Baumstamm und versuchte mich auf einen Punkt, in der sich um mich drehenden Welt, zu konzentrieren. Wieder saß ich, mit meinem Rücken gegen einen Baum gelehnt, am Wegesrand.

„Du musst etwas essen“, sagte ich mir.

Ich griff in meinen Rucksack und holte meinen letzten Apfel heraus. Es fiel mir schwer, das scheinbar hohe Gewicht des Apfels zu heben. Ich setzte ihn an meinen Mund an, doch es fehlte mir die Kraft, in ihn hineinbeißen zu können. Dann fiel er mir aus der Hand und rollte davon. Mir wurde bitter kalt. Ich versuchte, so gut es ging, mich in meinem Hemd zu verstecken und kauerte mich zusammen.
Plötzlich kam eine kleine Gruppe von drei fröhlichen Menschen an mir vorbei. Sie schienen gut gekleidet zu sein und wurden durch meinen Anblick in ihrem lauten Lachen kurz unterbrochen. Ich streckte meinen rechten Arm und hielt ihnen meine nach oben geöffnete Hand, fast wie eine Schale, entgegen, auf dass sie meine Hand ergreifen würden, um mir zu helfen. Ich versuchte sie anzusprechen, doch mein Hals war so zugeschnürt, dass ich es nicht vermochte, auch nur einen Ton herauszubringen. Einen kurzen Moment lang sahen sie mich überrascht an. Dann begann einer von ihnen die Stille durch einen Spruch zu unterbrechen und regte die anderen hierdurch zum Lachen an. Sie gingen fort und verließen meine Welt ebenso laut, wie sie gekommen waren.
Ich ließ meinen Arm fallen.
Ruhig hörte ich der Stille zu und lauschte meinem schweren Atem. Ab und zu verlangsamte sich die Drehung meiner Welt und kam zum Stillstand. Mein Arm lag erschlafft neben meinen Beinen auf dem feuchten, kalten Boden. Meine Kleidung war dreckig und bedeckt von Matsch. Ich schaute auf meine noch immer geöffnete, zitternde Hand.

„Natürlich!“, leuchtete es mir ein, „ich musste für sie nicht anders ausgesehen haben, als der Bettler, den ich vorhin am Wegesrand seinem Schicksal überließ.“

Und mir wurde plötzlich bitterlich bewusst, dass ich wohlmöglich keinen Bettler, sondern einen um Hilfe bittenden Kranken zurückgelassen hatte. Was ich möglicherweise ihm angetan hatte, passierte nun mir. Nun ging es mir richtig dreckig.

Bald kam ein Wandersmann des Weges. Auch er hielt bei meinem Anblick für kurze Zeit inne. Ich ließ mich nach vorne fallen und versuchte ihm entgegen zu kriechen, blieb aber kraftlos liegen. Der Wandersmann wich zurück und wechselte schnell die Wegesseite. Dann ging auch er fort und ließ mich zurück.

„Soll dies nun das Ende meines Lebens sein?“, fragte ich mich. „So weit bin ich gekommen und nun, noch kurz bevor ich meine vier Wochen des Lebens erreicht habe, bin ich gezwungen zu verlieren. Hatte der alte Mann in Eden doch recht und Gewinnen ist letztendlich unmöglich?“

„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an seine Worte.

„Nein“, sagte ich mir, „diese letzte Erfahrung meines Lebens, war keine Schöne:
Durch meine Unfähigkeit mir selbst helfen zu können, erkannte ich meine Ohnmacht.
Ich fand nichts, was mir Sicherheit gab. Weder eine Sicherheit für mein Leben, noch eine Sicherheit in meinen Entscheidungen.
Was nützten mir die kurzfristigen Erfolge, die mir keine zukünftigen Chancen boten? Wo hatte ich Gnade gezeigt und wo blieb die der anderen, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade, letztendlich, in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden?
Ich fürchtete in meiner Vergangenheit zu Recht eine Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit gefunden hatte und erlag nun meiner vorauszusehenden Aussichtslosigkeit.
Traurig, über mein erfolgloses Leben, ins Selbstmitleid verfallen und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, stagniert, bin ich nun ohne jede Hoffnung.“

Meine Sinne schwanden und langsam begannen sich die Konturen meiner Umgebung aufzulösen. Die Nebel begannen sich um mich zu drehen. Schatten wurden zur Dunkelheit und ich stürzte in einen Strudel der Schwärze, durch einen Tunnel zum Licht.

Das Dorf
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines kleinen dunklen Raumes, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt lag ich barfuss und so leicht bekleidet in einem Bett, dass ich mein weiches Gewand, auf meiner Haut, kaum fühlen konnte. Ich empfand die weiße Bettdecke, über meinem sauberen Körper, als angenehm wärmend. Langsam erkannte ich vor mir ein kleines Flügelfenster, an dessen Seiten weiße Vorhänge bis zum Boden reichten. Links davon befand sich eine kleine Tür.
Die morgendliche Sonne floss sanft durch das kleine Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Das kleine Fenster war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinter liegenden Veranda, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die weißen Vorhänge leise und sanft nach außen schwingen.
Eine Frau in einem langen weißen Gewand beugte sich über mich und tupfte, mit einem kühlen, nassen Tuch, meine Stirn ab.

„Bin ich wieder im Garten Eden?“, fragte ich sie leise.

Sie setzte sich rechts von mir auf einen kleinen Hocker.
„Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht“, antwortete sie mit lieblicher Stimme und schenkte mir ein gütiges Lächeln.

„Wo bin ich dann? Wie komme ich hierher?“, stutzte ich.

„Ein Mann aus unserem Dorf hat euch unweit unseres Hauses auf dem Boden liegend gefunden. Ihr ward sehr krank und hattet Fieber. Vielleicht eine Infektion. Der Rat der drei Weisen entschied sich, euch vorübergehend bei uns aufzunehmen und gab mir die Ehre, die Verantwortung übernehmen zu dürfen, euch gesund zu pflegen.“

Sie griff zum Nachttisch neben dem Bett und reichte mir eine kleine Schale mit köstlich duftender Suppe. Ein großer Silberlöffel lag darin zum zugreifen bereit.

„Diese Kartoffelsuppe wird euch wieder Kraft geben“, untermauerte sie ihre Handlung. „Esst, aber seid vorsichtig, sie ist heiß!“

Sie unterstützte mich leicht mit ihrem freien linken Arm unter meinem Nacken. Ich setzte mich aufrecht hin und blickte in die klare Brühe der Schale. Mir fielen darin die kleinen gelben Stückchen auf.

„Kartoffeln?“, fragte ich sie und zeigte ihr ungehemmt meine Unwissenheit.

„Kartoffeln! – von unseren Feldern!“, antwortete sie etwas verwundert über meine Frage.

Kleinlaut äußerte ich die nächste Frage: „Felder?“

Sie schaute mich einfach nur an. Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, ob ich die Frage ernst meinte.
Ich nahm den Löffel in die Hand und schlürfte vorsichtig die heiße Suppe. Noch nie hatte ich etwas so köstliches gegessen. In meinen Gedanken wiederholte ich ihre Erklärung und bemühte meine Phantasie, mir irgendein Bild von ihrer Erklärung zu machen: „Kartoffeln! - von unseren Feldern! Soso.“

Ich merkte, wie sich mein Hunger langsam legte.

„Wieso hatte mich dieser Mann gerettet?“, schmatzte ich, bevor ich meine Suppe im Mund ausreichend heruntergeschluckt hatte. „Alle anderen gingen an mir vorbei.“

„Ja, es ist verständlich, dass ihr euch dieses fragt“, antwortete sie. „Der Mann, der euch fand, ist sich selbst und der Gemeinschaft natürlich wichtiger als ihr. Er war jedoch der Meinung, dass ihr dringender Hilfe brauchtet, als er selbst. Zu helfen, ist bei uns etwas Ehrenvolles. Er wusste, sich um euch zu bemühen, würde ihm zu mehr Ehre in der Gemeinschaft verhelfen.“

„Ist Ehre denn so wichtig?“, hakte ich nach.

Sie versuchte es mir zu erklären: „Um so ehrenvoller jemand ist, desto wichtiger ist er für die Gemeinschaft und um so wichtiger jemand in der Gemeinschaft ist, desto mehr Hilfe kann er aus dieser erwarten, denn die drei Weisen beschließen für die Gemeinschaft vorrangig zuerst das zu tun, was am wichtigsten ist. So wird auch von der Gemeinschaft erst dem geholfen, der am wichtigsten ist. Wichtiger als das wichtigste ist nur, was dringender ist, solange das ansonsten wichtigste nicht durch seine zurückgesetzte Priorität gefährdet ist.“

Sie schaute mich prüfend an und versuchte aus meinen Augen abzulesen, ob ich sie richtig verstanden hätte. Dann suchte sie nach einfacheren Worten:

„Die Gemeinschaft konnte es sich eben leisten, sich um euren dringen Fall zu kümmern, ohne wichtiges für uns zu gefährden. Da ich zur Zeit von allen am wenigsten Hilfe benötige, wurde mir die Ehre erteilt, euch pflegen zu dürfen. So verdanke ich euch meinen Zuwachs an Ehre. Die Hilfe der Gemeinschaft wird mir gewisser.“

„Wer ist denn der wichtigste?“, frage ich sie nach einer längeren Denkpause.

„Der Einzelne ist sich selbst wichtiger als ein Anderer, denn der Einzelne kann dem anderen nicht helfen, wenn er selbst mehr Hilfe braucht, als dieser. Wichtiger als man selbst, ist für den Einzelnen jedoch die Gemeinschaft. Jeder Einzelne würde sich für die Gemeinschaft opfern, wenn dieses Opfer der Gemeinschaft helfen würde.
Aus Sicht der Gemeinschaft, ist es genau umgekehrt. Das wichtigste für die Gemeinschaft ist, der Einzelne. Die Gemeinschaft würde sich für den einzelnen opfern, wenn dieses Opfer dem Einzelnen hilft. So ist für die Gemeinschaft die Minderheit wichtiger, als die Mehrheit und der Einzelne wichtiger als die Minderheit, denn jede noch so große Gemeinschaft ist nur das Ergebnis der Verhaltenweisen aller Einzelner. Wir glauben, eine Gemeinschaft muss sich an seinem Umgang mit seiner Minderheit messen lassen“, erklärte sie.

„Und wer sind die drei Weisen?“, hakte ich weiter nach.

„Die drei Weisen sind die Einzelnen, die in der Gemeinschaft die höchste Ehre erreichten und die Anlaufstelle aller Informationen sind. Sie können daher am besten übersehen, wer und was das wichtigste für die Gemeinschaft ist, was entsprechend vorrangig getan werden sollte, welches das wichtigste Ziel ist und nicht gefährdet werden darf, wem vorrangig geholfen werden sollte und wer gerade am besten seine Hilfe zur Verfügung stellen könnte. Letztendlich stimmen wir dann ab. Da die Weisen durch ihr Amt nicht mehr selbst helfen können, behalten sie ihr Amt nicht auf Dauer, sondern geben früher oder später ihr Amt jeweils an einen nächsten ab, der mehr Ehre erlangt hat, als sie selbst. Sie sind nicht völlig frei in ihren Entscheidungen, denn auch sie haben sich an Leitlinien zu halten, wie jeder andere. Leitlinien entstehen durch die Gemeinschaft und durch sie werden sie auch verändert.“

„Leitlinien? Ihr meint die Regeln des Dorfes, nach denen ihr lebt?“

„Es gibt keine Regeln mehr, denn Regeln neigen dazu, irgendwann nur noch ihrer selbst zu existieren, ohne einen Sinn für das Leben zu haben. Wenn eine grundsätzliche Regel, gedacht für das Wohl der Gemeinschaft, sich in den meisten Einzelfällen als sinnlos herausstellt, wird die Regel automatisch wieder gestrichen. Die Bedeutung von Einzelfällen wird höher erachtet, als Grundsätzlichkeiten. Damit es überhaupt möglich ist, herauszufinden, ob Regeln sinnvoll sind, darf man sie jederzeit brechen. So darf jeder ungestraft eine Regel brechen, wenn er in einem Einzelfall eine Regel für sinnlos hält. Allerdings trägt man dann auch die Verantwortung dafür, falls man, durch einen Bruch einer grundsätzlichen Regel, der Gemeinschaft oder einem anderen, einen Schaden zugefügt hat, der, bei Beachtung der Regel, nicht eingetreten wäre. Auch in guter Absicht kann man sich demnach der Fehleinschätzung strafbar machen. Es ist also wichtig, alle Regeln mit Bedacht zu verwenden. Regeln wurden somit zu Leitlinien, denn neue Erfahrungen und jeweilige Lebenssituationen verändern sie und es gibt keinen Zwang ihrer Befolgung.
Leitlinien sind nun unser roter Faden. Sie geben uns Hilfe für Entscheidungen zum Wohle aller. Schließlich kommt es nicht auf die Einhaltung einer Regel an, sondern auf die dahinterliegende Absicht jeder Regelidee. Es ist eben nicht möglich, eine Verhaltensregel für einen Grundgedanken so zu formulieren, dass diese, in allen möglichen Lebenssituationen auch sinnvoll ist. Manchmal dient es einem Grundgedanken nicht, sich an eine Regel zu halten. Manchmal würde ein Halten an Regeln dem Grundgedanke sogar widersprechen. Sich an eine Regel zu halten kann zuweilen mehr Schaden anrichten, als eine Regel zu brechen. Wichtig ist der dahinterliegende Grundgedanke, also die Absicht hinter einer Regel. Regeln zwingen einen häufig zu unsinnigem Handeln, Leitlinien helfen uns zu überlegtem, verantwortungsbewusstem und sinnvollem Handeln.“

„Ist es dann nicht für den Einzelnen möglich, die Gemeinschaft für seinen eigenen Vorteil auszunutzen?“, äußerte ich kritisch.

„Falls jemand in böser Absicht, zu seinem Vorteil, einem anderen Einzelnen oder der Gemeinschaft, Schaden zufügt, riskiert er entehrt zu werden.“

Ich löffelte meine Suppe aus und leerte die Schale bis zum letzten Tropfen. Die Suppe war wirklich sehr lecker gewesen. Schließlich stellte ich die Schale auf den Nachttisch neben mich.

„Sag mir bitte, gibt es in eurer Gemeinschaft, wo die Gemeinschaft für den einzelnen das wichtigste sein soll, überhaupt noch einen Spielraum für Individualismus?“, provozierte ich sie absichtlich.

Ich wollte verstehen, wo sich ihre Lebensweise von anderen abgrenzt und welche Nachteile es aus diesen Vorteilen zu tolerieren gilt. Denn nur, wenn ich die Grenzen zu alternativen „Puzzleteilen“ zu sehen vermag, wenn ich die Silhouetten im Gefüge der Ganzheit erkenne, kann ich das Einzelne durch Differenzierung zum anderen vergleichen und verstehen. Nur so bin ich in der Lage etwas für mich zu beurteilen und gegebenenfalls eine Entscheidung zu treffen. Alles wird eben durch seine Grenze zum anderen definiert. So kritisierte ich absichtlich provokativ ihre Lebensweise und wartete auf eine erklärende Rechtfertigung, die mir hilft zu verstehen. Gemeinschaft und Individualismus ist doch ein Widerspruch in sich selbst, nicht war? Die „Nuss“ muss sie erst einmal knacken. Wie würde sie mit diesem Widerspruch umgehen? Ich wartete gespannt auf die Reaktion meiner Kritik.

Sie grinste mich an. Offenbar hatte sie mich durchschaut und mit dieser typischen Kritik gerechnet. Es gefiel mir, dass sie grinste, zeigte es mir doch, dass sie sich über viele Dinge Gedanken gemacht hatte und ich warte gespannt auf ihre Lösung dieses Konfliktes.

„Für uns ist Vielfalt wichtiger als Gleichheit“, antwortete sie verblüffend einfach. „Wir gehen davon aus, das jeder Mensch und jedes Wesen, über besondere einmalige Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, die mindestens einer, früher oder später, benötigt. Niemand ist nutzlos und niemand auf Dauer unabhängig von anderen. So ist die Natur. Das ist das Prinzip der Symbiose. Wir Menschen können uns darüber weitsichtige Gedanken machen. Sie funktioniert um so besser, desto vielfältiger das Ganze durch seine Einzelteile ist.
Stellt euch vor, ihr hättet ein Puzzle in einer festgelegten Größe. Wenn dieses Puzzle nur zehn Teile hätte und ihr würdet ein Teil herausnehmen, so gäbe es ein sehr großes Loch. Bestände das Puzzle jedoch aus Tausend Teilen, würde die Herausnahme eines Teiles nur ein sehr kleines Loch zur Folge haben. Da es niemanden gibt, der alles kann und auch niemand so sein kann, wie ein anderer, ist es also sinnvoll und am besten, möglichst unterschiedliche Personen zu haben.

Niemand weiß, was kommt und was man brauchen wird. Nicht selten gibt oder bekommt man etwas, ohne das es einem bewusst wird. Oft kann man erst nicht erkennen, wofür etwas gut ist. Keiner kann letztendlich mit Sicherheit sagen, weshalb sich das eine oder andere gerade in eine bestimmte Richtung entwickelt. Zu komplex sind die sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhänge der Kleinigkeiten, die in ihrem Zusammenspiel manchmal so große Wirkungen haben. Sicher kann man nur sagen, dass alles, früher oder später, eine Rolle spielen wird. Also kommt man zum Schluss, um so individueller der Einzelne in einer Gemeinschaft ist, desto besser.
So ist es im Interesse der Gemeinschaft, jedem Einzelnen bei der Suche zu helfen, sich selbst, seine Stärken und Schwächen, eben seine ganz eigenen Begabungen und Schwierigkeiten, zu finden. In dieser Zeit braucht der Einzelne natürlich Zeit für sich und manchmal die Hilfe der anderen. Früher oder später wird dieser jedoch seine Begabungen gefunden und entwickelt haben. Eines Tages wird er vielleicht sogar der einzige sein, der ausschließlich mit seinen Eigenschaften jemand anderem helfen kann.“

„Moment mal, manchmal muss es doch besonders dringende Fälle geben! Da kann sich der Individualist doch nicht einfach der Gemeinschaft entziehen!“, warf ich ein.

Sie nickte mit dem Kopf: „Der lernende Individualist, wie jedes Kind, ist vielleicht mehr auf Hilfe angewiesen, als er zu Helfen vermag, daher wird er meistens auch als letztes behelligt, die Ehre zu erhalten, anderen zu helfen. In dringenden Fällen erhält er jedoch die Chance, im Rahmen seiner Möglichkeiten, durch sein Helfen, mehr Ehre zu erlangen, um sich somit für die Zukunft der Hilfe anderer wertvoller zu erweisen. Möglicherweise geht es ja sogar um den existentiellen Erhalt der Gemeinschaft, von der er profitiert. Es ist zwar klug, sich zurück zu ziehen, um sich auf sich selbst zu besinnen und zu finden, aber es wäre dumm, tatenlos zu bleiben und andere in Ihrer Not alleine zu lassen, um den Verfall und das Ende desjenigen oder derjenigen zu sehen, dessen Hilfe man später direkt oder indirekt benötigt. Schließlich solltet ihr nie vergessen: Selbst, wenn ihr glaubt, für euch wäre jemand überflüssig, ein anderer braucht ihn vielleicht, um euch eines Tages helfen zu können. Oder wollt ihr vielleicht behaupten, ihr wüsstest immer, wer euch eines Tages helfen wird und wen dieser für sein Leben benötigte? Wer kann schon für sich selbst sagen, welcher Hilfe er eines Tages bedarf?
Was würde euch ein kurzfristiger Erfolg nützen, wenn ihr euch letztendlich, durch diesen Erfolg, eurer zukünftigen Chancen beraubtet? Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen sollen, ist Gnade wichtiger als Vorrecht.“

Ich erschrak, denn diese letzte Aussage kam mir sehr bekannt vor.
So zögerte ich einen Moment, doch eine letzte Frage musste ich noch stellen:

„Welche Hilfe bietet denn schon ein Musiker, Schauspieler oder Künstler? Nicht jeder findet seine Begabung als Arzt, kann andere gesund pflegen, ist vielleicht in der Lage, so eine leckere Suppe für jemanden zu kochen, ist ein guter Verkäufer oder kann so ein prachtvolles Bett bauen, wie dieses, in dem ich liege. Ist man nicht mit einer falschen Begabung dazu verdammt, ehrenlos zu bleiben?“

„Aber nein!“, warf sie ein. „Was glaubst ihr, von wem sich der Tischler die Inspirationen für die wunderschönen Drechselarbeiten an diesem Bett geholt hat? Er hat sicherlich so manches Bild und viele unserer Staturen der Künstler bewundert und trillerte während seiner Arbeit fröhlich ein Lied von unseren Musikern. Die Theaterspieler und Philosophen regen uns zum nachdenken an und verhelfen uns zu besseren Entscheidungen. Ohne Freude und Inspiration kann niemand schöpferisch sein oder hätte die Kraft, anderen zu nutzen. Kunst ist nicht weniger wichtig als Wirtschaft, im Gegenteil, denn ohne Gedanken, Produktion und Dienstleistung, gäbe es nicht den Indikator Tausch. Alles ist letztendlich notwendig, wie verrückt es anfangs auch erscheinen mag. Das ist eben das Gesetzt der Symbiose, die es ohne die Vielfalt nicht gäbe.
Was würde euch ein schneller Erfolg beim Bau eines Hauses nützen, wenn ihr hierfür auf ein solides Fundament verzichtet hättet?
Was nützt euch der Gewinn einer Schlacht, wenn ihr den Krieg verliert?
Man muss das Kalb eben erst groß ziehen, bevor man es melken kann.
Vergesst nicht, Erfolg liegt in der Weitsicht und Geduld, denn kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn ihr euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen können.“

Sie schaute mich immer noch freundlich an, lächelte und wirkte ehrlich glücklich.
Dann nahm sie meinen Teller vom Nachtschrank und verließ den Raum durch eine kleine, mit Schnitzereien geschmückte, Holztür und ging in einen anderen mir unbekannten Raum.
Eine Zeitlang starrte ich noch auf diese Tür, dann ließ ich meine Blicke im Raum umherschweifen, bis ich meine Aufmerksamkeit auf mich selbst lenkte. Ich analysierte mit einigen Bewegungen meinen Körper und kam schließlich zu dem Entschluss, dass es mir gesundheitlich eigentlich wieder recht gut ging. Plötzlich sprang die verzierte Tür auf, meine Pflegerin kam heraus und huschte, mir ein kurzes Lächeln zuwerfend, aus der Eingangstür neben dem Fenster ins Freie hinaus. Nun ja, ein wenig gehetzt sah sie aus. Sie hatte die Tür hinter sich nicht richtig verschlossen und so öffnete sie sich wieder und ich erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende Holzveranda, deren geschwungenes Geländer eine Linie vor dem Hintergrund des grünen Waldes bildete. Der Himmel darüber war strahlend blau und die morgendliche Sonne schien mir plötzlich alle schweren Gedanken zu vertreiben.
Wie friedlich es hier war.

„Die Sonne begrüßt dich und die Türe macht für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so stand ich auf. Ich entdeckte neben meinem Bett frische Kleidung, die mir die Frau neben dem Bett bereit gelegt hatte. Als ich sie anzog, entdeckte ich einen kleinen Spiegel hinter dem Bett. Ich ging auf ihn zu, betrachtete mein Spiegelbild und musste erst einmal lachen. Ich sah aus, wie ein eingelaufener Cowboy in zu großen Kleidern. Ansonsten aber sehr schick. Einzig der braune Wildlederhut passte wie angegossen. Noch etwas wackelig auf den Beinen, ging ich zur geöffneten Tür.

Noch kurz bevor ich die Veranda betrat, blicke ich nach links auf ein Schriftstück, das neben der Tür angeschlagen war. Eigentlich waren es drei Schriftstücke, doch sie schienen, wenn auch in etwas unterschiedlicher Interpretation, selbiges zu zitieren und auf das gleiche Wesentliche hinzuweisen:


„Ich bin jetzt auf dem Weg zu dir. Ich bleibe nicht länger in der Welt, aber sie bleiben in der Welt. Heiliger Vater, bewahre sie in deiner göttlichen Gegenwart, die ich ihnen vermitteln durfte, damit sie eins sind, so wie du und ich eins sind.
Solange ich bei ihnen war, habe ich sie in deiner göttlichen Gegenwart beschützt und bewahrt. Keiner von ihnen ist verloren gegangen, nur der eine, der verloren gehen musste, damit die Voraussage der Heiligen Schriften in Erfüllung ging.
Und jetzt bin ich auf dem Weg zu dir. Ich sage dies alles, solange ich noch bei ihnen in der Welt bin, damit meine Freude ihnen in ganzer Fülle zuteil wird.
Ich habe ihnen dein Wort weitergesagt. Deshalb hasst sie die Welt, denn sie gehören nicht zu ihr, ebenso wie ich nicht zu ihr gehöre.
Ich bitte dich nicht, sie aus der Welt wegzunehmen, aber sie vor dem Bösen in Schutz zu nehmen.
Sie gehören nicht zu dieser Welt, so wie ich nicht zu ihr gehöre.
Lass sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und weihe sie dadurch zum Dienst. Dein Wort erschließt diese Wirklichkeit.
Ich sende sie in die Welt, wie du mich in die Welt gesandt hast.
Ich weihe mein Leben für sie zum Opfer, damit sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und zum Dienst geweiht sind.
Ich bete nicht nur für sie, sondern auch für alle, die durch ihr Wort von mir hören und zum Glauben an mich kommen werden.
Ich bete darum, dass sie alle eins seien, so wie du in mir bist, Vater, und ich in dir. So wie wir sollen auch sie in uns eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die gleiche Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, so wie du und ich.
Ich leben in ihnen und du lebst in mir; so sollen auch sie vollkommen eins sein, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und dass du sie, die zu mir gehören, ebenso liebst wie mich.“



„Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.
Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkennen, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.“



„Ich bete für sie alle, dass sie eins sind, so wie du und ich eins sind, Vater - damit sie in uns eins sind, so wie du in mir bist und ich in dir bin und die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die Herrlichkeit geschenkt, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind –
ich in ihnen und du in mir, damit sie alle zur Einheit vollendet werden. Dann wird die Welt wissen, dass du mich gesandt hast, und wird begreifen, dass du sie liebst, wie du mich liebst.“



Hier wurde ein Mann zitiert, der sich in dieser Welt als einen Fremden betrachtete und von einer Erkenntnis erzählte. Eine Erkenntnis, die aus seiner Sicht jeden betreffen müsste. Eine Erkenntnis über eine tatsächliche Wirklichkeit, in der alles Eins wäre, in der also alles untrennbare Teile einer einzigen Einheit wären. Es wäre ja möglich, dass wir nur zu unvollkommen in unserer Wahrnehmung sind, um diesen Zusammenhang zu erblicken. Wer dieses jedoch sehen konnte, der müsste zum logischen Schluss kommen, das die Einheit seine eigenen Teile eigentlich nur lieben konnte und es entsprechen sinnvoll wäre, wenn sich auch die Teile gegenseitig und diese natürlich die gesamte Einheit, lieben würden, damit die Einheit, die wir ja dann alle zusammen wären, überhaupt sinnvoll und als Ganzes funktionieren kann. Alles andere wäre logischer weise absurd. Und ich schaute auf meinen Körper und vertiefte meine Gedanken. Würden zum Beispiel meine eigenen Zellen gegeneinander und gegen meinen Körper rebellieren, so würde ich krank werden und davon hätten meine Zellen schließlich auch keinen Vorteil, da sie von meinem Körper abhängig sind. Doch warum fehlte uns dann die Wahrnehmung für das Ganze? Warum sahen wir dann nicht, dass alles nur eins ist? Welchen Vorteil gibt es für eine Einheit, durch uns mit einer scheinbaren Vielfalt zu spielen? Wofür existiert die scheinbare Vielfalt? Dient sie, vielleicht wie Bauklötze, dem Akt der Schöpfung? Ist die Komplexität der vielfältigen Bedeutungen zwischen den Teile der Einheit so groß, dass hierin, für Teile wie uns, die Unfähigkeit begründet liegt, die Wahrheit über das Gesamte zu erkennen, was wir gemeinsam bilden? Da ich hier drei Zitate sah, ging ich davon aus, dass diese möglicherweise als Grundlage für eine Diskussion gedacht waren. Mir gefiel, dass sich diese Menschen mit solchen Grundgedanken auseinander setzten, denn wenn unsere Realität tatsächlich auf dieser oder einer ähnlichen Wahrheit beruhen würden, könnte dies einen bedeutenden Einfluss auf eine Überdenkung unserer Handlungsziele zur Folge haben.

Ich drehte mich wieder zur Tür, schob sie weit auf, betrat die große Veranda und atmete, erst vorsichtig und dann ganz tief, die wundervolle frische Morgenluft ein. Auf der Veranda standen ein Holztisch mit Stühlen und ein Schaukelstuhl. Außer mir, war niemand dort.
Ich stützte meine Hände auf das hölzerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die Wiese bis hin zum Wald schweifen.

„Dies, ist das Leben“, wusste ich.

Dann vielen mir laute Rufe und Gesänge auf. Irgendwoher kam Musik. Ich beschloss den Klängen nach zu gehen und stieg eine kleine Treppe von der Veranda hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den kleinen Hausweg und streifte barfuss durch den Morgentau des Grases, bis ich neben dem Haus auf einen großen Marktplatz einsehen konnte. Dieser Platz war umringt von vielen kleinen Fachwerkhäusern mit reetgedeckten Dächern. Ihre Fassaden waren mit bunten Bildern und Schnitzereien geschmückt. In der Mitte des Platzes stand ein hoher grüner Baum nebst einem großen Steinbrunnen. Auf dem Platz standen verschiedene Staturen und wunderschöne bunte Plastiken. Hinter dem Baum spielte eine Kapelle und die meisten Menschen tanzten und lachten. Nur ein Liebespaar schien sich gerade über irgendetwas zu streiten. Einige Kinder tobten um den Baum oder Brunnen herum und spielten fangen oder saßen auf dem Baum und sangen die Lieder der Musiker mit. Andere saßen auf dem Boden und malten oder schrieben etwas in den Sand.

Ich näherte mich den Zeichnungen im Sand. Einige Kinder waren vielleicht erst vier Jahre alt, konnten aber schon schreiben und rechnen. Sie machten es ihren Eltern nach. Es war für sie eine Ehre, anderen helfen zu können und so halfen sich auch schon die kleinen Kinder gegenseitig und brachten sich alles gegenseitig bei. So wuchs bereits die Ehre der Kinder.


An dem Baumstamm hing eine kleine Tafel. Ich ging hin und las, was dort geschrieben stand:


Wichtig ist das Wohl.
Wichtiges hat Vorrang vor Unwichtigem.
Dringenderes hat Vorrang vor Wichtigem, solange das Wichtige nicht gefährdet wird.
Das Wohl der Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen, sowie das Wohl des Einzelnen auch das Wohl der Gemeinschaft ist.
Für den Einzelnen ist das Wohl der Gemeinschaft das wichtigste.
Für die Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen das wichtigste.
Für die Gemeinschaft ist der Einzelne wichtiger als Minderheiten und Minderheiten wichtiger als die Mehrheit.

Ihr könnt dem anderen nur so weit ein ehrenwerter Helfer sein, wie Ihr Euch selbst Ehrenwert seid. So erlangt Eure Ehre.

Ehre sei dem, der Gnade hat, denn Gnade ist wichtiger als Recht.

Ehre sei dem, der anderen hilft seine einzigartigen Begabungen zu finden, welche sie auch sei, für wen sie auch sei, zum Wohle aller. Denn die Vielfalt ist das Vollkommene Ganze der unvollkommenden Einzigartigkeiten. So suchet nach der einzigartigen Begabungen jedes Einzelnen, derer jeder gebraucht wird.

Suchet und ihr werdet finden,
sähet und es wird wachsen,
habet Geduld und es wird vollendet,
bittet und es wird Euch gegeben,
bedenket der letztendlichen Schöpfungskraft in der Symbiose.

Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Leben.
Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Schöpfung.
Schöpfung ist Leben, wie Leben Schöpfung ist.
Ehre sei dem, der die Vielfalt unterstützt, denn er unterstützt die Schöpfung.
Ehre sei dem, der zum Wohle erschafft, denn er erschafft Leben.
Ehre sei dem, wer von dem gibt, was er erschaffen hat, zum Wohle aller, die da Eins sind, um den Prozess der Schöpfung fortzusetzen, mehr aus uns heraus zu werden, als wir sind, im Sinne Genesis.

Vielseitigkeit ist wichtiger als Einseitigkeit, denn sie schützt die Symbiose bei fehlender Vielfalt.
Ehre sei dem, der die Vielseitigkeit unterstützt, denn er unterstützt die Symbiose.

Kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn Ihr Euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt.
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.

Wohl dem, der Ehre hat, denn er ist wichtig für alle.



Irgend etwas berührte mich am Bein. Ich drehte mich nach links unten und sah, wie mich ein kleines Mädchen mit sehr großen Augen neugierig ansah:

„Seid ihr der kranke Fremde aus dem Wald?“, grinste sie mich an.

„Ja, der bin ich wohl. Dank der Menschen in diesem Dorf bin ich jedoch glücklicherweise wieder gesund“, erwiderte ich.

„Wo kommt ihr denn her?“, fragte sie weiter und lächelte neugierig.

Ich musste einen kurzen Moment nachdenken: „Aus Eden.“

„Ist das sehr weit weg?“

„Manchmal schon“, gab ich zurück, „Und wo kommt ihr her? Lebt ihr mit euren Eltern in diesem Dorf?“

„Ja natürlich. Schon mein ganzes Leben lang.“

Ich musste grinsen: „Wie alt seid ihr denn?“

„Ich bin fast sieben.“ Stolz sprühte aus ihren Augen.

Ich nutzte die Gelegenheit, um mehr über die Lebensart der Dorfgemeinschaft zu erfahren:

„Sind das Eure Leitlinien?“, fragte ich und zeigte auf die Tafel am Baumstamm.

„Nein, diese sind unsere Absichten. Unsere Leitlinien findet ihr in der Bibliothek oder auch teilweise auf der Hand.“

Sie zeigte hinter mich und ich erkannte auf dem Marktplatz einige Meter von mir entfernt eine hohe Plastik, die wie eine Hand geformt war, vielleicht, um visuell zu unterstützen, was dem Künstler bei den Leitlinien wichtig erschien. Ich ging hin, stellte mich vor sie und betrachtete die vor mir geöffnete, mehrere meterhohe, weiße Hand, deren Finger fast senkrecht in den Himmel ragten. In die Handfläche verewigte er in wunderschöner Schrift so klein, dass es fast wie eine Oberflächenstruktur der Haut wirkte, einen Teil der Leitlinien:



Jeder von Euch ist wie je ein Finger derselben Hand, desselben Armes und des einen Körpers, der alles ist, was war, jetzt ist und immer sein wird. Er ist das einzig wahre Eine, in denen Ihr, in scheinbar getrennten Teilen, gemeinsam das Eine bildet. Dieses Eine, ist Euer Herr, Euer Gott. Ihr sollt nicht andere Götter verehren. Betet sie nicht an. Dienet ihnen nicht und lasset sie nicht gegeneinander antreten, denn es gibt nur den Einen, dessen Teil Ihr seid. So liebet ihn, wie er Euch liebt und liebet Euch selbst, wie Euren Nächsten, auf das Ihr Euch einander begegnet, wie die Finger derselben Hand, die gemeinsam (be)greifen, im Sinne des allwissenden Einen. Schadet nicht Eurem Nächsten, denn Ihr schadet einen Teil des Einen und somit Euch selbst, weil auch Ihr Teil des Einen seid. Wer aber zum Wohle anderer lebt und im Sinne des Einen handelt, der handelt zum Wohle aller, des Einen und seines eigenen Wohls. Ihm soll Wohl widerfahren.

Das Eine ist Euer Herr, der ist, wer er ist und keines Namen bedarf. Missbrauche nicht unnützlich ihn, in seinem Namen, zu Euerm Eigennutz und behaupte nicht seine Absicht zu wissen, denn nur er weiß. So betet für Euer Wohl und um Gnade, solange es nicht zum Schaden eines anderen oder allem führe. Vertraut auf seine Weitsicht, Gerechtigkeit und Gnade, denn sie ist zum Wohl des Einen, was da alles ist und zudem Ihr selbst dazugehört, in Ewigkeit.

Ihr sollt den Feiertag ehren, auf dass Ihr zu Euch selbst findet.

Ihr sollt Eure Eltern ehren und ihnen Gehör schenken, so wie Ihr Eure Kinder in Ehren halten sollt und Gehör schenkt.

Ihr sollt nicht einander töten. Ehrt alles, was für Euch starb, damit Ihr leben konntet.

Ihr sollt nicht Eure Beziehung Verraten oder andere dazu verführen, sondern bewahrt Eure Loyalität und die Eures Nächsten.

Ihr sollt nicht einander bestehlen. Ehrt all die, für das, was Euch gegeben wurde, damit ihr leben konntet.

Ihr sollt nichts Falsches bezeugen, so dies zum Schaden eines Nächsten führt, sondern strebt nach Wahrheit und Klarheit, so es zum Besten ist.

Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Daseins, sein Ansehen, Position oder Leistung. Vergleicht nicht und setzt Euch nicht in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer selbst, um zu werden. Denn Ihr selbst habt Großes in Euch und könnt groß sein, wie kein anderer.

Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Habens, seine Frau, Mann, Kind, Freund oder alles was sein ist. Vergleicht nicht und setzt nicht das Eurige in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer Eigenes. Denn Ihr selbst könnt Großes haben, wie kein anderer.

Ihr sollt Böses nicht mit Bösem vergelten, denn Böses gebärt nur wieder böse Kinder.

Ihr sollt Euren Feinden vergeben, wie Euch vergeben wird, denn sie sind Kinder, wie ihr, die nicht wissen was sie tun.

Ihr sollt die Wunder und Herrlichkeit des Lebens mit Respekt und Ehrfurcht behandeln. Zerstört nicht, was Ihr nicht begreift, denn es ist ein bedeutsamer Teil von allem, dessen Bedeutung Ihr nicht erkennt. So behandelt alles im Zweifelsfall mit Liebe, denn Ihr wisst nicht, welchen Sinn es für Euch macht. Zerstörtes, kann Eurem Nächsten und letztlich auch Euch keine Gnade bringen, wenn Ihr Gnade sucht.

Konzentriert Euer Handeln nicht auf einen Kampf gegen das Böse, sondern konzentriert Euer Handeln auf einen Kampf für etwas Gutes.

Denkt an die Kinder. Fahrt Eure Kutschen im Dorf langsam.



„Die letzte Aussage war sicherlich ein besonders, persönliches Interesse des Künstlers“, dachte ich mir und musste schmunzeln.

„Wisst Ihr, warum es immer heißt, Ihr sollt nicht und nicht, Ihr dürft nicht?“, fragte mich das kleine Mädchen von eben, das mir offensichtlich unbemerkt gefolgt war und mich noch immer neugierig beobachtete.

„Ähm, eigentlich nicht. Es ist mir noch gar nicht aufgefallen“, antwortete ich etwas überrascht.“

„Wenn jemand sagt, Ihr sollt etwas nicht tun, so muss es doch jemanden geben, der nicht will, dass Ihr etwas tut, nicht war?“ Ihr Augen waren wirklich groß.

Ich dachte einen Moment nach: „Klingt eigentlich logisch, ja.“

Sie setzte mit ihrer Erklärung fort und hielt dabei irgendwie niedlich ihre kleinen Hände auf ihren Hüften: „Es ist uns also nicht verboten worden, all dieses zu tun, sonder jemand wünscht sich, dass wir dieses nicht tun. Wir müssen nicht, sondern wir sollen, weil jemand es will. Wir sind also nicht gezwungen, sondern haben die freie Entscheidung bekommen. Wenn uns jemand etwas empfiehlt ohne uns zu zwingen und zu drängen, kann es dann böse sein?“

„Eigentlich nicht“, schlussfolgerte ich, „klingt eher fürsorglich.“

„Das denke ich auch.“, sagte sie und hatte scheinbar ihre Selbstbestätigung bekommen.

Dann drehte sie sich unerwartet um und hüpfte, wie ein kleines Pony, in Richtung des Baumes zurück. Ein kleiner Junge stürmte plötzlich hinter dem Baum hervor, schubste sie leicht und rief lachend: „Ihr seid!“ Alle Kinder strebten auseinander und das kleine Mädchen lief auch schon den anderen hinterher, um sie zu fangen.

Ich konnte mir mein breites Grinsen nicht verkneifen, während ich den tobenden Kinder hinterher schaute.

Langsam schlenderte ich vom Geschehen des Marktes weg und bewunderte im Vorbeigehen die vielen mehr oder weniger schönen Plastiken und ausgestellten Bilder. Überall gab es kleine Tafeln, Zettel und kleine Verewigungen; und wenn es auch nur ein kleines Liebesgeständnis war. Viele schien hier ihre Meinung auf unterschiedlichste Weise an die Öffentlichkeit bringen zu wollen und mit ihren eigenen Vorstellung, Stoff für Diskussionen zu liefern. Wer nicht selbst Künstler, Poet oder Philosoph war, bediente sich derer, um seine Ansichten möglichst auffällig und schön ins rechte Licht rücken zu lassen, wie ich später erfuhr. Auf einem Bild erinnerte jemand an die sieben Todsünden, während jemand anderes eine Tafel aufgestellt hatte, um Tugenden zu sammeln. An anderer Stelle stand schlicht weg, dass jemand doof sei. Letztendlich diente dies alles als Basis für die Bildung, Streichung und Veränderung der Leitlinien dieser Gemeinschaft, in der jeder äußerte, was er für das Beste hielt oder überhaupt nicht mochte und insbesondere von den drei Weisen studiert wurde.

„Hey, Fremder!“, rief mich jemand, der mir aus einer kleinen Gasse entgegenkam, „Wir brauchen Eure Hilfe. Würdet Ihr uns die Ehre erweisen?“

Ende Teil 1
Fortsetzung: Der Garten Eden (Teil 2)
 

David

Mitglied
Der Garten Eden
Teil 1




Vorwort
Große Umbrüche im Leben bringen manchmal seltsame Ereignisse mit sich.
Man sagt ja, so etwas lässt einen wachsen.

Diese Geschichte ist eine Erzählung von einem spirituellen Tagtraum, der mir in einer Lebenskrise widerfuhr.
Er dauerte drei Stunden.

Viele Figuren, Symbole, Bilder und Ereignisse auf dieser Reise, haben häufig mehr, als eine Bedeutung. Traumdeuter werden die Hintergründe einiger Symbole vielleicht erkennen. Manche Dinge bekommen jedoch noch einen weiteren Sinn, wenn man sie untereinander im Zusammenhang betrachtete.
Diese Geschichte beinhaltet also viele Geschichten in einer, mit Aussagen in Symbolen, kleinen Episoden, der gesamten Geschichte selbst und durch Verknüpfungen zu religiösen Zeugnissen.

So gebe ich nun eine Geschichte weiter, die mir durch einen Traum erzählt wurde.
Wer diese Geschichte liest und versteht, für den ist sie bestimmt.
Möge jeder für sich selbst entscheiden, ob und welche Bedeutungen er für sich darin entdecken kann.




Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.





Der Garten Eden

VORWORT 3
DER GARTEN EDEN 9
DER ERSTE MORGEN 9
DER ALTEN MANN 10
DER APFEL 10
DAS WASSER 11
DER GRASHALM 11
DER ZWEITE MORGEN 11
DER ALTEN MANN (ZWEIFEL) 12
DER APFEL 12
DAS WASSER 12
DER GRASHALM 12
DIE FRAGE 12
DAS ERSTE LEBEN 15
DER DRITTE MORGEN 15
DER AUFBRUCH 15
DIE JUNGVÖGEL UND DIE LUMPEN 16
DER ERSTE SCHRITT 17
EINBRUCH DER NACHT 18
EIN NEUER MORGEN 18
DIE SUCHE NACH DEM WEG 18
STÜRMISCHE NACHT 19
DER ALTEN MANN (REUE) 20
DER APFEL 20
DAS WASSER 20
DER GRASHALM 20
DAS ZWEITE LEBEN 21
DER SECHSTE MORGEN 21
DER ALTEN MANN (ERKENNTNIS) 21
DER ZWEITE SCHRITT 22
DER GROßE BAUM 23
DIE GLÖCKCHEN 25
EIN LEBEN AM WASSERFALL 27
DIE WEITERREISE 29
DER BETTLER 30
UNBEKANNTE FRÜCHTE 30
GNADENLOS 30
DAS DORF 32
VERÄNDERUNG IN EDEN 44
DIE HEIMKEHR 44
DER APFEL 45
DAS WASSER 46
DER GRASHALM 46
SCHÖPFUNG IN EDEN 46
ZWIESPALT IN EDEN 47
DIE VIER BURSCHEN 48
DAS DRITTE LEBEN 51
DER MORGEN 51
AUFBRUCH DER GEMEINSCHAFT 51
DIE VULKANLANDSCHAFT 52
DIE TRENNUNG 52
DER SCHRITT IN DIE HÖLLE 52
DER TOTE BAUM 53
DER GEYSIR 54
DIE LAVA 54
DIE HÖHLE 57
DER GIPFEL 57
DIE HEIMKEHR 60
AUFBRUCH INS PARADIES 62
DER NÄCHSTE MORGEN 62
DER PALAST 63
DER LETZTE MORGEN 63
DAS VIERTE LEBEN 65
DER ORT DES PARADIESES 65
DER ALTE MANN (DER NEUE MANN) 67
LANDKARTEN 68







Der Garten Eden
Der erste Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines hohen weißen Saales, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Langsam erkannte ich drei hohe Flügelfenster vor mir, die, durch einen wunderschönen weißen Rundbogen, in ihrer erhabenden Größe begrenzt, vom Boden bis kurz vor die hohe, gewölbte, mit Stuck besetzte Decke reichten. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen, weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.





„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür und erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende weiße Marmorterrasse, deren weißes geschwungenes Geländer, kontrastreich einen Saum zum azurblauen Himmel bildete. Noch kurz bevor ich die Terrasse betrat, blicke ich nach links durch eine geöffnete Tür in einen anderen großen weißen Saal. Einige Menschen standen sich dort gegenüber, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, und ich hörte dumpf ihr angeregtes palavern. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht mehr. Zu oft schon hatte ich, in der Vergangenheit, an den ergebnislosen Diskussionen teilgenommen, mich mit vergeblicher Müh eingebracht und auf eine hoffnungslose Veränderung gehofft. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete, wie immer, tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Nie war es anders. Und ich erblickte, wie jeden Morgen, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Ich glaube, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich jedes Mal, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.


Der alten Mann
Ich beschloss zu ihm zu gehen und folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.
Zugegeben, die Wahl seines Stammplatzes war nicht dumm. Dieser Ort hatte schon etwas praktisches. Wenn man Hunger hatte, brauchte man nur seinen linken Arm zu strecken und konnte problemlos nach einem grünen, saftigen und süßen Apfel greifen. Hatte man Durst, reichte eine kurze Neigung des Oberkörpers nach rechts, um sein Gesicht in das kristallklare Wasser des Zierbrunnens einzutunken. Gesättigt, genoss man dann diesen wundervollen Blick über die Landschaft, während man schläfrig, im angenehmen Halbschatten der Blätter, auf dem weichen Rasen lag.
Aber wenn man den besten Platz auf Eden nicht verlässt, weil man davon überzeugt ist, es gäbe keinen besseren, wird dann nicht der vollkommende Platz zum vollkommenden Gefängnis? Niemand sah eine Mauer, die ihn daran hinderte zu gehen, aber ich glaube, es gab eine Mauer, - in ihm. Eine Mauer der Angst.

Der Apfel
Fast demonstrativ, erhob der alte Mann seinen linken Arm, schob seine Hand durch das grüne Blättergewirr des Baumes und griff lässig nach einem der vielen Äpfel. Vor dem Hineinbeißen pflegte er seinen Mund dermaßen übertrieben groß aufzureißen, dass ich mich jedes Mal wunderte, warum er nie an einer Maulsperre litt.
Ich tat es ihm gleich und pflückte ebenfalls einen Apfel.

Er war unglaublich süß und saftig, - perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Der Apfel schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte der Apfel für mich, wie immer, eher mehlig.

„Verdammt, schon wieder!“, brüllte er plötzlich los, spuckte und beäugte ekelerregt und wütend, die verbliebende Hälfte eines sich krümmenden Wurmes. „Tausend mal habe ich das schon gesagt und Debatten geführt! Und was hat sich verändert? Nichts! Ist es denn zuviel verlangt, Äpfel ohne Würmer zu wollen? Ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer, ohne Würmer! Wie oft soll ich das noch sagen?! Was nützt alles Palavern, wenn doch nichts passiert?!“

Ich aß derweilen meinen Apfel auf und bestaunte die folgende Illumination, als er nun seinen weißen Oberkörper nach rechts schwenkte und seinen hoch roten Kopf in das kalte Wasser des Zierbrunnens eintauchte. In meiner Phantasie wartete ich auf das Geräusch eines deutlichen Zischens und eine aufsteigende Dampfwolke, die zu meiner Enttäuschung natürlich ausblieb.

Das Wasser
Ich neigte mich ebenfalls über den Brunnenrand, bildete mit beiden Händen einen Kelch und schöpfte mir Wasser zum Mund.
Das Wasser war kristallklar, kalt und frisch, – perfekt, wie immer. Im Grunde war das aber nichts besonderes für mich. Das Wasser schmeckte natürlich nicht schlecht, aber eben auch nicht erwähnenswert gut. Eigentlich schmeckte das Wasser für mich, wie immer, eher fade.

„Schau dir das an!“, sagte der alte Mann, langsam wieder in Rage kommend. „Siehst du das Mosaik auf dem Grund des Brunnens?“

Ich lehnte mich über den Brunnenrand und schaute so konzentriert ich nur konnte, durch das türkis blaue Wasser, auf ein aus Mosaiksteinen zusammengesetztes Bild, aus tausend herrlichen Mustern.

„Der Mosaikstein in der linken unteren Ecke ist zersprungen!“, rief er, als ob ich schwerhörig wäre.

Ich gab meine Bedauerung zum Ausdruck und bestätigte ihm, dass dieses wohl tatsächlich nicht seine Richtigkeit haben kann.

Der Grashalm
Bald darauf saßen wir auf dem Rasen und debattierten, ob es denn nicht möglich wäre, Grashalme im Garten Eden einzusäen, die nicht gleich umknickten, wenn man sie beträte.
Und so „schaukelten“ wir uns die folgenden Stunden gegenseitig hoch. Was vorher gut war, schien nun unvollkommen, Kleinigkeiten wurden bedeutsam, Unwichtiges wichtig, Unvollkommenes wurde verurteilt und irgend jemand trug die Schuld dafür.

Der zweite Morgen
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Meine Augen waren wieder vom grellen Licht geblendet und ich senkte meinen Blick. Langsam begannen sich meine Augen zu erholen und ich begann meine Umgebung zu erkennen. Ich stand wieder barfuss auf dem angenehm kühlen Marmorboden in Mitten des hohen weißen Saales. Vor mir die drei gläsernen Rundbögen. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und die linke Flügeltür war wieder leicht geöffnet. Die Vögel zwitscherten und eine lauwarme Brise ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Ich folgte der Einladung und ging erneut zur geöffneten Tür. Mein üblicher Blick nach links durch eine geöffnete Tür, fiel wieder flüchtig in den anderen großen weißen Saal, wo sich gewohnheitsmäßig einige Menschen, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, gegenüber standen und angeregt palaverten. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht. Ich schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete wieder tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Der alte Mann stand, mal wieder, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel. Er war, wie immer, alleine.
Ja, nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können.
Dies war sein Platz.
Und mir wurde wieder bewusst, dass jeder, der zum Brummen und Apfelbaum ging, somit auch unvermeintlich den alten Mann besuchen müsste. Und er freute sich immer so, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.

Der Alten Mann (Zweifel)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich wieder zu mir um und lächelte.
Ja, es war nicht nötig, etwas zu sagen, - vielleicht, war es auch wirklich nicht mehr möglich, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Der Apfel
Ich pflückte einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt, wie immer, süß und saftig.
Doch es war eben nichts besonderes für mich.
Und so schmeckte mir der Apfel, wie immer, eher mehlig.

„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.

Das Wasser
Und so trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt, wie immer, kristallklar, kalt und frisch.
Doch es war wieder nichts besonderes für mich.
So schmeckte mir das Wasser, wie immer, eher fade.

„Schau dir das an!“, klang es in scheinbar weiter Ferne dumpf.

Der Grashalm
Und mein Blick viel träge zu Boden, wanderte von einem Grashalm zum nächsten, schwebte langsam über die Wiesen, hinüber zu den grünen Hügeln, über die vielen Blumen und zu den vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. Und meine Blicke verharrten am Horizont, wo ein langer, hoher, goldener Zaun die Grenze des Garten Edens bildete.

„Ein abgebrochener Grashalm!“, hörte ich ihn.

Die Frage
Ich schaute dem alten Mann ernst und tief in seine stahlblauen Augen und Stille kehrte ein.
Die tiefen Augen, zwischen den kleinen Falten, unter den weißen Augenbrauen, sprachen von einer langen Erfahrung aus einer traurigen und enttäuschten Vergangenheit:

„Alter Mann“, sagte ich zu ihm und zog eine Augenbraue hoch, „so wie sich deine Welt, zwischen diesem Baum und jenem Brunnen befindet, so ist auch meine Welt begrenzt durch den goldenen Zaun des Garten Edens. Kannst Du mir sagen, was mich hinter dem goldenen Zaun erwartet, dessen Grenzen ich bisher nie zu überschreiten wagte?“

„Mein Junge“, seufzte er und schüttelte lächelnd mit seinem Kopf, „hinter dem goldenen Tor des Garten Edens, ist das Leben.“

„Was ist das Leben?“, fragte ich ihn.

„Nichts, was einen Grünschnabel wie dich interessieren sollte. Dort gibt es nichts, was es zu begehren wert wäre. Ich sehe deine schelmischen Pläne hinter deiner unschuldigen Stirn“, grinste er. „Doch streiche dir deine Flausen aus dem Kopf und denke nicht weiter über diesen Unsinn nach. Hier nimm! Iß diesen Apfel!“, sprach er und versuchte vom Thema abzulenken.

Es ärgerte mich, dass er mich so herabwürdigend behandelte und mir so grundsätzlich jede Fähigkeit aberkannte, dass er es sogar für überflüssig hielt, meine Frage zu beantworten, um auf meinen Wunsch nach Erkenntnis, Weiterentwicklung und Selbstentfaltung einzugehen. Aber so schnell wollte ich mich nicht abspeisen lassen:

„Was erwartet mich im Leben?!“

Der alte Mann schaute auf mich herab: „Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, gerade du würdest es nicht einmal drei Tage dort aushalten und auf allen vieren kämest Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Es haben schon ganz andere versucht, das Leben zu leben. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir bestimmt nicht gefallen.“

Ich überlegte einen Moment. Zu einseitig schlecht erschien mir seine Beschreibung vom Leben, zu ängstlich seine Einstellung und sein Rat an mich, nur an Vertrautem festhalten zu sollen und es noch nicht einmal zu wagen, über Unbekanntes nachzudenken. Ich bezweifelte außerdem, ob es angemessen war, so wenig Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten haben zu dürfen, wie er es mir vermittelte. Eigentlich sollte mich seine Aussage nicht wundern, denn schließlich verließ er nie seinen Platz zwischen dem Apfelbaum und dem Zierbrunnen, um sich mal frei im Garten Eden zu bewegen, obwohl ich dort nie eine Bedrohung fand. Aber warum hatte er eine so geringschätzige Meinung über mich und traute mir sogar noch weniger zu, als anderen? Es erweckte bei mir den Anschein, als ob er in Wahrheit eine Vertuschung seiner eigenen Angst oder eines eigenen Versagen bezweckte und mich nur deshalb von meinem eventuell Erfolg abhielt, um sich meinen Respekt zu sichern. Sein Rat bezweckte also vielleicht eher seinem Eigennutz, als seiner ehrlichen Sorge um mich. Wie würde er sich wohl fühlen, wenn mir etwas gelänge, was ihm in der Vergangenheit vielleicht nicht gelungen war? – Wenn ich mich zu etwas fähig erweise, wozu er nicht imstande war? Wäre er dann neidisch auf mich? Würde dies sein Selbstwertgefühl sinken lassen? Hatte er Angst, ich würde dann auf ihn herabsehen? Oder gab es, in Bezug auf das Leben, einen wirklich berechtigten Grund für ihn, sich um mich sorgen zu müssen?

“Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, sprach ich provokativ und hoffte auf überzeugendere Argumente, die mir erklären sollten, weshalb ich ihm mehr trauen sollte, als dem Gefühl, welches in mir ausbrechen wollte, um mir zu sagen, ich solle etwas verändern.

Irgendwie unpassend, legte er scheinbar freundschaftlich einen Arm auf meine Schulter und enthüllte aus meiner Sicht altklug, selbstgefällig und respektlos seine wahre Ansicht über andere und mich:
„Du bist jung und forsch, aber auch blauäugig und dumm. Mach doch, was du willst, aber nur ein törichter Narr verlässt den Garten Eden, um in das Leben zu gehen. Du wirst es sehen. Ich gebe dir höchstens drei Tage. Du wirst auf Knien zurückkommen und mir recht geben!“

Aus meinen Augen hatte er vor allem mich als Person in Frage gestellt. Er schien seiner Überzeugung und meiner Unfähigkeit, ihn zu verstehen, so sicher zu sein, dass er sich nicht einmal bemühte, mit mir zu diskutieren, sondern billigte mir statt dessen jegliche Freiheit zu, in mein eigenes Verderben zu rennen, während er mir gleichzeitig seinen Schutz durch hilfreiche Tipps für das Leben vorenthielt. Wenn er um mich besorgt war, warum half er mir nicht konstruktiv mit Information, die mich für das Leben hätten wappnen können? Ich vermisste irgendwelche nützlichen Hinweise, die mir hätten helfen können, nicht die gleichen Fehler zu machen, wie er. So ließ er es aber zu, mich in Fallen tappen zu lassen, die ich hätte umgehen können, wenn er mir aus den Details seiner Erfahrung berichtet hätte. Mit seine ungenauen Anspielungen machten er mir nur Angst und seine Sicherheit verunsicherte mich. Besser, als mit jeder Argumentation, manipulierte er mich hierdurch, ihm unwissend vertrauen zu sollen. Er heilt mich in seiner Abhängigkeit; und das wusste er sicherlich.
Ich drehte mich um und verließ seinen Platz, um zurückgezogen, für mich alleine, nachdenken zu können. Ich fühlte mich durch seine geringschätzige Bewertung über mich, der unpräzisen Angstmachung und der von ihm so dargestellten Aussichtslosigkeit meiner „närrischen“ Ambition, in meinem Mut erschüttert, denn woher sollte ich wissen, ob er nicht sogar recht hatte. Was, wenn er recht hätte? Was, wenn ich recht hätte? Was würde mich wirklich hinter dem goldenen Zaun des Garten Edens erwarten?
Um die Last seiner Worte beschwert und in meinen Gedanken gefangen, wandelte ich, mit dem Blick nach unten, auf die blendend hellweißen Marmorplatten des Weges, zurück zur Villa.

Das erste Leben
Der dritte Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus dem gleißendes Licht und erkannte, wie ich mal wieder im hohen weißen Saal mit den drei erhabenen Flügelfenstern aufgewacht war. Ruhig und entspannt stand ich barfuss und so leicht bekleidet, dass ich mein weißes Gewand auf meiner Haut kaum fühlen konnte. Ich empfand den glatten Marmorboden unter meinen sauberen und weichen Füßen als angenehm kühl. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinterliegenden Terrasse, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so glitt ich leichtfüßig hin, zur geöffneten Tür.
Im linken Raum, im Lichtkegel der morgendlichen Sonnenstrahlen, standen wieder einige Menschen und palaverten. Ich wusste natürlich, worüber sie redeten, aber es interessierte mich eben nicht mehr. Und so schob ich die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete tief die frische Morgenluft ein. In der Nähe saßen wieder vereinzelnd Menschen an weißen Steintische. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

“Dies, ist der Garten Edens“, wusste ich.

Der alte Mann stand, wie immer alleine, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone schaute er über die weiten grünen Hügel und mir wurde wieder bewusst:

„Dies ist sein Platz!“

Der Aufbruch
Ich folgte in alter Gewohnheit den weißen Stufen hinunter in den Garten – doch dieses mal blieb ich plötzlich stehen. Seltsam ergriff mich der weiße vor mir liegende Marmorweg. Vage Sicherheit überkam mich mit leuchtender Klarheit. Und als ob ich es der Welt ins Angesicht schreien wollte, platzte es aus mir heraus und sprach doch nur zu mir selbst, mit abgehakten Worten, jedes sein eigenes Gewicht in der Bedeutung:

„Und dies ist mein Weg!“

Der alte Mann drehte sich aus der Ferne zu mir um. Einen Augenblick verharrten unsere sich begegneten Blicke, dann begann er langsam mit dem Kopf zu schütteln und begann arrogant zu lächeln: „Keine drei Tage!“, rief er.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Und so folgte ich etwas unsicher dem weißen Marmorweg und spürte auf meinem Rücken die mich lähmen wollende Blicke des alten Mannes. Gleichmäßig kurzgemähtes Gras umsäumte meine gleißend helle Straße und sollte mich bis ans Ende von Eden und den Anfang des Lebens begleiten. Die Bäume begannen mit meinem Fortkommen ihre Silhouette zu verändern. Dünne Nebelschwaden schlichen durch die Täler und suchten Zuflucht vor der aufsteigenden Mittagssonne. Die weißen Fliesen meines Weges zogen, mit jedem meiner Schritte, gleichmäßig unter mir hindurch und ich blickte auf sie herunter, als schaute ich von oben auf eine Welt, die ich verlassen hatte. Monoton begrüßten mich rhythmisch abwechselnd meine nackten Füße, die in mein Sichtfeld eben so schnell kamen, wie sie verschwanden. Meine Augen blickten auf, zum Horizont der vor mir liegenden Bergkuppe. Allmählich kam sie mir näher und legte sich alsbald zu meinen Füßen. Ich schaute herab und dann sah ich es:

Ein hohes, goldenes und prunkvoll verziertes Tor:
Tausende von Ornamenten, Figuren und Fratzen, schienen die goldenen Gitterstäbe zusammenzuhalten und berichteten von Geschichten, die da waren, die da sind und die da möglicherweise kommen werden.
Rechts und links neben der doppeltürigen Pforte, etwas tiefer, schloss ein goldener Gitterzaun an und zog seine Linie über die Landschaft Edens, bis sich der Zaun in weiter Ferne, hinter Hügeln und Wäldern, nahe dem Horizont, meinen Blicken entzog. Ich näherte mich weiter dem Tor. Frauen in weißen Kleidern strebten vor mir nach rechts und links auseinander, verteilten sich am Wegesrand und standen mir Spalier. Sie blickten mich an, aber schwiegen. Langsam begann sich das riesige Tor zu öffnen und schwer schwenkten mir die Flügel entgegen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Hinter dem Tor und durch die Gitter der Grenze Edens, lugte eine Landschaft hindurch, die mir fremder war, als alles was ich bisher kannte. Ein lehmiger, steiniger Weg zog sich unregelmäßig durch eine sandige flache Steppe. Einige braune, blattlose Büsche spähten mit ihren verdorrten Ästen zwischen den kleineren und größeren grauen Steinen hervor. Der Wind wehte feinen Sand über die Prärie. Dahinter folgte eine flache Tundra, bewachsen von wilden hohen Wiesen und allem braunen Gestrüpp. Schließlich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, ein dichter dunkler Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien.
„Dies ist das Leben“, wusste ich.
Doch wusste ich auch, was ich da tat?

„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du wirst dir selbst begegnen und es wird dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an die Worte des alten Mannes.

“Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten und dich deiner altklugen Worte Lüge strafen“, machte ich mir Mut.

Die Jungvögel und die Lumpen
Noch kurz bevor ich das Tor durchschritt und das Leben betrat, blicke ich nach links und rechts, zum Fuße der goldenen Grenze des Garten Edens und bemerkte zweierlei Menschen, die davor und die dahinter saßen.

Die davor saßen, die im Garten Eden, trugen saubere weiße Gewänder und saßen nebeneinander aufgereiht, wie junge Vögel auf einem Ast, denen die Daunen zu lang und die Federn noch zu kurz waren, um flügge zu sein. Und so hockten sie, in ihrer Sehnsucht zu fliegen, doch in ihrer Feigheit verbleibend, palavern nebst ihres vertrauten Nachbarn. Schnatternd und fachsimpelnd, bewertend und beurteilend, tauschten sie einander aus und richteten dabei ihre Blicke durch die Gitter des Zauns. Sie lästerten über die Akteure des Lebens, übertrumpften sich gegenseitig in theoretischem Wissen und hypothetischen Entscheidungen und sie wetteiferten, welcher der ihrigen, im Falle des Falles, wohl am besten abschneiden würde, wenn er denn im Leben wäre.

Die dahinter saßen, die im Leben, waren in kleinen Gruppen an den Zaun gedrängt. Verhüllt und eingekauert in tristlosen, dicken, grauen Stoffen. Ihre Gesichter vermummt. Aus den schützenden Tüchern ihrer Lumpen, dem sandigen Sturm und der heißen Sonne trotzend, funkelten verborgene Augen aus kleinen Sehschlitzen hervor. Sie waren die wohlhabenden des Lebens und Maulhelden des Garten Edens. Oh, wie sie mit ihrem Mut prahlten und die „Jungvögel“ hochmütig zum besser machen anstachelten, wenn sie bald durchs Tor in den sicheren Garten Edens gekrochen kamen und Rechenschaft ablieferten mussten, während sie hier Ihren Durst am Brunnen löschten und Ihren Appetit am Apfelbaum stillten, statt sich ihren Lebensunterhalt im Leben zu erkämpfen.

Und so, wie die da draußen fluchtbereit unweit des errettenden Eingangs saßen, verweilten die da drinnen unweit des Ausgangs der ersehnten Freiheit, feige zwischen dem harten Leben und dem schützenden Garten Edens verharrend. Ängstliche Torwächter zwischen Ungewissheit und Heimat, an der goldenen Grenze zwischen Flucht und Zuflucht.

Ich machte keinen Unterschied zwischen denen die davor und denen, die dahinter saßen. Für mich waren sie allesamt Drückeberger, die weder das Leben erlebt, noch sich einer Ehre verdient gemacht hatten. Selbstgefällige Pantoffelhelden oder vielleicht auch nur bedauernswerte Geschöpfe, die sich mit ihren scheinbaren Heldentaten etwas einredeten und sich mit ihrem vermeintlichen Wissen nur ausredeten.

Ich wollte sie noch fragen, was sie dort eigentlich taten, doch als ich ihre Gesichter sah, wusste ich, sie würden mir ewig eine Antwort schulden.

Es war nicht nötig, etwas zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, denn worüber sollte man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Dumpf hörte ich ihr angeregtes palavern und wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.

Der erste Schritt
Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch, betrat mit einigen Schritten mutig den lehmigen Boden jenseits der Grenze - und atmete tief und ahnungslos die kochend heiße staubige Luft des Lebens ein. - Wie Feuer eines Flammenwerfers drang die Hitze viel zu tief durch die Luftröhre in meine Lungen und feiner Sand und Staub reizten mich zum Husten.

Ich hatte plötzlich außerdem das Gefühl, mein Körper wäre um ein vielfaches schwerer geworden. Meine dünnen schwachen Beinchen vermochten kaum mein Gewicht zu tragen. Ich stemmte mich breitbeinig, wie auf Stelzen, wackelig ausbalancierend, gegen die ungeheure Gravitation der Erde und wagte es kaum mein Gewicht auf nur ein Bein zu verlegen, um den nächsten Schritt zu riskieren, da ich fürchtete, nicht genügend Kraft zu haben, um auf einem Bein stehen zu können.

„Wie, um Gottes Willen, soll ich die Kraft aufbringen, in dieser Welt vier Wochen zu überleben?“ , fragte ich mich verblüfft und voller Entsetzen und röchelte so flachatmig es ging, um den heißen Atem nicht tiefer in mich eindringen zu lassen, als unbedingt nötig.

Ich neigte mich gegen den heißen Wind und schaute über meine Schulter nach hinten, zu den flatternden Tüchern, unter denen irgendwo Menschen Schutz vor den Naturelementen suchten. Sand peitschte mir ins Gesicht und haftete in meinen tränenden Augen, so dass ich augenblicklich versuchte, mir diesen mit meinen staubigen Händen herauszuwischen, was die Situation noch verschlimmerte. Also blickte ich mit zugekniffenen Augen nach vorne und machte mir Mut, so weit es ging:

„Jede noch so lange Wanderung“, sagte ich mir, “beginnt immer mit einem ersten Schritt!“

Und so verlegte ich mein ganzes Gewicht auf mein linkes Bein und stelzte mit meinem Rechten nach vorne. Ich riss mich zusammen und legte meine gesamte Energie auf nur einen Gedanken:

„Gehe! Schritt für Schritt! Gehe!“

Und meine weichen Füße gehorchten. Sie fielen platt auf den vor mir liegenden Lehmboden und begruben, die darauf liegenden kleinen, scharfkantigen Steinchen, die sich gemeiner weise immer wieder die selben Stellen suchten, um sich durch meine dünnen Fußsolen in das Fleisch zu bohren.
Bald entdeckte ich eine neue Atemtechnik. Ich atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus. So ließ sich die heiße Luft besser ertragen und weniger Sand sammelte sich in meinem Mund. Rhythmisch knirschte ich auf den Sandkörnern zwischen meinen Zähnen, im Takt meiner schweren Schritte.

„Wenigstens habe ich was zu beißen“, sagte ich zu mir mit einem gewissen Galgenhumor.

Bald waren meine Füße von den scharfkantigen Steinen an vielen Stellen aufgerissen. In einiger meiner Fußstapfen erkannte ich, hin und wieder, kleine Blutstropfen.

Die Sonne brannte unbarmherzig und hart auf meine weiße Haut. Immer wieder drehte ich mich um und fragte mich, ob ich wohl noch die Kraft hätte umzukehren, um gegebenenfalls das errettende Tor erreichen zu können. Einen Moment lang war ich dabei wohl etwas unaufmerksam und trat ungeschickt, mit meinem linken Fuß, auf eine scharfe Kante eines fußballgroßen Steines. Wie ein Rasiermesser schnitt sich die raue Kante in meinen Fußballen ein. Ich versuchte noch mein Gleichgewicht zu verlagern, rutsche aber aus, schrappte an einem Dornenbusch vorbei und viel aufschreiend, erst gegen die harte Seitenfläche eines Felsens und endete schließlich, der Länge nach, im Sand. Auf meiner linken Schulter liegend, krümmte ich mich vor Schmerzen. Mit meiner linken Hand hielt ich meinen schmerzenden Fuß und mit der anderen, meinen gestoßenen Hinterkopf. Ich schrie vor Leid und Wut, während ich in Embryonallage eingekrümmt, auf dem heißen sandigen „Bett“ lag.

Es tat gut, als nach einiger Zeit der Schmerz etwas nachließ.
Mein rechter Arm, ich hielt mit ihm noch immer meinen Hinterkopf fest, schenkte mir etwas Schatten im Gesicht. Ich beobachtete unter diesem Arm hindurch, wie unter meiner linken Hand, Blut aus dem Fuß hindurch sickerte und den trockenen Sand langsam dunkelrot einfärbte. Bald begann die Blutung zu stillen. Ich schaute flach über dem Boden in die Ferne, zurück des Weges, den ich kam und sah in aller Pracht den Ort, den ich vielleicht nie hätte verlassen sollen. Den Garten Eden.
So lag ich vielleicht noch eine halbe Stunde lang im Sand. Dann setzte ich mich schließlich auf und lehnte mich mit meinem Rücken gegen eine steile Fläche des hohen Steins, mit der mein Hinterkopf vorhin, „Kontakt“ geschlossen hatte. Ich spuckte ein paar Krümel Sand aus meinem trockenen Mund. Die Zunge klebte förmlich am Gaumen und ich hatte unendlich großen Durst. Mein dünnes Hemdchen war zerrissen, und meine Haut war zerkratzt und von der Sonne verbrannt. Ich zog rote Hautfetzen von meinem Arm. Mein Kopf dröhnte und mir war übel.

Einbruch der Nacht
Es wurde bald auffällig still um mich herum. Der Wind schlief langsam ein. Bald war nichts zu hören, außer ein leises Rascheln einiger langer Gräser, unweit meines Sitzplatzes. Dann sah ich die riesige rote Sonne im Westen. Der leuchtende Ball begann sich langsam zu einem Oval zu verzerren, bis er tief über dem Horizont zu zerfließen schien. Die Schatten der kleinen Hügel und großen Felsbrocken wurden länger, streckten sich über den roten Boden und zogen Richtung Osten dunkle „Barrieren“ über meinen Weg. Als das Himmelsfeuer im Nord-Westen verglimmte und nur noch vereinzelnd kleine Zirruswolken, hoch oben, im rötlichen Schein der untergegangenen Sonne, die Nacht einleiteten, funkelten bereits die ersten silbernen Sterne zwischen ihnen hindurch und das dunkle Blau des Himmels wurde zu tief schwarzer Nacht. Bald strahlten nur noch die Sterne mit ihrem fahlen Licht auf den Boden der Steppe. Die kleinen Quarzkristalle meines Granitsteines, an den ich immer noch gelehnt war, funkelten ganz leicht im Sternenlicht. Der Sand und der Stein gaben noch für kurze Zeit ihre gespeicherte Energie des Tages ab. Dann wurde alles bitter kalt und weder Stein noch Sand spendeten Wärme. Mit einer leichten Briese drang eisige Kälte unter meine dünne, zerrissene Kleidung, kroch über meine verbrannte Gänsehaut und ich fröstelte. Ich kauerte mich zusammen und schlief endlich zitternd ein.

Ein neuer Morgen
Langsam erhob sich der rote, schwere Stern in das Himmelsgewölbe und begann, mit seinen ersten Strahlen, die Kälte der Nacht zu vertreiben. Ich öffnete mein rechtes Auge, mein linkes war noch mit der linken Gesichtshälfte im Sand vergraben und blickte auf einen, im rötlichen Morgenlicht beschienen, kleinen Vogel, der einige Zentimeter vor meinem Gesicht hockte und mich neugierig, mal mit seinem rechten und mal mit seinem linken Auge, begutachtete. Wie gerädert hob ich meinen bleiernen Kopf aus dem Sand und schaute dem davonfliegenden Vogel hinterher. Ich schob mich am Felsen hoch und lehnte mich wieder mit meinem Rücken an ihn. Noch wie gelähmt vor Kälte, erreichten mich die ersten schläfrigen Sonnenstrahlen und verströmten wohlige Wärme. Dort lag der Garten Eden. Ganz klein konnte ich den Brunnen und den Apfelbaum sehen. Irgendwo dazwischen erahnte ich den alten Mann, der über klares Wasser, gegen den Durst und über süße Äpfel, zum Stillen seines Hungers, verfügte. Ich hatte schrecklichen Durst. Sollte ich umkehren? Abschätzend blickte ich in die entgegengesetzte Richtung. Der Wald schien nicht mehr so weit entfernt.

„Vier Wochen“, sagte ich mir. „Nur vier Wochen.“

Die Suche nach dem Weg
Ich stellte mich auf meine schmerzenden Füße und schleppte mich weiter des Weges Richtung Wald.
Bald erreichte ich die Tundra.

„Endlich kein Sand mehr“, dachte ich mir.

Dichte schwarze Wolken zogen herauf und verdunkelten den Himmel. Es Donnerte. Das Rascheln der hohen Gräser wurde lauter. Wind kam auf, änderte seine Richtung und nahm unaufhörlich an Stärke zu. Blitze schlugen in einigen Kilometern in den Boden ein. Es begann mit einigen wenigen Tropfen, doch dann schüttete es wie aus Eimern. Ich hielt meine Hände auf, schlürfte daraus das segenreiche Wasser und spülte den schlammigen Sand in meinem Mund herunter. Mein Durst legte sich und mein Hunger machte sich bemerkbar. Die Regentropfen trafen sich auf Grashalmen, Moosen und auf dem lehmigen Boden zwischen den Steinen. Sie versammelten sich und flossen gemeinsam in kleinen Rinnsälen auf Bahnen des geringsten Widerstandes. Aus Rinnsälen wurden Bäche und aus Pfützen kleine Teiche. Immer größere Wassermassen drängten sich durch das Gestrüpp und überfluteten den Boden. Lehm und Sand wurde zu Schlamm. Mein Weg glich inzwischen einem kleinen Fluss und der Sturm tobte und riss kleine Zweige, Gräser und Blätter mit sich. Immer tiefer versank ich mit jedem Schritt im Schlamm und jeder Schritt wurde zum Kampf. Ich war bis auf die Knochen nass. Der Sturm blies über meinen patschnassen Körper und stahl ihm jegliche Restwärme. Um nicht tiefer in den kalten Matsch einzusinken, kroch ich auf allen Vieren weiter.
Hinter mir leuchtete der Garten Eden. Dort schien am blauen Himmel die Sonne, aber in der entgegengesetzten Richtung, nur etwa hundert Meter vor mir entfernt, lag auch der ersehnte Wald. Mein Ziel. Ich musste es einfach schaffen und schleppte mich weiter. Endlich erreichte ich die Waldkante und suchte nun Verzweifelt eine Möglichkeit, in den Wald hineinzugelangen, um Schutz zu finden, aber seine Grenze war dermaßen verwuchert und mit Dornenbüschen verbarrikadiert, dass ich keinen Weg hineinfinden konnte.

Stürmische Nacht
Es wurde unter den tosenden Gewitterwolken immer dunkler. Inzwischen musste die Sonne wohl schon längst untergegangen sein, aber ich gab nicht auf. Trotz meiner Müdigkeit suchte ich bis tief in die Nacht im tobenden Sturm, unter schüttendem Regen und donnernden Blitzen, einen Weg in den Wald, bis ich irgendwann erschöpft aufgab und mich in den Schlamm fielen ließ.

Der Regen peitschte mir weiterhin unaufhörlich ins Gesicht, aber ich regte mich nicht mehr.
Apathisch hatte ich nur noch einen Blick für den Garten Eden, dessen warmes Leuchten mich in seinen Bann zog. Meine Heimat, ein einziger kleiner Lichtschimmer in weiter Ferne, scheinbar unberührt vom Grollen und Heulen dieses Gewitters und Hagels, weit weg vom peitschendem Sturm, der hier an meinem Körper riss, ihn durchnässte und jeglicher Wärme entzog. Noch einmal drückte ich mich hoch, um in dieser Dunkelheit einen Blick auf die Schönheit des Glanzes werfen zu können. Und ich begann mich von der magischen Anziehungskraft, der leuchtenden Wärme, einfangen zu lassen und strebte dem apokalyptischen Geschehen, in diesem dunklen Tunnel, zu entfliehen, hin zum Licht der Heimat, wie die Motte zum Schein des Feuers.
Und so wühlte ich mich durch die Nacht, durch Schlamm und Wassermassen, zurück auf dem Weg nach Hause. Erst kroch ich, doch bald marschierte ich wieder. Ohne Emotion, ohne Schmerz, taub und mechanisch, wie eine Maschine. Und wenn ich nur noch einen kleinen Finger hätte bewegen können, ich hätte ihn bis zu meinem bitteren Ende bewegt.

Im Morgengrauen erreichte ich die Grenze zur Steppe und schleppte mich wieder über den Sand unter der glühenden Sonne. Als ich dann endlich das goldene Tor des Garten Edens erreichte, krabbelte ich auf blutigen Händen und Knien der Erlösung entgegen. Zwei weiße schemenhafte Gestalten kamen mir durch die Pforte entgegen, stützten mich unter den Schultern und schleiften mich endlich hinein. Sie legten mich sanft, mit dem Gesicht nach unten, auf den weißen Marmorboden. Dann entfernten sie sich wieder ein paar Meter von mir und beobachteten mich mit respektvollem Abstand.
Niemand sprach, - es gab keinen Laut, - absolute Ruhe.
Ich winkelte meine Knie an und hockte mich auf meine Hacken. Nach vorne gebeugt, verweilte ich einen Moment und beobachtete meinen Schatten, dessen Silhouette ein Abbild von mir selbst auf die Fliesen zeichnete. Ich holte, mit mehreren Verzögerungen, tief Luft. Dann gewannen meine Gefühle des tiefen Schmerzes die Oberhand und ich konnte es nicht mehr zurückhalten. Ich weinte.

Schließlich wurde mein Körper wieder leicht wie eine Feder. Trotz der Narben auf meiner roten Haut und den wunden Füßen, Knien und Händen, vergingen meine Schmerzen. Langsam erhob ich mich in meinen zerfetzten Lumpen. Ich blickte um mich herum und erkannte nun, dass die weißen Gestallten, die mich in den Garten Eden brachten, die Frauen in den weißen Gewändern waren, die mir bereits bei meinem Weg ins Leben, am Tor, Spalier gestanden hatten. Die Frauen in ihren weißen Gewändern standen noch immer um mich herum und schauten mich mit entsetzten Blicken an, aber niemand sagte etwas. Auch ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Also drehte ich mich schweigend von ihnen weg und begann langsam der weißen Marmorstraße in Richtung der weißen Villa zu folgen, hin zu jenem mir vertrauten Ort, wo ich einen alten Mann, zwischen einem Zierbrunnen und einem Apfelbaum, wiedersehen würde.
Still schwebte ich zwischen den grünen Hügeln auf dem Weg des Lichts.

Und da erblickte ich ihn abermals, - den alten Mann. Er stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen. So weit ich mich erinnern kann, stand er schon immer da. Meistens alleine.
Nichts auf der Welt, hätte ihn jemals von diesem Platz vertreiben können. Dies war sein Platz.
Und so würde jeder, der zu diesem Ort kam, gleichzeitig auch kommen, ihn zu besuchen. Er freute sich jedes Mal, wenn er Besuch bekam, denn er war einsam.

Der alten Mann (Reue)
Ich verließ den weißen Marmorweg und streifte barfuss durch das kurze Gras, bis ich neben ihm stand.
Eine Zeitlang verweilte ich still neben ihm und traute mich nicht ein Wort zu sagen. Dann unterbrach ich die erdrückende Stille und sprach leise,

„Du hattest Recht, alter Mann. Ich war ein Narr.“

Er drehte sich zu mir um und lächelte.
Es war nicht nötig, mehr zu sagen, - ja vielleicht, war es auch nicht mehr möglich, wirklich etwas zu sagen, denn worüber soll man sprechen, wenn neue Gedanken selten werden.

Der Apfel
Ich pflückte wieder einen Apfel vom Baum.
Er war perfekt. Er war wirklich unglaublich perfekt.
Er war süß, saftig und außergewöhnlich lecker.
Noch nie schmeckte mir ein Apfel so gut, wie dieser.
Oh, wie ich ihn genoss und spürte, wie mein Hunger verflog.

„Verdammt, schon wieder!“, hörte ich ihn fluchen.

Das Wasser
Alsbald trank ich vom Wasser aus dem Brunnen.
Es war perfekt. Es war wirklich unglaublich perfekt.
Es war kristallklar, kalt und frisch.
Noch nie schmeckte mir Wasser so gut, wie dieses.
Oh, wie ich es genoss und spürte, wie mein Durst verflog.

„Schau Dir das an!“, klang es dumpf in scheinbar weiter Ferne.

Der Grashalm
Gesättigt, legte ich mich auf das weiche kurze Gras, genoss diesen wundervollen Blick über die Landschaft und versank, im angenehmen Halbschatten der Blätter, in meine Gedanken.

„Erst das Saure, machte das Süße, süßer“, durchfuhr mich ein Geistesblitz.

„Ein abgebrochener Grashalm!“, tönte es zu mir herüber.

Ich schaute dem alten Mann in sein fahles Gesicht.
Dann ließ ich meinen Kopf ins Gras fallen und blickte durch die grünen Blätter in den blauen Himmel,

„Ja, so wird es wohl sein“, sagte ich mir erneut. “Erst das Saure, macht das Süße, süßer“.

Ein warmer Sonnenstrahl drang durch die Blätter hindurch und blendete mich. Ich genoss mit verschlossenen Augen die Wärme in meinem Gesicht und schlief in der Nachmittagssonne ein.


Das zweite Leben
Der sechste Morgen

Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts. Ich war wieder im hohen weißen Saal erwacht und stand entspannt, leicht bekleidet, in meinem weißes Gewand, barfuss auf dem glatten, angenehm kühlen, Marmorboden. Langsam erkannte ich wieder die drei hohe Flügelfenster vor mir. Die morgendliche Sonne floss sanft durch die langen Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Ich hörte Vögelgezwitscher. Einer der hohen gläsernen Flügeltüren war leicht geöffnet und eine lauwarme Brise wehte herein und ließ die langen weißen Vorhänge der Fenster, leise und sanft nach außen schwingen.

„Die Sonne begrüßt dich und die Vorhänge machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Ich schritt wieder an den palavernden Menschen vorbei, schob die gläsernen Flügeltüren weit auseinander, betrat die große, weiße Terrasse und atmete, erst ganz langsam nur durch die Nase, dann doch ganz tief, die frische Morgenluft ein. In der Nähe standen wie immer einige weiße Steintische und an einigen dieser Tische saßen vereinzelnd Menschen. Manche von ihnen blickten still von der Terrasse herab und genossen ihren weiten Blick über den grünen Garten. Andere genossen einfach ihr Frühstück in der Sonne und bestrichen akribisch ihre Brötchen mit Marmelade.

Ich stützte meine Hände auf das steinerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die weite Landschaft schweifen.

„Dies, ist der Garten Eden“, wusste ich.

Der alte Mann stand, wie immer, zwischen dem Apfelbaum und dem kunstvoll verzierten Brunnen. Im Halbschatten der Baumkrone, schaute er über die weiten grünen Hügel, mit seinen vielen farbenfrohen Blumen und denen dort vereinzelt stehenden kleinen Bäumen.

Dies war sein Platz.

Schon aus dieser Entfernung konnte ich seinen Missmut hören. Er meckerte, wie immer, über die Unvollkommenheit der süßen Äpfel, über den zersprungen Mosaikstein, im Brunnen des klaren Wassers, und über den abgebrochenen Grashalm des weichen Rasens.

Der alten Mann (Erkenntnis)
Ich folgte den weißen Stufen hinunter in den Garten und streifte bald barfuss durch den Morgentau des kurzen Grases, bis ich neben ihm stand. Er drehte sich zu mir um und lächelte.

„Ich gehe fort“, sprach ich.

„Du gehst fort? Wohin? Du bis doch gerade erst nach Hause gekommen“, antwortete er mir entsetzt.

„Ich gehe zurück ins Leben“, sagte ich und erwartete, dass er mich nun für dumm und vergesslich erklären würde.

„Wie kann man nur so dumm und vergesslich sein!“, erwiderte er. „Hast Du schon vergessen, wie du zurück kamst? Deine Haut ist jetzt noch rot und vernarbt. Ich hatte dich beobachtet, wie du im Leben littest. Wie oft sah ich dein verzweifeltes Gesicht, wenn Du zum Garten Eden zurückblicktest und dir ersehntest, du wärst hier! Du schautest dich um und erstarrtes praktisch zur Salzsäule, verharrtest in deinem Kummer und stecktest in deiner Sehnsucht und deinem Selbstmitleid fest. Und? Hast du vielleicht den Weg in den Wald gefunden?“

Ich versuchte ihm zu erklären, wie ich dachte: „Wie hätte ich den Weg in den Wald finden sollen, wo ich doch keinen Blick nach vorne richtete? All meine Aufmerksamkeit und Gedanken galten alleine dem Garten Eden. Meine Sehnsucht zur Vergangenheit war größer, als meine Konzentration auf die Gegenwart und meine Hoffnung in die Zukunft.
Und ja, Du hast Recht. Bei meinem Blick zurück, erstarrte ich tatsächlich zur Salzsäule und verharrte im Weiterkommen. Denn ich war zu schwach.
Das nächste Mal will ich daher meiner Herkunft keines Blickes und keines Gedankens würdigen, sondern konzentriert nach vorne gerichtet, aufmerksam, dem Weg des Lebens folgen. So werde ich diesen Fehler kein zweites Mal begehen, bis die Zeit gekommen ist, da ich mich erinnern kann, ohne fest zu klammern und ich los lassen kann, obwohl ich Wissen habe, - bis die Zeit gekommen ist, dass meine Hoffnung mehr Macht über mich hat, als mein Wissen.“

Regungslos stand er mir gegenüber und ich wartete auf irgend eine Reaktion.
Nach einer halben Ewigkeit öffnete er leicht den Mund, atmete ein und zog seine rechte Augenbraue hoch. Das war alles.

„In vier Wochen sehen wir uns wieder“, unterbrach ich die Geduldsprobe.

Ich drehte mich um, griff mir meinen kleinen Rucksack und schnallte ihn auf den Rücken. Ich war dieses Mal besser vorbereitet. Ein kurzer Ruck an den Trageriemen und er saß bombenfest.

„Ich wünsche Dir alles Gute“, sagte ich noch.

Dann machte ich mich auf den Weg.

Der zweite Schritt
Ich flog fast über den weißen Marmorweg, denn ich wollte keine Zeit vergeuden und erreichte schnell das goldene Tor zum Leben. Die Frauen in den weißen Gewändern standen wieder Spalier und warfen mir erstaunte Blicke zu. Auch die „Jungvögel“, die davor saßen und die „Lumpen“, die dahinter saßen, schauten gespannt zu mir herüber. Ich wusste, worüber sie redeten, aber es interessierte mich nicht.

Die Tore öffneten sich:

„Die Sonne begrüßt dich und die Tore machen für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

„Vier Wochen! Nicht ewig, aber vier Wochen werde ich durchhalten, denn dies ist das Leben“, wusste ich.

Und so schritt ich durch das mächtige Tor hindurch und atmete, ganz vorsichtig und langsam, durch die Nase, die heiße, staubige Luft des Lebens ein.

Ich erwartet wieder den Kampf mit der Gravitation, aber obgleich ich mein schwereres Gewicht spürte, stand ich fest und sicher. Meine Beine hatten durch mein letztes Leben an Muskeln dazu gewonnen und waren nun bereit mich zu tragen, wohin ich wollte.

Und ich schritt noch etwas zaghaft auf die spitzen Steine des Lehmweges, aber obgleich ich den ungleichmäßigen Druck unter meinen nackten Füßen merkte, spürte ich keinen Schmerz. Meine Füße hatte durch mein letztes Leben Hornhaut bekommen und diese schützte sie nun wie ein Panzer.

Und die Sonne glühte erbarmungslos auf meinen Körper, aber obgleich ich die stärke Ihrer Strahlung merkte, verbrannte meine Haut nicht, denn sie war braun geworden.

„Wen interessiert der Garten Eden? Vergiss ihn, bis der Tag gekommen ist“, sagte ich zu mir selbst.

Und so durchquerte ich schnell die Steppe und ich drehte mich nicht um.
Und ohne einen Gedanken an den Garten Eden zu verschwenden, erreichte ich bald die Tundra. Schon am Nachmittag stand ich, dem Ziel des Weges zu entsprechen, vor dem dichten dunklen Wald, der mauergleich, als jähes Ende, jedes weiterkommen zu versperren schien. Aber ich schaute nach vorne, denn ich wusste, dass es ihn gab und fand einen kleinen verschlängelten Pfad, der erst rechts am Waldesrand entlang, dann plötzlich in einem Linksknick, in Mitten des tiefen Waldes führte. Ich hatte ihn tatsächlich gefunden!

„Dies war mein Weg!“, freute ich mich und gab mir Zuversicht.

Und so beschritt ich voller Hoffnung, aber auch mit Befürchtungen vor der Ungewissheit, den langen Weg in den tiefen Wald.
Dichtes, dunkles Grün der hohen Baumkronen umrankte mich, wie das Gewölbe eines Tunnels. Einige helle Sonnenstrahlen durchdrangen vereinzelnd das Blättergewölbe und berührten den Boden des Waldweges. Die Luftfeuchtigkeit war hoch. Feiner Nebel lag auf der Erde und kroch an manchen stellen die Baumstämme hoch. Die trockenen Schleimhäute meiner staubigen Nase begannen, wie ein Schwamm, die kühle Feuchtigkeit des schattigen Waldes aufzunehmen und so konnte ich bald wieder sehr intensiv Gerüche wahrnehmen. Es roch nach jungen Pilzen, vermodertem Holz, verharzten Tannen und nasser Erde. Ich brauchte Nahrung. Und so folgte ich dem Weg, immer tiefer, in den dunklen Wald hinein. Ich schaute konzentriert nach vorne und nach oben, stets auf der Suche nach etwas Essbarem. Und ich suchte nach etwas, was ich kannte. Ich suchte nach Äpfeln.

Der große Baum
Viel höher als erwartet, zwischen den grünen Blättern eines Laubbaumes, erahnte ich schon bald einen blättergrünen Apfel. Ein Apfel in dieser Höhe erschien mir nicht plausibel. Ich traute meinen Augen nicht so recht und wollte diesen scheinbaren Umstand erst einmal prüfen. Skeptisch, näherte ich mich dem dicken Baustamm. Am Fuße angelangt, zwischen seinen mächtigen Wurzeln, die wie große Schlangen im Erdreich versanken, blickte ich nach oben und konnte mich schließlich selbst versichern: Dort oben, in ziemlich großer Höhe, hing tatsächlich ein grüner Apfel. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor einen so hohen Apfelbaum gesehen. Ich musste auch noch nie auf so einen hohen Baum klettern, um einen Apfel zu pflücken! Aber was hätte ich tun sollen. Ich hatte Hunger.
Nur gut, dass mich keiner sehen konnte, als ich versuchte, mit Anlauf, den Baumstamm herauf zu laufen oder, in völlig lächerlichen Köperhaltungen, verkrampft nach Griffen in der Baumrinde suchte. Es sah vielleicht nicht besonders elegant aus, aber irgendwie gelang es mir dann mit einer Grätsche, kopfüber, bei gleichzeitigem kräftigem Wegdrücken meines Körpers mit beiden Armen nach oben, die erste Astgabel des Baumes zu erklimmen. Von unten aus betrachtet, hatte ich somit den schwierigsten Teil des Kletterns geschafft, da oberhalb der Gabel, die Verästelung des Baumes zunahm und somit enger zusammenliegende Tritt- und Haltemöglichkeiten, mein Weiterkommen verbessern dürften. Zwischen den Blättern hindurch, bahnte ich meinen Weg durch die Baumkrone. Ich hatte mich nicht geirrt. Hier oben gab es so viele Äste, dass ich problemlos höher hinauf steigen konnte. Bald wühlte ich mich auf einem horizontal verlaufenden, dicken Ast durch das Grün. Energisch bog ich einen sperrigen Zweig zur Seite, setzte einen großen Schritt nach vorne und erschrak. Ich stand plötzlich, außerhalb der dichten Baumkrone, auf dem schmalen Ast im Freien. Rechts, links, wie auch da runter, nichts als leere! Ich war inzwischen vielleicht 9 Meter über dem Erdboden. Der ausladende, knorrige Ast, auf dem ich stand, streckte sich noch einige Meter aus dem Blätterwerk des Baumes heraus und verjüngte sich zu einer dünn schwankenden Astspitze, in den bodenlosen Himmel. Mit beiden Händen umklammerte ich verkrampft einen, über meinen Kopf befindlichen, Ast. Jener verlief parallel, etwa zwei Meter über dem Ast, auf dem ich stand. Auch dieser wurde zu seinem Ende hin dünner und endete schließlich in einem kleinen, filigranen Astgabelchen. An der Spitze des letzten Zweiges, hing ein kleines grünes Blättchen. Und unter diesem kleinen Blättchen, hing ein saftig grünes Äpfelchen. Es tänzelte fast höhnisch, in ca. vier Meter Entfernung vor mir, im freien Wind.

„OK“, sagte ich mir und schaute an meinen Füßen vorbei in den Abgrund, „nur nicht hinunter sehen!“

Ich zwang mich nach oben zu schauen und erblickte meine zitternden Hände an dem Ast über mir. Weiße Wolken bewegten sich am blauen Himmel, im Hintergrund meiner Hand, und dies gab mir das irreleitende Gefühl, der Baum kippe mit mir nach rechts um: „Auch keine gute Idee.“ Und so stierte ich wieder auf den grünen, wackelnden Apfel vor mir. Im Hintergrund des Ziels meiner Begierde, senkte sich unter mir ein Blätterdach niedriger Bäume. Dahinter schien sich eine Lichtung mit einem See zu befinden.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Apfel:

„Ich muss mich nur am oberen Ast festhalten und auf dem unteren Ast balancieren. Wenn ich herunterfalle, werde ich sterben. Wenn ich nichts esse, werde ich auch sterben. Es ist theoretisch nicht unmöglich, an diesen Apfel zu gelangen“, sagte ich mir.

Ich bemerkte die Vorherrschaft meiner mich blockierenden Höhenangst:

„Du Angst! Du hast mir geholfen, nicht voreilig zu handeln und hast mich zu Vorsicht ermahnt. OK. Ich habe es verstanden. Nun hilfst du mir aber nicht weiter, denn ich will nicht als dein Sklave falsche Entscheidungen hinnehmen müssen, sonder mit meinem freiem Willen eine Entscheidung auf Vernunft durchsetzen! Ich lasse jetzt nicht mehr zu, dass Du Macht über mich hast. Ich bin dein Herr. Also verschwinde.“

Ich redete mir ein, es gäbe keine Tiefe, als wäre es eine Illusion und ich befände mich in Wirklichkeit unmittelbar über dem Boden. Meinen Augen bat ich, nicht auf den Hintergrund zu achten, sondern nur den Vordergrund schön scharf zu stellen. Es sollte nur noch den Ast geben, auf dem ich stand, den Ast, an dem ich mich festhielt und den Apfel, den ich bekommen musste. Für die nächsten Minuten sollte es keine andere Welt für mich geben.

„Dem Mutigen gehört die Welt!“, sagte ich und versuchte hiermit meine Angst zu verdrängen.

Und so ging ich, Schritt für Schritt, Handgriff für Handgriff, auf meinem schwankenden Weg im Wind, und näherte mich dem grünen, runden Ziel.
Ich erreichte den Apfel. Eigentlich wollte ich dem Apfel noch einen Spruch für seine Dreistigkeit an den Kopf werfen, sich einen so frechen Platz ausgesucht zu haben, doch bei dem Gewackel auf den dünnen Zweigen in dieser Höhe, dem böigen Wind und meinem unsichern Halt über dem Abgrund, verschlug mir meine Panik die Sprache. So pflückte ich ihn nur schnell und steckte ihn in meine Tasche, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von meinem Halt abzuwenden. Konzentriert balancierte ich ebenso vorsichtig zurück, wie ich mich aus dem Blätterhaus herausgewagt hatte, bis ich mich endlich wieder innerhalb der Baumkrone befand, wo die Äste wieder dicker und stabiler waren und mir die grünen Blätter um mich herum, ein Gefühl von Halt, Sicherheit und Geborgenheit vermittelten.

„Ha, geschafft! ha ha! Soll das etwa schon alles gewesen sein? War ja ein Kinderspiel!“, und mein aufgeregtes Gackern klang bald eher wie blödes Grunzen.

Ich beruhigte mich jedoch langsam und genoss in diesem kleinen grünen Nest die Schönheit des hohen, stillen Versteckes. Die Sonnenstrahlen, welche durch eine kleine Öffnung im Blätterdach von oben zu mir herunter gelangten, verliehen den feuchten, grünen Blättern, um mich herum, einen seidigen Glanz. Rechts oben von mir bemerkte ich, wie ein einzelner Wassertropfen, von einem Blatt, auf das nächst tiefere viel und dabei jedes mal eine kleine Wasserspur auf seinem grünen „Landeplatz“ hinterließ. Irgendwie glich das kriechen der mickrigen Silbermurmel, einer kleinen Schnecke, die manchmal in ihrer Eile, auf das nächste Blatt hüpfte. Sozusagen eine Springschnecke. Dann verschwand der Tropfen im unteren Dickicht und ich besann mich wieder auf mich selbst:

„Du hast gerade etwas getan, was Du noch nie tatest“, wurde mir bewusst.
„Du warst dir nicht sicher, ob du es schaffen würdest und nun hast Du eine Aufgabe gelöst, die du dir erst kaum zutrautest.
Als du die lähmenden Mauern in dir niederrissest und sich sodann dein Horizont erweiterte, als du deine Angst besiegtest und den Mut aufbrachtest, dich auf neue Möglichkeiten einzulassen, als du an deine Fähigkeiten glaubtest und dir begannst mehr zuzutrauen, wurdest du vom Sklaven deiner Angst, zum Herren deiner selbst.
Mit jeder Angst, die du überwindest, wirst du also ein Stück freier. Jede Aufgabe lässt dich wachsen. Ich fühle mich nun stärker, größer und freier, als jemals zuvor. Ich fühle mich gut.“

Mit meiner rechten Hand holte ich den Apfel aus meiner Tasche und betrachtete ihn mit einem großen Glücksgefühl. Ich nahm einen kräftigen Bissen. Und obwohl er schrumpelig war, schmeckte er besser als jeder Apfel, den ich je gegessen hatte. Es tat gut, wieder etwas im Magen zu haben, aber ich glaube, dies war nicht der einzige Grund für seinen köstlichen Geschmack:

„Nichts ist so süß, wie der Erfolg der eigenen Bemühung“, dachte ich mir.
„Geschenkt, hätte mir der Apfel vielleicht nicht so gut geschmeckt.“

Und so verwandelte sich meine Unsicherheit auf Grund von Unwissenheit, in Sicherheit aufgrund meines neuen Wissens. Ich hatte Selbstvertrauen und ich stieg weiter hinauf. Ich pflückte so viele Äpfel, wie ich in meinen kleinen Rucksack unterbringen konnte. Schließlich kletterte ich hinab und fand, am Fuße des mächtigen Stammes, endlich wieder sichern Halt auf breitem Boden. Ich blickte noch einmal nach oben, schaute in die Tiefe der Baumkrone und lächelte, wie zu einem guten Freund. Dann betrachtete ich mich selbst:

„So, wie dieser lebendige Baum zum Lichte strebt, so bist auch du endlich mal über dich hinausgewachsen. Und so, wie der in die Höhe wachsende Baum nur deshalb an Stärke hinzugewinnen kann, weil er seinen in die tiefe wachsenden Wurzeln vertraut, kannst also auch du nur Stärke mit deinem Mut zum Selbstvertrauen gewinnen.“

Ich schaute voller Stolz auf die Äpfel in meinem kleinen Rucksack. Dies waren meine Trophäen, meinen Schatz, ein Beweis für mögliche Erfolgschancen und praktisch gesehen, erst einmal Nahrung für ein paar sorglose Tage. Ich hatte nun ein bisschen Zeit zum Suchen nach Essbarem gewonnen. Der Erfolg gab mir Hoffnung. Zwar eine Hoffnung auf eine Zukunft ohne Sicherheit, aber immerhin eine Zukunft mit Grund zur Zuversicht. Vielleicht wird es nicht immer so sein und dann hoffe ich auf eine zweite Chance, aber diesen Erfolg wird mir nie einer nehmen können. Vielleicht werde ich von meinem Erfolg länger zehren können, als von den Äpfeln selbst, denn nun gab es in meinem Wissen eine beruhigende Gewissheit: Was einmal möglich war, kann ein zweites mal nicht grundsätzlich unmöglich sein. Ich hatte Gesiegt! War dies vielleicht das Geheimnis der Hoffnung?

Ich beschloss, ab jetzt, jede meiner Erfahrung im Nachhinein zu überdenken, um mir immer wieder bewusst zu machen, wo ich im Leben stehe, was ich aus meiner letzten Erfahrung lernen könnte und ob das Leben mehr aus guten oder schlechten Erfahrungen besteht.
Vielleicht braucht man ausschließlich schöne Erfahrungen, um Hoffnung zu haben.

„Nun“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Mut, besiegte ich die Angst und hatte Erfolg.
Durch meinen Erfolg, erkannte ich meine Macht und gewann an Mut.
Glücklich über meine erfolgreiche Tat und, durch das Erkennen meiner Macht, mutiger, bin ich nun zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“

Dann schwang ich meinen Rucksack auf den Rücken, zog mit einem festen Ruck die Trageriemen fest, ging zurück auf den Weg und setzte meine Reise in die Tiefen des Waldes und der Ungewissheit fort.

„Die Sonne begrüßt dich und die Träume machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Die Glöckchen
Ich folgte dem sich schlängelnden Weg durch das Gehölz. Mit jedem zügigen Schritt, den ich ging, wippte mein kleiner Rucksack auf meinen schmalen Schultern leicht hin und her. Meine Trageriemen passten sich, in einem leisen Knartschen, den Bewegungen an. Die vereinzelten Sonnenstrahlen, die letztens noch meinen Weg beschienen, blieben nun aus. Es Dämmerte. Links von mir funkelte ein zaghaftes Glitzern durch die Bäume.

„Dies könnte der See der Lichtung sein, den ich von meinem Baum aus gesehen hatte“, dachte ich mir.

Das Gezwitscher der Vögel veränderte sich, denn so die einen sich schlafen legten, wachten andere auf. Und seltsame Rufe hallten nun durch den Wald.
Ich kam an eine Gabelung. Der Hauptweg schien geradeaus zu gehen. Zu meiner Rechten, verschwand im Dunkeln ein Weg, unter einem dichten, niedrigen Blätterdach, mehrerer ausladender Bäume. Irgendetwas bewegte sich dort. Aus selbiger Richtung hörte ich leise Glöckchen läuten. Ich stellte mich an die linke Seite des Weges und versuchte, so gut ich konnte, zu erspähen, was sich dort aus dem dunklen Tunnel auf mich zu bewegen würde. Die Glöckchen wurden lauter. Schwarze Schatten kamen aus der Dunkelheit hervor. Es waren menschenähnliche Gestalten, eingehüllt in langen dunklen Kutten. Ihre Gesichter waren unter Kapuzen versteckt. Der Vorderste trennte sich aus seiner Formation und kam direkt auf mich zu. Er hob seinen Kopf und ein großer Schnabel schaute mich an.

„Gehet aus dem Weg Fremder und fliehet! Die Pest geht um!“

Er griff zu seinem Schnabel und schob mit ihm eine Maske nach oben. Dunkle Augen, so schwarz wie Löcher, starrten mich ernst aus einem grauen Gesicht an.

„Gehet Fremder und verweilet nicht, sonst seid auch ihr des Todes geweiht!“

Hinter ihm strömten weitere Menschen aus dem Dunkeln hervor. Mit aufgerissenen Augen, tippelte ich unbeholfen rückwärts eine kleine Böschung hinunter, bis ich mit meinem Rücken gegen einen Baumstamm stieß. Der Mann mit der Maske klappte seinen Schnabel wieder herunter, setzte sich erneut an die Spitze der armen Geschöpfe und lotste sie auf den Weg in die Richtung, aus der ich kam. Sie zogen sehr langsam an mir vorbei. Außer ein vereinzelndes leises Wimmern, war von ihnen nichts zu hören. Sie stützten sich gegenseitig, wenn sie alleine nicht mehr gehen konnten. Einige hielten Kinder in ihren Armen. Viele dieser Kinder schienen tot zu sein, denn sie ließen ihre kleinen, grauen Ärmchen nach unten hängen, und sie baumelten unbeteiligt hin und her, selbst wenn sie irgendwo anstießen. Aber selbst die kleinen Kinder, die noch lebten und mich manchmal mit ihren großen Augen ansahen, gaben keinen Mucks von sich. Zuletzt zogen sie einen, mit Leichen beladenen, Handkarren an mir vorbei und hinterließen einen süßlichen Geruch der Verwesung. Langsam verschwand die Menge wieder im Dunkeln. Das Poltern der Holzräder wurde immer leiser und der Klang der Glöckchen verstummte. Stille kehrte ein. Plötzlich schreckte mich ein lautes Knackten im Wald auf. Irgendwo im Gehölz ortete ich das Flattern aufsteigender Vögel. Ich schaute mich um. Es war nun beinahe Nacht.
Ich entschied mich, links meines Weges, querfeldein, durch den Wald zur Lichtung zu gehen. Langsam tastete ich mich an den dunklen Baumstämmen vorbei und trat, möglichst behutsam, auf den unsichtbaren Waldboden auf. Hin und wieder zerstörte ich trotzdem die Stille der Nacht und zerbrach unverhofft, laut krachend, einen großen Zweig unter meinen Füßen. Immer deutlicher glitzerten, zwischen den Bäumen, die kleinen Wellen des Sees hindurch, der sich hinter der Waldkante, in einer Lichtung, befinden sollte. Bald erreichte ich den Waldrand und hatte freien Ausblick auf den See. Vorsichtig stieg ich den dahinterliegenden Hang hinab und erreichte schließlich, in einer kleinen Bucht, den Strand. Dicht vor dem Wasser kniete ich mich in den Sand, löschte meinen Durst und setzte mich auf den Boden. Ich lehnte mich nach hinten, stützte mich auf meine Ellenbogen auf und streckte meine Beine. Einige hundert Meter von mir entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Sees, toste ein silberner Wasserfall im fahlen Schein des inzwischen aufgegangenen Vollmondes. Ich blickte zum Mond auf und bewunderte die kalte Schönheit dieses weißen Himmelskörpers, der sich einsam im glitzernden See widerspiegelte und zwischen den dunklen Wäldern der Nacht, die funkelnde Kontur der Wasseroberfläche, hervorhob. Seine tröstenden Strahlen fielen sanft auf meinen Strand und tauchten ihn in weiches Licht. Müde öffnete ich meinen Rucksack, nahm einen meiner Äpfel heraus und aß ihn sehr langsam.

„Nein“, sagte ich mir, „dies war keine schöne Erfahrung:
Eben erkannte ich meine Ohnmacht und verlor dadurch an Mut.
Durch meinen verloren gegangenen Mut, fühlte ich mich meiner Angst wehrlos ausgeliefert. Nun fürchte ich mich vor einer Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit weiß.“

Traurig, über meine erfolglose Tatenlosigkeit, vom Mitleid langsam ins Selbstmitleid verfallend und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, feiger, bin ich nun wieder skeptischer in meiner Hoffnung.“

Ermattet und Müde des Hoffens, legte ich mich in den Sand, ließ die seltsamen Eindrücke des Tages, wie ein Echo, verklingen und schlief schließlich in einem Strom der Bilder ein.


Ein Leben am Wasserfall

Die Sonne ging auf. Es war klarer blauer Himmel. Leise rauschten die Wellen, wenn sie sich beim Erreichen des Strandes ein letztes Mal aufblähten, um letztendlich doch nur aufzulaufen. Doch sie brachten feine Sedimente aus den Tiefen der Wasserwelt ans Tageslicht. Und kleine Schätze, angespült aus einer Welt, der Strömungen, flogen nun, in einer Welt der Winde umher. Der gegenüberliegende weiß glitzernde Wasserfall zeigte sich, in der aufgehenden Morgensonne, in erhabendem Stolz. Die spritzende Gischt, an seinem Fuße, läutete im lauten Getöse, kraftvoll und selbstsicher, ohne Scham und Muße, die lebendige Freude des Lebens an diesem Tage ein und sprudelte die Luft des Morgens und die Strahlen der Sonne, zwischen die verschlafenen Wogen des Sees.

„Die Sonne begrüßt dich und die Wassern machen für dich den Weg ins Leben frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und ich entledigte mich meiner Kleider. Nackt schwamm ich durch die erfrischende Kühle des Sees und näherte mich mit wachsender Vorfreude dem glitzernden Wasserfall. Ich erreichte das andere Ufer und erklomm einen warmen, glatten Felsbrocken, der mir mit seiner sanften Neigung aus dem kalten Nass, einladend, zum einfachen Aufstieg verhalf. Um den Wasserfall, bildeten aneinandergereihte Felsbrocken, eine kleine Bucht. Wie auseinandergezogene Vorhänge, teilten sich die herunterstürzenden Wassermassen in einen großen Hauptwasserfall und einen kleineren Nebenwasserfall. Dieser verfehlte den direkten Weg in den See und erschüttete sich statt dessen, wie eine große Dusche, auf einem glatten Felsplateau. Ich näherte mich dieser von Gott erschaffende Brause, stellte mich schließlich unter sie und genoss das prickelnde Gefühl der lauwarmen Massage. Langsam schritt ich näher zur Felswand und ließ den Wasserfall, über mich, seinen großen Bogen ziehen. Ich drehte mich um und beobachtete, wie die Sonne, durch die Kristalle der gläsernen Wasserfäden, ihre bunt glitzernden Strahlen brach, während sich die Konturen und Farben, der dahinterliegenden Landschaft, wabbernd verzerrten. Ein ungewöhnlicher Schatten unterbrach das Farbenspiel. Ich trat durch den Wasserfall hindurch und sah am Ufer des Sees, einige Meter vor mir entfernt, einen kaum bekleideten Mann auf einem Felsen stehend. Er stand mit dem Rücken zu mir und trug nichts, außer einen Lendenschurz und einen alten Strohhut. In seinem rechten ausgestreckten Arm hielt er einen bedrohlichen Speer, an dessen hinteren Ende, eine Schnur hing. Plötzlich warf er ihn blitzschnell vor sich ins Wasser. Ich ging langsam auf ihn zu und sah, wie der Mann seinen Speer, mit einem Fisch an der Spitze, wieder herausholte. Er drehte sich zu mir um, musterte mich einen Augenblick und wendete seinen Blick dann wieder von mir ab, um sich seinem Fang zu widmen. Ich stellte mich neben ihn auf den Felsen.

„Was tut Ihr dort?“, fragte ich ihn.

„Ich fische. Sind besonders köstlich“, antwortete er spartanisch, lege den getöteten Fisch neben sich auf den Felsen und beobachtete, ohne mich weiter zu beachten, wieder die Wasseroberfläche. Der Fisch zuckte noch ein paar Mal. Dann lag sein schuppiger Körper, silbern glänzend, in der Sonne und ein großes, totes Auge starrte mich an.

„Um selbst zu leben, musste der Mann also Fleisch essen und dafür einen Fisch töten“, dachte ich: „Und das nennt man dann also Fischen.“

Ich folgte dem Ziel seiner Blicke und sah, wie sich viele Fische am Rand des Wasserfalls im sprudelnden Wasser tummelten. Wir standen beide auf diesem Felsen und beobachteten schweigend das Geschehen.

„Die Fische töteten sich nicht gegenseitig“, dachte ich weiter. „Sie fischten nicht. Vielleicht würden sie „menschen“, wenn sie stärker wären als der Mensch, um sich von seinem Fleisch zu ernähren, um selbst zu leben.“

Ich blickte auf meinen eigenen Körper:

„Bot mein Körper, dem Fischer, nicht viel mehr Fleisch, als ein Fisch? Dennoch menschte er nicht, sondern fischte. Warum? Vielleicht lag es ja daran, dass wir uns beide mehr glichen, als ein Mensch dem Fisch. Ist es dann richtig, zu töten, was andersartig ist, aber falsch, zu töten, was gleich ist? Es scheint auf jeden Fall ein Vorteil zu sein, dem stärkeren und nicht dem schwächeren zu gleichen.“

Mir fiel auf, wie sich ebenso die sich gleichenden Fische gefunden hatten, um ihr Leben innerhalb eines Schwarmes gemeinsam zu verbringen.

„Vielleicht ist es ein Vorteil, überhaupt jemandem zu gleichen.“

Ich schaute den Fischer an, musterte seinen muskulösen Körper und seine scharfe Waffe.

„Wir sind uns nicht gleich“, überlegte ich weiter, „nur ähnlich. Ich sehe nicht genauso aus wie er und vermag nicht mit den gleichen Fähigkeiten aufzuweisen. Was würde er wohl tun, wenn er bemerkte, dass wir uns nicht glichen, sondern nur ähnlich waren? Wann würde er beginnen in mir einen Fisch zu sehen?“

Der Fischer drehte sich zu mir um und seine grün leuchtenden Augen, in seinem versteinerten Gesicht, schienen mich zu durchbohren. Dann lege sich zögernd ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht und er fragte mich freundlich, mit tiefer und ruhiger Stimme:

„Möchtet Ihr es auch einmal versuchen, Fremder?“

„Ihr fragt mich?“, reagierte ich etwas überrascht und zögerte einen Moment.

Dann begann ich allmählich zu verstehen: Er hatte wohl durchaus unsere Ungleichheit gesehen, aber auch unsere Ähnlichkeit erkannt. Es bestand also scheinbar aus seiner Sicht, zwischen uns, die Chance des Aufbaus von Gemeinsamkeiten und nun verhalf er mir, mich ihm anzugleichen. Vielleicht um zu testen, wie sehr ich für ihn Mensch oder Fisch war?
Trotz meines Bewusstseins, mit meinen Fähigkeiten und seinen Erwartungen konfrontiert worden zu sein, wagte ich, die Herausforderung anzunehmen.
Ich versuchte mich locker zu geben.

„Ja, warum eigentlich nicht“, antwortete ich.

Der Fischer überreichte mir seinen Speer und ließ mich amüsiert meine Versuche machen.
Zu dieser Zeit war ich für ihn wohl nur ein männlicher Backfisch.
Ich suchte mir einen besonders dicken Fisch aus und warf den Speer, mit aller Kraft, auf mein Ziel und voll daneben. Ich hätte schwören können, dass ich ihn hätte getroffen haben müssen.
Der Fischer bat mich um die Rückgabe des Speeres und hielt ihn dann zur Hälfte ins Wasser.
Der lange Stiel des Speeres schien unter der Wasseroberfläche einen Knick nach oben zu bekommen.

„Seht Ihr das?“, fragte er mich schmunzelnd, „die Welt unter Wasser bekommt ihr eigenes Licht. Die Oberfläche bricht die Strahlen der Sonne. Ihr müsst unter den Fisch zielen, um ihn zu treffen!“

Er drückte mir energisch seinen Speer in die Hand und forderte mich mit einem Nicken zu einem neuen Versuch auf. Und ich zielte dieses Mal unterhalb eines Fisches und traf.
Wir lachten beide und freuten uns über den Erfolg. Ein Erfolg im Lehren und Lernen und ein Erfolg im finden einer neuen Zusammengehörigkeit.
Wir wechselten uns ab und holten noch einige Fische heraus. Und wenn der eine Müde wurde, machte der andere weiter.
Bald war ich nicht mehr nur sein Schüler und er nicht mehr nur mein Lehrer, sondern wir wurden Partner, die für ein gemeinsames Ziel kämpften. Das Ziel, uns beim Fang von unserer Nahrung, gegenseitig zu unterstützen. Das Ziel, gemeinsam zu überleben.

So gut wie er, war ich natürlich nicht. Wir hatten schließlich 10 Fische gefangen. Ich konnte dabei mit einer Beteiligung von drei Fischen „glänzen“. Aber dies schien nicht wichtig zu sein, auch nicht für ihn. Vielleicht war dem Fischer bewusst, dass es auch für ihn schlechter hätte ausgehen können. Vielleicht wusste er, dass es um mehr, als den kurzfristigen eigenen Erfolg ging, denn was nützt er einem, wenn man sich dadurch eventuell zukünftigen Chancen beraubt. Vielleicht hatte er aber auch einfach eine weitsichtigere Lebenseinstellung, eine Einstellung für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden. Nun war ihm meine Gnade sicherer, falls er meine Hilfe brauchen würde, so wie ich seine Gnade erfuhr, als er mir half.

Bald holte er ein paar trockene Äste und feines Gestrüpp aus dem Wald, entzündete ein kleines Feuer und zeigte mir, wie man Fische ausnimmt. Als der Abend einbrach, saßen wir am Feuer und hielten an langen Stöcken unseren Fang in die züngelnden Flammen. Die Sonne ging unter und nahm alle Farben mit sich. Nur das Feuer glühte noch rot und ließ flackernde Schatten über die Felsen huschen. Wir aßen voller Genus den heißen Fisch und redeten bis tief in die Nacht. Er erzählte mir von seiner Frau und seinen Kindern, vom Jagen und Fischen, Überfluss und Hunger, von guten und schlechten Zeiten, Glück und Trauer, von Zeiten der Anerkennung und der Einsamkeit, untermalt vom Prasseln des Feuers und aufsteigenden Funken aus der Glut. Wie viele Dinge er in seinem Leben erlebt hatte, dachte ich mir. Manche seiner Ereignisse waren so komisch, dass ich vom vielen Lachen schon Bauchschmerzen bekommen hatte. Er gestand mir seine eigene Unvollkommenheit und war für mich damit so himmlisch menschlich. Wie hilflos er manchmal war, wenn er schwere Zeiten durchstand. Und wie wundervoll und spannend manche seiner vielen Entdeckungen über die Zusammenhänge des Lebens waren. Dann kehrte Müdigkeit ein. Die Flammen verloren an Kraft und wir rückten näher ans Feuer zusammen, um uns liegend, trotz kleiner werdenden Gezüngels, wenigstens an der ausstrahlenden Wärme der roten Glut, gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Genüsslich gesättigt, angenehm gewärmt und nicht allein, war dies eine besonders beruhigende und schöne Nacht für mich.

„Ja“, sagte ich mir, „dies war eine schöne Erfahrung:
Durch meinen Tatendrang und meiner Neugierde, Offenheit und Vertrauen, wurde meine Neugierde befriedigt und mir Offenheit und Vertrauen geschenkt.
Durch Offenheit und gegenseitigem Vertrauen, legte sich eine Sicherheit der Zweisamkeit, über die Unsicherheit meiner Einsamkeit.“

Glücklich, über die Belohnung des erfolgreichen Sieges über meine Trägheit, glücklich, ein Geschenk einer neu gefundener Sicherheit in der Zweisamkeit empfangen zu haben und, durch das Erkennen meiner Macht, sogar unerwartete Chancen finden zu können, mutiger, bin ich nun wieder zuversichtlicher in meiner Hoffnung.“

Ich drehte mich auf den Rücken, betrachtete den silbernen Mond, wie er still über uns wachte und schlief zufrieden ein.

Die Weiterreise
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren der Fischer und jegliche Spur von ihm, verschwunden. Die Welt war in diesen frühen Morgenstunden noch grau. Ein dünner Rauchfaden schlängelte sich zwischen der grauen Asche aus der verliebenden Glut in den Himmel. Vor mir spielten kleine Wellen ihr Spiel, mit den Rändern der Felsen. Der Wasserfall rauschte in befremdlicher Eintönigkeit. Eine Zeitlang hoffte ich noch, er käme zurück, aber ich wartete vergeblich. Die einzigen Stimmen, die ich manchmal unter dem Rauschen des Wasserfalles zu hören glaubte, entsprangen nur meiner Phantasie. Und so saß ich alleine, einsam und still, auf einem kleinen Felsen, in Mitten der weiten unbekannten Landschaft. Ich wartete an einem verlassenen Ort und mir wurde allmählich bewusst, dass ich wieder alleine war.

Eine kühle Brise frischte unter der grauen Wolkendecke auf und ich bekam Gänsehaut.
Nach einiger Zeit raffte ich mich dann schließlich schwermütig auf, sprang fröstelnd in das kalte Wasser und kraulte durch die grünen Luftblasen, unter den langsam schwingenden Wogen der langen großen Wellen, zurück zu jener Bucht, wo ich meinen kleinen Rucksack und meine Kleider zurück gelassen hatte. Ich erreichte nass und unterkühlt den Strand und sah meinen Rucksack neben meinen verstreuten Kleidern im Sand liegen. Erst jetzt viel mir auf, wie lieblos ich meine Sachen zurückgelassen hatte. Ich zog sie aus dem Sand und kleidete mich im kühlen Wind an. Der Himmel blieb von dünnen, grauen Wolken bedeckt und überließ die schläfrige Sonne ihrer Träume. Als ob ich Angst hätte jemanden wecken zu können, setzte ich mir leise meinen Rucksack auf, zog meinen Kragen hoch und machte mich dann still auf den Weg in Richtung des Waldes, hinter dessen Baumstämme mir der Wind nicht folgen würde und ein Blätterdach mein Schutz vor Regen war. Und so verließ ich schließlich den Hang, am höchsten Punkt der Bucht, entfloh meiner Fernsicht über die hellegraue Weite und tauchte in das dunkelgrüne Dickicht des Waldes ein, an dessen Dunkelheit sich meine Augen erst noch gewöhnen mussten.

Langsam kroch ich durch das Unterholz und ließ den See immer weiter hinter mir. Ich drehte mich nicht um. Bald erreichte ich wieder den Weg an der Stelle, an der ich ihn verließ und warf an der Wegesgabelung einen kurzen Blick in Richtung des noch immer dunklen Blättertunnels, aus der, vor noch gar nicht langer Zeit, die Pestkranken herauskamen. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich die Glöckchen hörte und dunkle Schatten aus dem schwarzen Loch zu mir ins Licht traten. Doch das Loch wartete still und ereignislos und drohte nur mit meinen Erinnerungen. Es war, als ob es auf eine kurze Unaufmerksamkeit von mir warten würde, um mich dann plötzlich wieder mit einem schrecklichen Ereignis überraschend überrumpeln zu können.
Ich entschloss dem größeren, helleren Hauptweg zu folgen und marschierte los. Immer dichter werdender Nebel legte sich über meinen Weg. Ich hörte kein Vogelgezwitscher. Außer meinen eigenen Schritten, meinem Atmen und dem typischen Knartschen der Lederriemen meines kleinen Rucksacks, hörte ich nichts. Zwischen den Baumwipfeln drang ein dunkles gleichmäßiges Licht aus dem grauen Himmel über mir und erreichte nur schwach den Boden zu meinen Füßen.

Der Bettler
Ich bewegte mich tiefer in den Nebel hinein und erahnte langsam eine Gestallt, die rechts am Wegesrand sitzend, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt war. Dieser Mensch saß dort ganz alleine. Sein Körper war in lange dunkle Tücher gehüllt und sein Gesicht unter einer Kapuze versteckt. Als ich mich ihm näherte, hob er seinen rechten Arm und streckte mir seine nach oben geöffnete Hand wie eine Schale entgegen. Seine Kapuze war so weit nach vorne gezogen, dass es mir unmöglich war, im Schatten seiner Kopfverschleierung, sein Gesicht zu erkennen. Unnachgiebig hielt er mir seinen Arm entgegen, ohne etwas zu sagen.
Ich wusste, dass er mich um eine Spende bat, doch ich wusste nicht, was ich ihm hätte geben können. Wenn ich ihm meinen letzten Apfel geschenkt hätte, wäre er um diesen Apfel reicher als ich und ich um diesen Apfel ärmer als er geworden. Hätte ich mit ihm meinen Platz tauschen sollen? War mein kleiner Apfel nicht die einzige Sicherheit für diesen Tag, die ich noch hatte? Ich wendete mich von ihm ab und ließ ihn, an seinen Baum sitzend, im Nebel alleine. Ich schämte mich. Die Last meines Rucksackes erschien mir schwerer zu werden, meine Schritte wurden schleppender und mir wurde leicht schwindelig.

Unbekannte Früchte
Bald erschien auf der linken Seite meines Weges ein kleiner Gemüsestand. Hinter einem niedrigen Holztisch saß eine Frau und schaute mich auffordernd an. Vor ihr lagen, in kleinen Flechtkörben sortiert, Auberginen zum Verkauf bereit. Noch nie hatte ich Auberginen gesehen. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen. Und so schlurfte ich schweren Schrittes weiter meines Weges und ließ auch sie zurück.

Dann kam ich an einen zweiten kleinen Gemüsestand, ebenfalls zur Linken meines Weges. Auch hier saß jemand hinter einem kleinen Holztisch. Vor ihm stapelten sich in flachen Holzkisten, leuchtend rote und fast runde Tomaten. Wie schön sie waren. Gerne hätte ich sie probiert, aber ich hatte nichts zum Bezahlen.

„Welch Vielfalt es doch gibt“, dachte ich mir und ging einerseits erfreut über die schöne Erfahrung über die Vielfalt, doch anderseits traurig über meinen Ausschluss an der Teilnahme dieses Lebensspiels, langsam weiter.

„Hey,“ rief mich jemand von hinten, „fang auf!“

Ich drehte mich um. Der Mann hinter dem Tomatenstand war aufgestanden und warf mir augenblicklich eine seiner Tomaten zu. Ich fing sie auf und hielt diese kostbare rote Murmel in meinen Händen. Ich lächelte ihm zu und versuchte, so deutlich es ging, ihm meine Freude über sein Geschenk, dankend, mit einer Armbewegung, zu zeigen. Ich biss erwartungsvoll in das rote Fleisch der Tomate und versuchte, so intensiv wie möglich, alle Geschmacksreize wahrzunehmen, um den herrlichen Saft in seiner Vollkommenheit zu kosten.


Gnadenlos
Schließlich ging ich weiter. Aber es fiel mir immer schwerer. Bald war mir so schwindelig und ich fühlte mich so schwach, dass ich mich an einen Baum setzen musste, um zu pausieren. Mir wurde abwechselnd warm und kalt. Meine Füße schienen nach oben schweben zu wollen.

„Was ist nur los mit mir?“, fragte ich mich. „Bin ich etwa krank geworden?“

Wie vom Blitz getroffen, durchfuhr mich eine schreckliche Ahnung:

„Hatte ich mich bei den Aussätzigen angesteckt? Hatte ich die Pest?“

Ich versuchte meinen Körper nach irgendwelchen ungewöhnlichen Merkmalen zu untersuchen, aber meine Sinne waren inzwischen zu sehr getrübt, um mir einen klaren Eindruck über mich verschaffen zu können und meine, bei jeder Bewegung schmerzenden Glieder, ließen mich bald meine Selbstanalyseversuche aufgeben.

„Du musst weitergehen!“, ermahnte ich mich und zog mich am Baumstamm hoch.

Ich fühlte mich elendig. Langsam schlurfte ich weiter und hustete immer wieder irgend etwas Schleimiges aus. Alles begann sich um mich zu drehen. Ich verlor mein Gleichgewicht und viel der Länge nach auf den Boden in den Matsch. Erneut kroch ich zum nächsten Baumstamm und versuchte mich auf einen Punkt, in der sich um mich drehenden Welt, zu konzentrieren. Wieder saß ich, mit meinem Rücken gegen einen Baum gelehnt, am Wegesrand.

„Du musst etwas essen“, sagte ich mir.

Ich griff in meinen Rucksack und holte meinen letzten Apfel heraus. Es fiel mir schwer, das scheinbar hohe Gewicht des Apfels zu heben. Ich setzte ihn an meinen Mund an, doch es fehlte mir die Kraft, in ihn hineinbeißen zu können. Dann fiel er mir aus der Hand und rollte davon. Mir wurde bitter kalt. Ich versuchte, so gut es ging, mich in meinem Hemd zu verstecken und kauerte mich zusammen.
Plötzlich kam eine kleine Gruppe von drei fröhlichen Menschen an mir vorbei. Sie schienen gut gekleidet zu sein und wurden durch meinen Anblick in ihrem lauten Lachen kurz unterbrochen. Ich streckte meinen rechten Arm und hielt ihnen meine nach oben geöffnete Hand, fast wie eine Schale, entgegen, auf dass sie meine Hand ergreifen würden, um mir zu helfen. Ich versuchte sie anzusprechen, doch mein Hals war so zugeschnürt, dass ich es nicht vermochte, auch nur einen Ton herauszubringen. Einen kurzen Moment lang sahen sie mich überrascht an. Dann begann einer von ihnen die Stille durch einen Spruch zu unterbrechen und regte die anderen hierdurch zum Lachen an. Sie gingen fort und verließen meine Welt ebenso laut, wie sie gekommen waren.
Ich ließ meinen Arm fallen.
Ruhig hörte ich der Stille zu und lauschte meinem schweren Atem. Ab und zu verlangsamte sich die Drehung meiner Welt und kam zum Stillstand. Mein Arm lag erschlafft neben meinen Beinen auf dem feuchten, kalten Boden. Meine Kleidung war dreckig und bedeckt von Matsch. Ich schaute auf meine noch immer geöffnete, zitternde Hand.

„Natürlich!“, leuchtete es mir ein, „ich musste für sie nicht anders ausgesehen haben, als der Bettler, den ich vorhin am Wegesrand seinem Schicksal überließ.“

Und mir wurde plötzlich bitterlich bewusst, dass ich wohlmöglich keinen Bettler, sondern einen um Hilfe bittenden Kranken zurückgelassen hatte. Was ich möglicherweise ihm angetan hatte, passierte nun mir. Nun ging es mir richtig dreckig.

Bald kam ein Wandersmann des Weges. Auch er hielt bei meinem Anblick für kurze Zeit inne. Ich ließ mich nach vorne fallen und versuchte ihm entgegen zu kriechen, blieb aber kraftlos liegen. Der Wandersmann wich zurück und wechselte schnell die Wegesseite. Dann ging auch er fort und ließ mich zurück.

„Soll dies nun das Ende meines Lebens sein?“, fragte ich mich. „So weit bin ich gekommen und nun, noch kurz bevor ich meine vier Wochen des Lebens erreicht habe, bin ich gezwungen zu verlieren. Hatte der alte Mann in Eden doch recht und Gewinnen ist letztendlich unmöglich?“

„Dort erwartet dich nur Schmerz und Kummer und Durst und Hunger. Tränen begleiten deinen Weg. Und wenn du Hilfe suchst, wirst du Pein finden. Und ich sage dir und höre mir gut zu, du wirst es keine drei Tage dort aushalten und auf allen Vieren kommst Du zurückgekrochen, am Ende deiner Kraft, gebrochen dein Herz, müde der Hoffnung. Ich rate dir, mein junger Freund, bleibe hier und halte fest, was du hast. Du würdest dir selbst begegnen und glaube mir, es würde dir nicht gefallen“, erinnerte ich mich an seine Worte.

„Nein“, sagte ich mir, „diese letzte Erfahrung meines Lebens, war keine Schöne:
Durch meine Unfähigkeit mir selbst helfen zu können, erkannte ich meine Ohnmacht.
Ich fand nichts, was mir Sicherheit gab. Weder eine Sicherheit für mein Leben, noch eine Sicherheit in meinen Entscheidungen.
Was nützten mir die kurzfristigen Erfolge, die mir keine zukünftigen Chancen boten? Wo hatte ich Gnade gezeigt und wo blieb die der anderen, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade, letztendlich, in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen würden?
Ich fürchtete in meiner Vergangenheit zu Recht eine Bedrohung, vor der ich keine Sicherheit gefunden hatte und erlag nun meiner vorauszusehenden Aussichtslosigkeit.
Traurig, über mein erfolgloses Leben, ins Selbstmitleid verfallen und, durch das Erkennen meiner Ohnmacht, stagniert, bin ich nun ohne jede Hoffnung.“

Meine Sinne schwanden und langsam begannen sich die Konturen meiner Umgebung aufzulösen. Die Nebel begannen sich um mich zu drehen. Schatten wurden zur Dunkelheit und ich stürzte in einen Strudel der Schwärze, durch einen Tunnel zum Licht.

Das Dorf
Es war hell, weiß, frühlingshaft warm und fast ganz still.
Ich senkte meinen Blick aus der Helligkeit des mich blendenden Lichts und beobachtete, wie mich schattige Konturen in das Bild der Wirklichkeit, in Mitten eines kleinen dunklen Raumes, eintauchen ließen. Ruhig und entspannt lag ich barfuss und so leicht bekleidet in einem Bett, dass ich mein weiches Gewand, auf meiner Haut, kaum fühlen konnte. Ich empfand die weiße Bettdecke, über meinem sauberen Körper, als angenehm wärmend. Langsam erkannte ich vor mir ein kleines Flügelfenster, an dessen Seiten weiße Vorhänge bis zum Boden reichten. Links davon befand sich eine kleine Tür.
Die morgendliche Sonne floss sanft durch das kleine Fenster und erfüllte den Raum mit Licht und Wärme. Das kleine Fenster war leicht geöffnet und mit dem Vögelgezwitscher von der dahinter liegenden Veranda, wehte eine lauwarme Brise herein und ließ die weißen Vorhänge leise und sanft nach außen schwingen.
Eine Frau in einem langen weißen Gewand beugte sich über mich und tupfte, mit einem kühlen, nassen Tuch, meine Stirn ab.

„Bin ich wieder im Garten Eden?“, fragte ich sie leise.

Sie setzte sich rechts von mir auf einen kleinen Hocker.
„Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht“, antwortete sie mit lieblicher Stimme und schenkte mir ein gütiges Lächeln.

„Wo bin ich dann? Wie komme ich hierher?“, stutzte ich.

„Ein Mann aus unserem Dorf hat euch unweit unseres Hauses auf dem Boden liegend gefunden. Ihr ward sehr krank und hattet Fieber. Vielleicht eine Infektion. Der Rat der drei Weisen entschied sich, euch vorübergehend bei uns aufzunehmen und gab mir die Ehre, die Verantwortung übernehmen zu dürfen, euch gesund zu pflegen.“

Sie griff zum Nachttisch neben dem Bett und reichte mir eine kleine Schale mit köstlich duftender Suppe. Ein großer Silberlöffel lag darin zum zugreifen bereit.

„Diese Kartoffelsuppe wird euch wieder Kraft geben“, untermauerte sie ihre Handlung. „Esst, aber seid vorsichtig, sie ist heiß!“

Sie unterstützte mich leicht mit ihrem freien linken Arm unter meinem Nacken. Ich setzte mich aufrecht hin und blickte in die klare Brühe der Schale. Mir fielen darin die kleinen gelben Stückchen auf.

„Kartoffeln?“, fragte ich sie und zeigte ihr ungehemmt meine Unwissenheit.

„Kartoffeln! – von unseren Feldern!“, antwortete sie etwas verwundert über meine Frage.

Kleinlaut äußerte ich die nächste Frage: „Felder?“

Sie schaute mich einfach nur an. Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, ob ich die Frage ernst meinte.
Ich nahm den Löffel in die Hand und schlürfte vorsichtig die heiße Suppe. Noch nie hatte ich etwas so köstliches gegessen. In meinen Gedanken wiederholte ich ihre Erklärung und bemühte meine Phantasie, mir irgendein Bild von ihrer Erklärung zu machen: „Kartoffeln! - von unseren Feldern! Soso.“

Ich merkte, wie sich mein Hunger langsam legte.

„Wieso hatte mich dieser Mann gerettet?“, schmatzte ich, bevor ich meine Suppe im Mund ausreichend heruntergeschluckt hatte. „Alle anderen gingen an mir vorbei.“

„Ja, es ist verständlich, dass ihr euch dieses fragt“, antwortete sie. „Der Mann, der euch fand, ist sich selbst und der Gemeinschaft natürlich wichtiger als ihr. Er war jedoch der Meinung, dass ihr dringender Hilfe brauchtet, als er selbst. Zu helfen, ist bei uns etwas Ehrenvolles. Er wusste, sich um euch zu bemühen, würde ihm zu mehr Ehre in der Gemeinschaft verhelfen.“

„Ist Ehre denn so wichtig?“, hakte ich nach.

Sie versuchte es mir zu erklären: „Um so ehrenvoller jemand ist, desto wichtiger ist er für die Gemeinschaft und um so wichtiger jemand in der Gemeinschaft ist, desto mehr Hilfe kann er aus dieser erwarten, denn die drei Weisen beschließen für die Gemeinschaft vorrangig zuerst das zu tun, was am wichtigsten ist. So wird auch von der Gemeinschaft erst dem geholfen, der am wichtigsten ist. Wichtiger als das wichtigste ist nur, was dringender ist, solange das ansonsten wichtigste nicht durch seine zurückgesetzte Priorität gefährdet ist.“

Sie schaute mich prüfend an und versuchte aus meinen Augen abzulesen, ob ich sie richtig verstanden hätte. Dann suchte sie nach einfacheren Worten:

„Die Gemeinschaft konnte es sich eben leisten, sich um euren dringen Fall zu kümmern, ohne wichtiges für uns zu gefährden. Da ich zur Zeit von allen am wenigsten Hilfe benötige, wurde mir die Ehre erteilt, euch pflegen zu dürfen. So verdanke ich euch meinen Zuwachs an Ehre. Die Hilfe der Gemeinschaft wird mir gewisser.“

„Wer ist denn der wichtigste?“, frage ich sie nach einer längeren Denkpause.

„Der Einzelne ist sich selbst wichtiger als ein Anderer, denn der Einzelne kann dem anderen nicht helfen, wenn er selbst mehr Hilfe braucht, als dieser. Wichtiger als man selbst, ist für den Einzelnen jedoch die Gemeinschaft. Jeder Einzelne würde sich für die Gemeinschaft opfern, wenn dieses Opfer der Gemeinschaft helfen würde.
Aus Sicht der Gemeinschaft, ist es genau umgekehrt. Das wichtigste für die Gemeinschaft ist, der Einzelne. Die Gemeinschaft würde sich für den einzelnen opfern, wenn dieses Opfer dem Einzelnen hilft. So ist für die Gemeinschaft die Minderheit wichtiger, als die Mehrheit und der Einzelne wichtiger als die Minderheit, denn jede noch so große Gemeinschaft ist nur das Ergebnis der Verhaltenweisen aller Einzelner. Wir glauben, eine Gemeinschaft muss sich an seinem Umgang mit seiner Minderheit messen lassen“, erklärte sie.

„Und wer sind die drei Weisen?“, hakte ich weiter nach.

„Die drei Weisen sind die Einzelnen, die in der Gemeinschaft die höchste Ehre erreichten und die Anlaufstelle aller Informationen sind. Sie können daher am besten übersehen, wer und was das wichtigste für die Gemeinschaft ist, was entsprechend vorrangig getan werden sollte, welches das wichtigste Ziel ist und nicht gefährdet werden darf, wem vorrangig geholfen werden sollte und wer gerade am besten seine Hilfe zur Verfügung stellen könnte. Letztendlich stimmen wir dann ab. Da die Weisen durch ihr Amt nicht mehr selbst helfen können, behalten sie ihr Amt nicht auf Dauer, sondern geben früher oder später ihr Amt jeweils an einen nächsten ab, der mehr Ehre erlangt hat, als sie selbst. Sie sind nicht völlig frei in ihren Entscheidungen, denn auch sie haben sich an Leitlinien zu halten, wie jeder andere. Leitlinien entstehen durch die Gemeinschaft und durch sie werden sie auch verändert.“

„Leitlinien? Ihr meint die Regeln des Dorfes, nach denen ihr lebt?“

„Es gibt keine Regeln mehr, denn Regeln neigen dazu, irgendwann nur noch ihrer selbst zu existieren, ohne einen Sinn für das Leben zu haben. Wenn eine grundsätzliche Regel, gedacht für das Wohl der Gemeinschaft, sich in den meisten Einzelfällen als sinnlos herausstellt, wird die Regel automatisch wieder gestrichen. Die Bedeutung von Einzelfällen wird höher erachtet, als Grundsätzlichkeiten. Damit es überhaupt möglich ist, herauszufinden, ob Regeln sinnvoll sind, darf man sie jederzeit brechen. So darf jeder ungestraft eine Regel brechen, wenn er in einem Einzelfall eine Regel für sinnlos hält. Allerdings trägt man dann auch die Verantwortung dafür, falls man, durch einen Bruch einer grundsätzlichen Regel, der Gemeinschaft oder einem anderen, einen Schaden zugefügt hat, der, bei Beachtung der Regel, nicht eingetreten wäre. Auch in guter Absicht kann man sich demnach der Fehleinschätzung strafbar machen. Es ist also wichtig, alle Regeln mit Bedacht zu verwenden. Regeln wurden somit zu Leitlinien, denn neue Erfahrungen und jeweilige Lebenssituationen verändern sie und es gibt keinen Zwang ihrer Befolgung.
Leitlinien sind nun unser roter Faden. Sie geben uns Hilfe für Entscheidungen zum Wohle aller. Schließlich kommt es nicht auf die Einhaltung einer Regel an, sondern auf die dahinterliegende Absicht jeder Regelidee. Es ist eben nicht möglich, eine Verhaltensregel für einen Grundgedanken so zu formulieren, dass diese, in allen möglichen Lebenssituationen auch sinnvoll ist. Manchmal dient es einem Grundgedanken nicht, sich an eine Regel zu halten. Manchmal würde ein Halten an Regeln dem Grundgedanke sogar widersprechen. Sich an eine Regel zu halten kann zuweilen mehr Schaden anrichten, als eine Regel zu brechen. Wichtig ist der dahinterliegende Grundgedanke, also die Absicht hinter einer Regel. Regeln zwingen einen häufig zu unsinnigem Handeln, Leitlinien helfen uns zu überlegtem, verantwortungsbewusstem und sinnvollem Handeln.“

„Ist es dann nicht für den Einzelnen möglich, die Gemeinschaft für seinen eigenen Vorteil auszunutzen?“, äußerte ich kritisch.

„Falls jemand in böser Absicht, zu seinem Vorteil, einem anderen Einzelnen oder der Gemeinschaft, Schaden zufügt, riskiert er entehrt zu werden.“

Ich löffelte meine Suppe aus und leerte die Schale bis zum letzten Tropfen. Die Suppe war wirklich sehr lecker gewesen. Schließlich stellte ich die Schale auf den Nachttisch neben mich.

„Sag mir bitte, gibt es in eurer Gemeinschaft, wo die Gemeinschaft für den einzelnen das wichtigste sein soll, überhaupt noch einen Spielraum für Individualismus?“, provozierte ich sie absichtlich.

Ich wollte verstehen, wo sich ihre Lebensweise von anderen abgrenzt und welche Nachteile es aus diesen Vorteilen zu tolerieren gilt. Denn nur, wenn ich die Grenzen zu alternativen „Puzzleteilen“ zu sehen vermag, wenn ich die Silhouetten im Gefüge der Ganzheit erkenne, kann ich das Einzelne durch Differenzierung zum anderen vergleichen und verstehen. Nur so bin ich in der Lage etwas für mich zu beurteilen und gegebenenfalls eine Entscheidung zu treffen. Alles wird eben durch seine Grenze zum anderen definiert. So kritisierte ich absichtlich provokativ ihre Lebensweise und wartete auf eine erklärende Rechtfertigung, die mir hilft zu verstehen. Gemeinschaft und Individualismus ist doch ein Widerspruch in sich selbst, nicht war? Die „Nuss“ muss sie erst einmal knacken. Wie würde sie mit diesem Widerspruch umgehen? Ich wartete gespannt auf die Reaktion meiner Kritik.

Sie grinste mich an. Offenbar hatte sie mich durchschaut und mit dieser typischen Kritik gerechnet. Es gefiel mir, dass sie grinste, zeigte es mir doch, dass sie sich über viele Dinge Gedanken gemacht hatte und ich warte gespannt auf ihre Lösung dieses Konfliktes.

„Für uns ist Vielfalt wichtiger als Gleichheit“, antwortete sie verblüffend einfach. „Wir gehen davon aus, das jeder Mensch und jedes Wesen, über besondere einmalige Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, die mindestens einer, früher oder später, benötigt. Niemand ist nutzlos und niemand auf Dauer unabhängig von anderen. So ist die Natur. Das ist das Prinzip der Symbiose. Wir Menschen können uns darüber weitsichtige Gedanken machen. Sie funktioniert um so besser, desto vielfältiger das Ganze durch seine Einzelteile ist.
Stellt euch vor, ihr hättet ein Puzzle in einer festgelegten Größe. Wenn dieses Puzzle nur zehn Teile hätte und ihr würdet ein Teil herausnehmen, so gäbe es ein sehr großes Loch. Bestände das Puzzle jedoch aus Tausend Teilen, würde die Herausnahme eines Teiles nur ein sehr kleines Loch zur Folge haben. Da es niemanden gibt, der alles kann und auch niemand so sein kann, wie ein anderer, ist es also sinnvoll und am besten, möglichst unterschiedliche Personen zu haben.

Niemand weiß, was kommt und was man brauchen wird. Nicht selten gibt oder bekommt man etwas, ohne das es einem bewusst wird. Oft kann man erst nicht erkennen, wofür etwas gut ist. Keiner kann letztendlich mit Sicherheit sagen, weshalb sich das eine oder andere gerade in eine bestimmte Richtung entwickelt. Zu komplex sind die sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhänge der Kleinigkeiten, die in ihrem Zusammenspiel manchmal so große Wirkungen haben. Sicher kann man nur sagen, dass alles, früher oder später, eine Rolle spielen wird. Also kommt man zum Schluss, um so individueller der Einzelne in einer Gemeinschaft ist, desto besser.
So ist es im Interesse der Gemeinschaft, jedem Einzelnen bei der Suche zu helfen, sich selbst, seine Stärken und Schwächen, eben seine ganz eigenen Begabungen und Schwierigkeiten, zu finden. In dieser Zeit braucht der Einzelne natürlich Zeit für sich und manchmal die Hilfe der anderen. Früher oder später wird dieser jedoch seine Begabungen gefunden und entwickelt haben. Eines Tages wird er vielleicht sogar der einzige sein, der ausschließlich mit seinen Eigenschaften jemand anderem helfen kann.“

„Moment mal, manchmal muss es doch besonders dringende Fälle geben! Da kann sich der Individualist doch nicht einfach der Gemeinschaft entziehen!“, warf ich ein.

Sie nickte mit dem Kopf: „Der lernende Individualist, wie jedes Kind, ist vielleicht mehr auf Hilfe angewiesen, als er zu Helfen vermag, daher wird er meistens auch als letztes behelligt, die Ehre zu erhalten, anderen zu helfen. In dringenden Fällen erhält er jedoch die Chance, im Rahmen seiner Möglichkeiten, durch sein Helfen, mehr Ehre zu erlangen, um sich somit für die Zukunft der Hilfe anderer wertvoller zu erweisen. Möglicherweise geht es ja sogar um den existentiellen Erhalt der Gemeinschaft, von der er profitiert. Es ist zwar klug, sich zurück zu ziehen, um sich auf sich selbst zu besinnen und zu finden, aber es wäre dumm, tatenlos zu bleiben und andere in Ihrer Not alleine zu lassen, um den Verfall und das Ende desjenigen oder derjenigen zu sehen, dessen Hilfe man später direkt oder indirekt benötigt. Schließlich solltet ihr nie vergessen: Selbst, wenn ihr glaubt, für euch wäre jemand überflüssig, ein anderer braucht ihn vielleicht, um euch eines Tages helfen zu können. Oder wollt ihr vielleicht behaupten, ihr wüsstest immer, wer euch eines Tages helfen wird und wen dieser für sein Leben benötigte? Wer kann schon für sich selbst sagen, welcher Hilfe er eines Tages bedarf?
Was würde euch ein kurzfristiger Erfolg nützen, wenn ihr euch letztendlich, durch diesen Erfolg, eurer zukünftigen Chancen beraubtet? Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen sollen, ist Gnade wichtiger als Vorrecht.“

Ich erschrak, denn diese letzte Aussage kam mir sehr bekannt vor.
So zögerte ich einen Moment, doch eine letzte Frage musste ich noch stellen:

„Welche Hilfe bietet denn schon ein Musiker, Schauspieler oder Künstler? Nicht jeder findet seine Begabung als Arzt, kann andere gesund pflegen, ist vielleicht in der Lage, so eine leckere Suppe für jemanden zu kochen, ist ein guter Verkäufer oder kann so ein prachtvolles Bett bauen, wie dieses, in dem ich liege. Ist man nicht mit einer falschen Begabung dazu verdammt, ehrenlos zu bleiben?“

„Aber nein!“, warf sie ein. „Was glaubst ihr, von wem sich der Tischler die Inspirationen für die wunderschönen Drechselarbeiten an diesem Bett geholt hat? Er hat sicherlich so manches Bild und viele unserer Staturen der Künstler bewundert und trillerte während seiner Arbeit fröhlich ein Lied von unseren Musikern. Die Theaterspieler und Philosophen regen uns zum nachdenken an und verhelfen uns zu besseren Entscheidungen. Ohne Freude und Inspiration kann niemand schöpferisch sein oder hätte die Kraft, anderen zu nutzen. Kunst ist nicht weniger wichtig als Wirtschaft, im Gegenteil, denn ohne Gedanken, Produktion und Dienstleistung, gäbe es nicht den Indikator Tausch. Alles ist letztendlich notwendig, wie verrückt es anfangs auch erscheinen mag. Das ist eben das Gesetzt der Symbiose, die es ohne die Vielfalt nicht gäbe.
Was würde euch ein schneller Erfolg beim Bau eines Hauses nützen, wenn ihr hierfür auf ein solides Fundament verzichtet hättet?
Was nützt euch der Gewinn einer Schlacht, wenn ihr den Krieg verliert?
Man muss das Kalb eben erst groß ziehen, bevor man es melken kann.
Vergesst nicht, Erfolg liegt in der Weitsicht und Geduld, denn kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn ihr euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt, - für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen können.“

Sie schaute mich immer noch freundlich an, lächelte und wirkte ehrlich glücklich.
Dann nahm sie meinen Teller vom Nachtschrank und verließ den Raum durch eine kleine, mit Schnitzereien geschmückte, Holztür und ging in einen anderen mir unbekannten Raum.
Eine Zeitlang starrte ich noch auf diese Tür, dann ließ ich meine Blicke im Raum umherschweifen, bis ich meine Aufmerksamkeit auf mich selbst lenkte. Ich analysierte mit einigen Bewegungen meinen Körper und kam schließlich zu dem Entschluss, dass es mir gesundheitlich eigentlich wieder recht gut ging. Plötzlich sprang die verzierte Tür auf, meine Pflegerin kam heraus und huschte, mir ein kurzes Lächeln zuwerfend, aus der Eingangstür neben dem Fenster ins Freie hinaus. Nun ja, ein wenig gehetzt sah sie aus. Sie hatte die Tür hinter sich nicht richtig verschlossen und so öffnete sie sich wieder und ich erblickte gegen das blendende Licht die dahinterliegende Holzveranda, deren geschwungenes Geländer eine Linie vor dem Hintergrund des grünen Waldes bildete. Der Himmel darüber war strahlend blau und die morgendliche Sonne schien mir plötzlich alle schweren Gedanken zu vertreiben.
Wie friedlich es hier war.

„Die Sonne begrüßt dich und die Türe macht für dich den Weg nach draußen frei. So folge der Einladung in die Freiheit, in den jungfräulichen Morgen der Hoffnung und des Glücks der Überraschung.“

Und so stand ich auf. Ich entdeckte neben meinem Bett frische Kleidung, die mir die Frau neben dem Bett bereit gelegt hatte. Als ich sie anzog, entdeckte ich einen kleinen Spiegel hinter dem Bett. Ich ging auf ihn zu, betrachtete mein Spiegelbild und musste erst einmal lachen. Ich sah aus, wie ein eingelaufener Cowboy in zu großen Kleidern. Ansonsten aber sehr schick. Einzig der braune Wildlederhut passte wie angegossen. Noch etwas wackelig auf den Beinen, ging ich zur geöffneten Tür.

Noch kurz bevor ich die Veranda betrat, blicke ich nach links auf ein Schriftstück, das neben der Tür angeschlagen war. Eigentlich waren es drei Schriftstücke, doch sie schienen, wenn auch in etwas unterschiedlicher Interpretation, selbiges zu zitieren und auf das gleiche Wesentliche hinzuweisen:


„Ich bin jetzt auf dem Weg zu dir. Ich bleibe nicht länger in der Welt, aber sie bleiben in der Welt. Heiliger Vater, bewahre sie in deiner göttlichen Gegenwart, die ich ihnen vermitteln durfte, damit sie eins sind, so wie du und ich eins sind.
Solange ich bei ihnen war, habe ich sie in deiner göttlichen Gegenwart beschützt und bewahrt. Keiner von ihnen ist verloren gegangen, nur der eine, der verloren gehen musste, damit die Voraussage der Heiligen Schriften in Erfüllung ging.
Und jetzt bin ich auf dem Weg zu dir. Ich sage dies alles, solange ich noch bei ihnen in der Welt bin, damit meine Freude ihnen in ganzer Fülle zuteil wird.
Ich habe ihnen dein Wort weitergesagt. Deshalb hasst sie die Welt, denn sie gehören nicht zu ihr, ebenso wie ich nicht zu ihr gehöre.
Ich bitte dich nicht, sie aus der Welt wegzunehmen, aber sie vor dem Bösen in Schutz zu nehmen.
Sie gehören nicht zu dieser Welt, so wie ich nicht zu ihr gehöre.
Lass sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und weihe sie dadurch zum Dienst. Dein Wort erschließt diese Wirklichkeit.
Ich sende sie in die Welt, wie du mich in die Welt gesandt hast.
Ich weihe mein Leben für sie zum Opfer, damit sie in deiner göttlichen Wirklichkeit leben und zum Dienst geweiht sind.
Ich bete nicht nur für sie, sondern auch für alle, die durch ihr Wort von mir hören und zum Glauben an mich kommen werden.
Ich bete darum, dass sie alle eins seien, so wie du in mir bist, Vater, und ich in dir. So wie wir sollen auch sie in uns eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die gleiche Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, so wie du und ich.
Ich leben in ihnen und du lebst in mir; so sollen auch sie vollkommen eins sein, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und dass du sie, die zu mir gehören, ebenso liebst wie mich.“



„Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast.
Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkennen, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.“



„Ich bete für sie alle, dass sie eins sind, so wie du und ich eins sind, Vater - damit sie in uns eins sind, so wie du in mir bist und ich in dir bin und die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.
Ich habe ihnen die Herrlichkeit geschenkt, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind –
ich in ihnen und du in mir, damit sie alle zur Einheit vollendet werden. Dann wird die Welt wissen, dass du mich gesandt hast, und wird begreifen, dass du sie liebst, wie du mich liebst.“



Hier wurde ein Mann zitiert, der sich in dieser Welt als einen Fremden betrachtete und von einer Erkenntnis erzählte. Eine Erkenntnis, die aus seiner Sicht jeden betreffen müsste. Eine Erkenntnis über eine tatsächliche Wirklichkeit, in der alles Eins wäre, in der also alles untrennbare Teile einer einzigen Einheit wären. Es wäre ja möglich, dass wir nur zu unvollkommen in unserer Wahrnehmung sind, um diesen Zusammenhang zu erblicken. Wer dieses jedoch sehen konnte, der müsste zum logischen Schluss kommen, das die Einheit seine eigenen Teile eigentlich nur lieben konnte und es entsprechen sinnvoll wäre, wenn sich auch die Teile gegenseitig und diese natürlich die gesamte Einheit, lieben würden, damit die Einheit, die wir ja dann alle zusammen wären, überhaupt sinnvoll und als Ganzes funktionieren kann. Alles andere wäre logischer weise absurd. Und ich schaute auf meinen Körper und vertiefte meine Gedanken. Würden zum Beispiel meine eigenen Zellen gegeneinander und gegen meinen Körper rebellieren, so würde ich krank werden und davon hätten meine Zellen schließlich auch keinen Vorteil, da sie von meinem Körper abhängig sind. Doch warum fehlte uns dann die Wahrnehmung für das Ganze? Warum sahen wir dann nicht, dass alles nur eins ist? Welchen Vorteil gibt es für eine Einheit, durch uns mit einer scheinbaren Vielfalt zu spielen? Wofür existiert die scheinbare Vielfalt? Dient sie, vielleicht wie Bauklötze, dem Akt der Schöpfung? Ist die Komplexität der vielfältigen Bedeutungen zwischen den Teile der Einheit so groß, dass hierin, für Teile wie uns, die Unfähigkeit begründet liegt, die Wahrheit über das Gesamte zu erkennen, was wir gemeinsam bilden? Da ich hier drei Zitate sah, ging ich davon aus, dass diese möglicherweise als Grundlage für eine Diskussion gedacht waren. Mir gefiel, dass sich diese Menschen mit solchen Grundgedanken auseinander setzten, denn wenn unsere Realität tatsächlich auf dieser oder einer ähnlichen Wahrheit beruhen würden, könnte dies einen bedeutenden Einfluss auf eine Überdenkung unserer Handlungsziele zur Folge haben.

Ich drehte mich wieder zur Tür, schob sie weit auf, betrat die große Veranda und atmete, erst vorsichtig und dann ganz tief, die wundervolle frische Morgenluft ein. Auf der Veranda standen ein Holztisch mit Stühlen und ein Schaukelstuhl. Außer mir, war niemand dort.
Ich stützte meine Hände auf das hölzerne Geländer, beugte mich leicht nach vorne und ließ meinen Blick über die Wiese bis hin zum Wald schweifen.

„Dies, ist das Leben“, wusste ich.

Dann vielen mir laute Rufe und Gesänge auf. Irgendwoher kam Musik. Ich beschloss den Klängen nach zu gehen und stieg eine kleine Treppe von der Veranda hinunter in den Garten. Nach einigen Metern verließ ich den kleinen Hausweg und streifte barfuss durch den Morgentau des Grases, bis ich neben dem Haus auf einen großen Marktplatz einsehen konnte. Dieser Platz war umringt von vielen kleinen Fachwerkhäusern mit reetgedeckten Dächern. Ihre Fassaden waren mit bunten Bildern und Schnitzereien geschmückt. In der Mitte des Platzes stand ein hoher grüner Baum nebst einem großen Steinbrunnen. Auf dem Platz standen verschiedene Staturen und wunderschöne bunte Plastiken. Hinter dem Baum spielte eine Kapelle und die meisten Menschen tanzten und lachten. Nur ein Liebespaar schien sich gerade über irgendetwas zu streiten. Einige Kinder tobten um den Baum oder Brunnen herum und spielten fangen oder saßen auf dem Baum und sangen die Lieder der Musiker mit. Andere saßen auf dem Boden und malten oder schrieben etwas in den Sand.

Ich näherte mich den Zeichnungen im Sand. Einige Kinder waren vielleicht erst vier Jahre alt, konnten aber schon schreiben und rechnen. Sie machten es ihren Eltern nach. Es war für sie eine Ehre, anderen helfen zu können und so halfen sich auch schon die kleinen Kinder gegenseitig und brachten sich alles gegenseitig bei. So wuchs bereits die Ehre der Kinder.


An dem Baumstamm hing eine kleine Tafel. Ich ging hin und las, was dort geschrieben stand:


Wichtig ist das Wohl.
Wichtiges hat Vorrang vor Unwichtigem.
Dringenderes hat Vorrang vor Wichtigem, solange das Wichtige nicht gefährdet wird.
Das Wohl der Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen, sowie das Wohl des Einzelnen auch das Wohl der Gemeinschaft ist.
Für den Einzelnen ist das Wohl der Gemeinschaft das wichtigste.
Für die Gemeinschaft ist das Wohl des Einzelnen das wichtigste.
Für die Gemeinschaft ist der Einzelne wichtiger als Minderheiten und Minderheiten wichtiger als die Mehrheit.

Ihr könnt dem anderen nur so weit ein ehrenwerter Helfer sein, wie Ihr Euch selbst Ehrenwert seid. So erlangt Eure Ehre.

Ehre sei dem, der Gnade hat, denn Gnade ist wichtiger als Recht.

Ehre sei dem, der anderen hilft seine einzigartigen Begabungen zu finden, welche sie auch sei, für wen sie auch sei, zum Wohle aller. Denn die Vielfalt ist das Vollkommene Ganze der unvollkommenden Einzigartigkeiten. So suchet nach der einzigartigen Begabungen jedes Einzelnen, derer jeder gebraucht wird.

Suchet und ihr werdet finden,
sähet und es wird wachsen,
habet Geduld und es wird vollendet,
bittet und es wird Euch gegeben,
bedenket der letztendlichen Schöpfungskraft in der Symbiose.

Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Leben.
Vielfalt ist wichtiger als Gleichheit, denn die Symbiose der Vielfalt ist Schöpfung.
Schöpfung ist Leben, wie Leben Schöpfung ist.
Ehre sei dem, der die Vielfalt unterstützt, denn er unterstützt die Schöpfung.
Ehre sei dem, der zum Wohle erschafft, denn er erschafft Leben.
Ehre sei dem, wer von dem gibt, was er erschaffen hat, zum Wohle aller, die da Eins sind, um den Prozess der Schöpfung fortzusetzen, mehr aus uns heraus zu werden, als wir sind, im Sinne Genesis.

Vielseitigkeit ist wichtiger als Einseitigkeit, denn sie schützt die Symbiose bei fehlender Vielfalt.
Ehre sei dem, der die Vielseitigkeit unterstützt, denn er unterstützt die Symbiose.

Kurzfristiger Erfolg ist wertlos, wenn Ihr Euch dadurch eurer zukünftigen Chancen beraubt.
Für eine bessere Welt, in der sich Erfolge und Gnade letztendlich in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.

Wohl dem, der Ehre hat, denn er ist wichtig für alle.



Irgend etwas berührte mich am Bein. Ich drehte mich nach links unten und sah, wie mich ein kleines Mädchen mit sehr großen Augen neugierig ansah:

„Seid ihr der kranke Fremde aus dem Wald?“, grinste sie mich an.

„Ja, der bin ich wohl. Dank der Menschen in diesem Dorf bin ich jedoch glücklicherweise wieder gesund“, erwiderte ich.

„Wo kommt ihr denn her?“, fragte sie weiter und lächelte neugierig.

Ich musste einen kurzen Moment nachdenken: „Aus Eden.“

„Ist das sehr weit weg?“

„Manchmal schon“, gab ich zurück, „Und wo kommt ihr her? Lebt ihr mit euren Eltern in diesem Dorf?“

„Ja natürlich. Schon mein ganzes Leben lang.“

Ich musste grinsen: „Wie alt seid ihr denn?“

„Ich bin fast sieben.“ Stolz sprühte aus ihren Augen.

Ich nutzte die Gelegenheit, um mehr über die Lebensart der Dorfgemeinschaft zu erfahren:

„Sind das Eure Leitlinien?“, fragte ich und zeigte auf die Tafel am Baumstamm.

„Nein, diese sind unsere Absichten. Unsere Leitlinien findet ihr in der Bibliothek oder auch teilweise auf der Hand.“

Sie zeigte hinter mich und ich erkannte auf dem Marktplatz einige Meter von mir entfernt eine hohe Plastik, die wie eine Hand geformt war, vielleicht, um visuell zu unterstützen, was dem Künstler bei den Leitlinien wichtig erschien. Ich ging hin, stellte mich vor sie und betrachtete die vor mir geöffnete, mehrere meterhohe, weiße Hand, deren Finger fast senkrecht in den Himmel ragten. In die Handfläche verewigte er in wunderschöner Schrift so klein, dass es fast wie eine Oberflächenstruktur der Haut wirkte, einen Teil der Leitlinien:



Jeder von Euch ist wie je ein Finger derselben Hand, desselben Armes und des einen Körpers, der alles ist, was war, jetzt ist und immer sein wird. Er ist das einzig wahre Eine, in denen Ihr, in scheinbar getrennten Teilen, gemeinsam das Eine bildet. Dieses Eine, ist Euer Herr, Euer Gott. Ihr sollt nicht andere Götter verehren. Betet sie nicht an. Dienet ihnen nicht und lasset sie nicht gegeneinander antreten, denn es gibt nur den Einen, dessen Teil Ihr seid. So liebet ihn, wie er Euch liebt und liebet Euch selbst, wie Euren Nächsten, auf das Ihr Euch einander begegnet, wie die Finger derselben Hand, die gemeinsam (be)greifen, im Sinne des allwissenden Einen. Schadet nicht Eurem Nächsten, denn Ihr schadet einen Teil des Einen und somit Euch selbst, weil auch Ihr Teil des Einen seid. Wer aber zum Wohle anderer lebt und im Sinne des Einen handelt, der handelt zum Wohle aller, des Einen und seines eigenen Wohls. Ihm soll Wohl widerfahren.

Das Eine ist Euer Herr, der ist, wer er ist und keines Namen bedarf. Missbrauche nicht unnützlich ihn, in seinem Namen, zu Euerm Eigennutz und behaupte nicht seine Absicht zu wissen, denn nur er weiß. So betet für Euer Wohl und um Gnade, solange es nicht zum Schaden eines anderen oder allem führe. Vertraut auf seine Weitsicht, Gerechtigkeit und Gnade, denn sie ist zum Wohl des Einen, was da alles ist und zudem Ihr selbst dazugehört, in Ewigkeit.

Ihr sollt den Feiertag ehren, auf dass Ihr zu Euch selbst findet.

Ihr sollt Eure Eltern ehren und ihnen Gehör schenken, so wie Ihr Eure Kinder in Ehren halten sollt und Gehör schenkt.

Ihr sollt nicht einander töten. Ehrt alles, was für Euch starb, damit Ihr leben konntet.

Ihr sollt nicht Eure Beziehung Verraten oder andere dazu verführen, sondern bewahrt Eure Loyalität und die Eures Nächsten.

Ihr sollt nicht einander bestehlen. Ehrt all die, für das, was Euch gegeben wurde, damit ihr leben konntet.

Ihr sollt nichts Falsches bezeugen, so dies zum Schaden eines Nächsten führt, sondern strebt nach Wahrheit und Klarheit, so es zum Besten ist.

Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Daseins, sein Ansehen, Position oder Leistung. Vergleicht nicht und setzt Euch nicht in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer selbst, um zu werden. Denn Ihr selbst habt Großes in Euch und könnt groß sein, wie kein anderer.

Ihr sollt nicht begehren Eures Nächsten Habens, seine Frau, Mann, Kind, Freund oder alles was sein ist. Vergleicht nicht und setzt nicht das Eurige in Vergleich, sondern besinnt Euch auf Euer Eigenes. Denn Ihr selbst könnt Großes haben, wie kein anderer.

Ihr sollt Böses nicht mit Bösem vergelten, denn Böses gebärt nur wieder böse Kinder.

Ihr sollt Euren Feinden vergeben, wie Euch vergeben wird, denn sie sind Kinder, wie ihr, die nicht wissen was sie tun.

Ihr sollt die Wunder und Herrlichkeit des Lebens mit Respekt und Ehrfurcht behandeln. Zerstört nicht, was Ihr nicht begreift, denn es ist ein bedeutsamer Teil von allem, dessen Bedeutung Ihr nicht erkennt. So behandelt alles im Zweifelsfall mit Liebe, denn Ihr wisst nicht, welchen Sinn es für Euch macht. Zerstörtes, kann Eurem Nächsten und letztlich auch Euch keine Gnade bringen, wenn Ihr Gnade sucht.

Konzentriert Euer Handeln nicht auf einen Kampf gegen das Böse, sondern konzentriert Euer Handeln auf einen Kampf für etwas Gutes.

Denkt an die Kinder. Fahrt Eure Kutschen im Dorf langsam.



„Die letzte Aussage war sicherlich ein besonders, persönliches Interesse des Künstlers“, dachte ich mir und musste schmunzeln.

„Wisst Ihr, warum es immer heißt, Ihr sollt nicht und nicht, Ihr dürft nicht?“, fragte mich das kleine Mädchen von eben, das mir offensichtlich unbemerkt gefolgt war und mich noch immer neugierig beobachtete.

„Ähm, eigentlich nicht. Es ist mir noch gar nicht aufgefallen“, antwortete ich etwas überrascht.“

„Wenn jemand sagt, Ihr sollt etwas nicht tun, so muss es doch jemanden geben, der nicht will, dass Ihr etwas tut, nicht war?“ Ihr Augen waren wirklich groß.

Ich dachte einen Moment nach: „Klingt eigentlich logisch, ja.“

Sie setzte mit ihrer Erklärung fort und hielt dabei irgendwie niedlich ihre kleinen Hände auf ihren Hüften: „Es ist uns also nicht verboten worden, all dieses zu tun, sonder jemand wünscht sich, dass wir dieses nicht tun. Wir müssen nicht, sondern wir sollen, weil jemand es will. Wir sind also nicht gezwungen, sondern haben die freie Entscheidung bekommen. Wenn uns jemand etwas empfiehlt ohne uns zu zwingen und zu drängen, kann es dann böse sein?“

„Eigentlich nicht“, schlussfolgerte ich, „klingt eher fürsorglich.“

„Das denke ich auch.“, sagte sie und hatte scheinbar ihre Selbstbestätigung bekommen.

Dann drehte sie sich unerwartet um und hüpfte, wie ein kleines Pony, in Richtung des Baumes zurück. Ein kleiner Junge stürmte plötzlich hinter dem Baum hervor, schubste sie leicht und rief lachend: „Ihr seid!“ Alle Kinder strebten auseinander und das kleine Mädchen lief auch schon den anderen hinterher, um sie zu fangen.

Ich konnte mir mein breites Grinsen nicht verkneifen, während ich den tobenden Kinder hinterher schaute.

Langsam schlenderte ich vom Geschehen des Marktes weg und bewunderte im Vorbeigehen die vielen mehr oder weniger schönen Plastiken und ausgestellten Bilder. Überall gab es kleine Tafeln, Zettel und kleine Verewigungen; und wenn es auch nur ein kleines Liebesgeständnis war. Viele schien hier ihre Meinung auf unterschiedlichste Weise an die Öffentlichkeit bringen zu wollen und mit ihren eigenen Vorstellung, Stoff für Diskussionen zu liefern. Wer nicht selbst Künstler, Poet oder Philosoph war, bediente sich derer, um seine Ansichten möglichst auffällig und schön ins rechte Licht rücken zu lassen, wie ich später erfuhr. Auf einem Bild erinnerte jemand an die sieben Todsünden, während jemand anderes eine Tafel aufgestellt hatte, um Tugenden zu sammeln. An anderer Stelle stand schlicht weg, dass jemand doof sei. Letztendlich diente dies alles als Basis für die Bildung, Streichung und Veränderung der Leitlinien dieser Gemeinschaft, in der jeder äußerte, was er für das Beste hielt oder überhaupt nicht mochte und insbesondere von den drei Weisen studiert wurde.

„Hey, Fremder!“, rief mich jemand, der mir aus einer kleinen Gasse entgegenkam, „Wir brauchen Eure Hilfe. Würdet Ihr uns die Ehre erweisen?“

Ende Teil 1
Fortsetzung: Der Garten Eden (Teil 2)
 

David

Mitglied
Der Garten Eden
Geschrieben: Jahr 2004
Seiten: 70 DIN A4, ca. 140 Buchseiten
Zwei Teiler.
Zugehörige Bilder und Karten sind nur im Original vorhanden.
Das vollständige Buch (mit Bildern und Karten) ist als PDF-Datei erhältlich.


Vorwort
Große Umbrüche im Leben bringen manchmal seltsame Ereignisse mit sich.
Man sagt ja, so etwas lässt einen wachsen.

Diese Geschichte ist eine Erzählung von einem spirituellen Tagtraum, der mir in einer Lebenskrise widerfuhr.
Er dauerte drei Stunden.

Viele Figuren, Symbole, Bilder und Ereignisse auf dieser Reise, haben häufig mehr, als eine Bedeutung. Traumdeuter werden die Hintergründe einiger Symbole vielleicht erkennen. Manche Dinge bekommen jedoch noch einen weiteren Sinn, wenn man sie untereinander im Zusammenhang betrachtete.
Diese Geschichte beinhaltet also viele Geschichten in einer, mit Aussagen in Symbolen, kleinen Episoden, der gesamten Geschichte selbst und durch Verknüpfungen zu religiösen Zeugnissen.

So gebe ich nun eine Geschichte weiter, die mir durch einen Traum erzählt wurde.
Wer diese Geschichte liest und versteht, für den ist sie bestimmt.
Möge jeder für sich selbst entscheiden, ob und welche Bedeutungen er für sich darin entdecken kann.

Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.




Klappentext:

Diese Geschichte ist eine Erzählung von einem spirituellen Tagtraum.



Ich erwachte in der singulären Welt des Todes. Es war eine Welt, in der sich alles, wie in einem fließenden Kreis, ewig wiederholte. In dieser Zeitschleife gab es nur einen Ort des Erwachens, - die lichtdurchflutete Halle einer Villa im Garten Eden. Jeder Tag war gleich und alles vertraut, - zu vertraut.
Denn was sich unverändert und ewig im Kreise dreht, ist nicht bedeutsamer, als Stillstand.

Doch wenn uns plötzlich bewusst wird, dass es Ängste gibt, die Grenzen setzen, beginnen wir uns selbst in einer Dualität zu sehen. Mit etwas Mut wagen wir es dann vielleicht, an Vertrautem zu rütteln und hinterfragen das uns einzig Bekannte. So begann vielleicht die Erkenntnis über das eigene Dasein und der Wunsch nach Selbstrefflektion.
Und aus dem Funken des Bewusstwerdens trennten sich die symbiotisch verbundenen Geschwister „Erkenntnis“ und „Schöpfung“. Aus der Singularität erwuchs die Dualität und die ewig zunehmende Vielfalt wurde geboren, - eine Traumwelt unserer schöpferischen Gedanken, die wir das Leben nennen Der manifestierte Ausdruck von symbolischen Bedeutungen, zur Eigenreflektion des Allumfassenden, für das Werden aus sich selbst heraus.

So verließ ich den Tod durch die Pforten des Garten Edens, hinein ins Leben und begab mich auf eine spirituelle, wie auch gleichzeitig sehr weltliche Abenteuerreise, in die Zeit des Mittelalters. Das wahrhaft abstrakte, präsentierte sich mir hier durch einfache Gleichnisse, wie in einem Märchen.

Ich wurde mit der Dualität, der Vielfalt und dem Glauben konfrontiert, meiner eigenen Angst, des Mutes, der Hoffnung, des Schmerzes, des Glücks und vor allem, mit meiner Menschlichkeit.
Ich erlebte, wie wir durch das Leben geprägt wurden, um als Teile des Ganzen, unsere Rolle für die ewige Schöpfung zu erfüllten. Eine Ganzheit, wo nichts für sich alleine existiert, bestehend aus dem Kollektiv aller symbiotisch verbundener Wesen, die alle zusammen letztendlich vielleicht nur ein und das selbe sind, eine singuläre Einheit, dass allumfassende ungetrennte eine WIR, das wahre eine.... ICH.



Die in dieser Geschichte beschriebene philosophische, spirituelle Abenteuerreise, zwischen Leben und Tod, kann vielleicht als ein Gleichnis verstanden werden, welche auch die Bibel und unsere gewohnte Vorstellung von Gott, in ein völlig neues Licht rücken lässt. Es werden Zitate aus der Bibel entdeckt, die dies sogar noch bestätigen. Wahrheiten, die vieles erst verstehen lassen, doch nie erwähnt werden.
Der Traum erzählt von Selbsterkenntnis und Weiterentwicklung, einer Neuentdeckung der Menschlichkeit, von Werten des Lebens, von einem neuem Bewusstsein, beschreibt eine alternative Gesellschaftsform, integriert soziologische und religiöse Aspekte und deutet eventuell auf einen Umbruch der Menschheit hin.
Scheinbar Schlimmes entpuppt sich manchmal als etwas Gutes. Hoffnung wird wichtiger als Wissen.
Die Reise wird zu einer Begegnung mit sich selbst, führt zu Erkenntnissen über die Schöpfung, erklärt den Sinn von unserer scheinbaren Realität, und endet mit dem Aufbruch ins Paradies.

Die Entdeckung einer größeren Bedeutung hinter allem, lässt die Angst vor dem Tod ab absurdum führen, denn die wahren Werte des Traumes „Lebens“ sind vielleicht nur virtuelle Bausteine für eine Entfaltung des Allumfassenden im ewigen Leben. Geburt und Sterben mag somit zwar für uns sehr bedeutsam erscheinen, doch messen wir diesen notwenigen Übergängen wohl eine zu hohe Bedeutung zu und verlieren dabei den Blick für das wirklich Wesentliche, das ewige Leben selbst.

Die Abenteuerreise erinnert ein wenig an die Geschichte von „Der kleine Prinz“ oder auch an „Herr der Ringe“, was durch die Landkarten sicherlich noch unterstützt wird. Es gibt eine Auseinandersetzung mit unserer Realität wie z.B. auch in „Die Matrix“, aber es führt nicht zum gleichen Ergebnis.
Die Geschichte soll weder Vorbild noch Aufforderung sein, sondern ein Erlebnis, dass vielleicht zum Nachdenken anregt, um über unser scheinbar kleines, getrenntes Selbst hinauszuwachsen und unser Paradies aus einer neuen Erkenntnis heraus zu manifestieren. Aber was vielleicht das wichtigste ist, diese Geschichte macht Hoffnung. Keine Hoffnung auf Sicherheit, aber eine freie Hoffnung der Zuversicht.


Für eine bessere Welt,
in der sich Erfolge und Gnade
letztendlich
in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.



Der Garten Eden (Kapitel)

VORWORT 3
DER GARTEN EDEN 9
DER ERSTE MORGEN 9
DER ALTEN MANN 10
DER APFEL 10
DAS WASSER 11
DER GRASHALM 11
DER ZWEITE MORGEN 11
DER ALTEN MANN (ZWEIFEL) 12
DER APFEL 12
DAS WASSER 12
DER GRASHALM 12
DIE FRAGE 12
DAS ERSTE LEBEN 15
DER DRITTE MORGEN 15
DER AUFBRUCH 15
DIE JUNGVÖGEL UND DIE LUMPEN 16
DER ERSTE SCHRITT 17
EINBRUCH DER NACHT 18
EIN NEUER MORGEN 18
DIE SUCHE NACH DEM WEG 18
STÜRMISCHE NACHT 19
DER ALTEN MANN (REUE) 20
DER APFEL 20
DAS WASSER 20
DER GRASHALM 20
DAS ZWEITE LEBEN 21
DER SECHSTE MORGEN 21
DER ALTEN MANN (ERKENNTNIS) 21
DER ZWEITE SCHRITT 22
DER GROßE BAUM 23
DIE GLÖCKCHEN 25
EIN LEBEN AM WASSERFALL 27
DIE WEITERREISE 29
DER BETTLER 30
UNBEKANNTE FRÜCHTE 30
GNADENLOS 30
DAS DORF 32
VERÄNDERUNG IN EDEN 44
DIE HEIMKEHR 44
DER APFEL 45
DAS WASSER 46
DER GRASHALM 46
SCHÖPFUNG IN EDEN 46
ZWIESPALT IN EDEN 47
DIE VIER BURSCHEN 48
DAS DRITTE LEBEN 51
DER MORGEN 51
AUFBRUCH DER GEMEINSCHAFT 51
DIE VULKANLANDSCHAFT 52
DIE TRENNUNG 52
DER SCHRITT IN DIE HÖLLE 52
DER TOTE BAUM 53
DER GEYSIR 54
DIE LAVA 54
DIE HÖHLE 57
DER GIPFEL 57
DIE HEIMKEHR 60
AUFBRUCH INS PARADIES 62
DER NÄCHSTE MORGEN 62
DER PALAST 63
DER LETZTE MORGEN 63
DAS VIERTE LEBEN 65
DER ORT DES PARADIESES 65
DER ALTE MANN (DER NEUE MANN) 67
LANDKARTEN 68


Der Garten Eden
Der Garten Eden (Teil 1)
 

David

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Der Garten Eden
Geschrieben: Jahr 2004
Seiten: 70 DIN A4, ca. 140 Buchseiten
Zwei Teiler.
Zugehörige Bilder und Karten sind nur im Original vorhanden.
Das vollständige Buch (mit Bildern und Karten) ist als PDF-Datei erhältlich.


Vorwort
Große Umbrüche im Leben bringen manchmal seltsame Ereignisse mit sich.
Man sagt ja, so etwas lässt einen wachsen.

Diese Geschichte ist eine Erzählung von einem spirituellen Tagtraum, der mir in einer Lebenskrise widerfuhr.
Er dauerte drei Stunden.

Viele Figuren, Symbole, Bilder und Ereignisse auf dieser Reise, haben häufig mehr, als eine Bedeutung. Traumdeuter werden die Hintergründe einiger Symbole vielleicht erkennen. Manche Dinge bekommen jedoch noch einen weiteren Sinn, wenn man sie untereinander im Zusammenhang betrachtete.
Diese Geschichte beinhaltet also viele Geschichten in einer, mit Aussagen in Symbolen, kleinen Episoden, der gesamten Geschichte selbst und durch Verknüpfungen zu religiösen Zeugnissen.

So gebe ich nun eine Geschichte weiter, die mir durch einen Traum erzählt wurde.
Wer diese Geschichte liest und versteht, für den ist sie bestimmt.
Möge jeder für sich selbst entscheiden, ob und welche Bedeutungen er für sich darin entdecken kann.

Und du bringst mit dir, was du erschaffen hast.
Denn dein Himmel oder deine Hölle ist in dir.




Klappentext:

Diese Geschichte ist eine Erzählung von einem spirituellen Tagtraum.



Ich erwachte in der singulären Welt des Todes. Es war eine Welt, in der sich alles, wie in einem fließenden Kreis, ewig wiederholte. In dieser Zeitschleife gab es nur einen Ort des Erwachens, - die lichtdurchflutete Halle einer Villa im Garten Eden. Jeder Tag war gleich und alles vertraut, - zu vertraut.
Denn was sich unverändert und ewig im Kreise dreht, ist nicht bedeutsamer, als Stillstand.

Doch wenn uns plötzlich bewusst wird, dass es Ängste gibt, die Grenzen setzen, beginnen wir uns selbst in einer Dualität zu sehen. Mit etwas Mut wagen wir es dann vielleicht, an Vertrautem zu rütteln und hinterfragen das uns einzig Bekannte. So begann vielleicht die Erkenntnis über das eigene Dasein und der Wunsch nach Selbstrefflektion.
Und aus dem Funken des Bewusstwerdens trennten sich die symbiotisch verbundenen Geschwister „Erkenntnis“ und „Schöpfung“. Aus der Singularität erwuchs die Dualität und die ewig zunehmende Vielfalt wurde geboren, - eine Traumwelt unserer schöpferischen Gedanken, die wir das Leben nennen Der manifestierte Ausdruck von symbolischen Bedeutungen, zur Eigenreflektion des Allumfassenden, für das Werden aus sich selbst heraus.

So verließ ich den Tod durch die Pforten des Garten Edens, hinein ins Leben und begab mich auf eine spirituelle, wie auch gleichzeitig sehr weltliche Abenteuerreise, in die Zeit des Mittelalters. Das wahrhaft abstrakte, präsentierte sich mir hier durch einfache Gleichnisse, wie in einem Märchen.

Ich wurde mit der Dualität, der Vielfalt und dem Glauben konfrontiert, meiner eigenen Angst, des Mutes, der Hoffnung, des Schmerzes, des Glücks und vor allem, mit meiner Menschlichkeit.
Ich erlebte, wie wir durch das Leben geprägt wurden, um als Teile des Ganzen, unsere Rolle für die ewige Schöpfung zu erfüllten. Eine Ganzheit, wo nichts für sich alleine existiert, bestehend aus dem Kollektiv aller symbiotisch verbundener Wesen, die alle zusammen letztendlich vielleicht nur ein und das selbe sind, eine singuläre Einheit, dass allumfassende ungetrennte eine WIR, das wahre eine.... ICH.



Die in dieser Geschichte beschriebene philosophische, spirituelle Abenteuerreise, zwischen Leben und Tod, kann vielleicht als ein Gleichnis verstanden werden, welche auch die Bibel und unsere gewohnte Vorstellung von Gott, in ein völlig neues Licht rücken lässt. Es werden Zitate aus der Bibel entdeckt, die dies sogar noch bestätigen. Wahrheiten, die vieles erst verstehen lassen, doch nie erwähnt werden.
Der Traum erzählt von Selbsterkenntnis und Weiterentwicklung, einer Neuentdeckung der Menschlichkeit, von Werten des Lebens, von einem neuem Bewusstsein, beschreibt eine alternative Gesellschaftsform, integriert soziologische und religiöse Aspekte und deutet eventuell auf einen Umbruch der Menschheit hin.
Scheinbar Schlimmes entpuppt sich manchmal als etwas Gutes. Hoffnung wird wichtiger als Wissen.
Die Reise wird zu einer Begegnung mit sich selbst, führt zu Erkenntnissen über die Schöpfung, erklärt den Sinn von unserer scheinbaren Realität, und endet mit dem Aufbruch ins Paradies.

Die Entdeckung einer größeren Bedeutung hinter allem, lässt die Angst vor dem Tod ab absurdum führen, denn die wahren Werte des Traumes „Lebens“ sind vielleicht nur virtuelle Bausteine für eine Entfaltung des Allumfassenden im ewigen Leben. Geburt und Sterben mag somit zwar für uns sehr bedeutsam erscheinen, doch messen wir diesen notwenigen Übergängen wohl eine zu hohe Bedeutung zu und verlieren dabei den Blick für das wirklich Wesentliche, das ewige Leben selbst.

Die Abenteuerreise erinnert ein wenig an die Geschichte von „Der kleine Prinz“ oder auch an „Herr der Ringe“, was durch die Landkarten sicherlich noch unterstützt wird. Es gibt eine Auseinandersetzung mit unserer Realität wie z.B. auch in „Die Matrix“, aber es führt nicht zum gleichen Ergebnis.
Die Geschichte soll weder Vorbild noch Aufforderung sein, sondern ein Erlebnis, dass vielleicht zum Nachdenken anregt, um über unser scheinbar kleines, getrenntes Selbst hinauszuwachsen und unser Paradies aus einer neuen Erkenntnis heraus zu manifestieren. Aber was vielleicht das wichtigste ist, diese Geschichte macht Hoffnung. Keine Hoffnung auf Sicherheit, aber eine freie Hoffnung der Zuversicht.


Für eine bessere Welt,
in der sich Erfolge und Gnade
letztendlich
in einem selbst erschaffenen Paradies erfüllen.



Der Garten Eden (Kapitel)

VORWORT 3
DER GARTEN EDEN 9
DER ERSTE MORGEN 9
DER ALTEN MANN 10
DER APFEL 10
DAS WASSER 11
DER GRASHALM 11
DER ZWEITE MORGEN 11
DER ALTEN MANN (ZWEIFEL) 12
DER APFEL 12
DAS WASSER 12
DER GRASHALM 12
DIE FRAGE 12
DAS ERSTE LEBEN 15
DER DRITTE MORGEN 15
DER AUFBRUCH 15
DIE JUNGVÖGEL UND DIE LUMPEN 16
DER ERSTE SCHRITT 17
EINBRUCH DER NACHT 18
EIN NEUER MORGEN 18
DIE SUCHE NACH DEM WEG 18
STÜRMISCHE NACHT 19
DER ALTEN MANN (REUE) 20
DER APFEL 20
DAS WASSER 20
DER GRASHALM 20
DAS ZWEITE LEBEN 21
DER SECHSTE MORGEN 21
DER ALTEN MANN (ERKENNTNIS) 21
DER ZWEITE SCHRITT 22
DER GROßE BAUM 23
DIE GLÖCKCHEN 25
EIN LEBEN AM WASSERFALL 27
DIE WEITERREISE 29
DER BETTLER 30
UNBEKANNTE FRÜCHTE 30
GNADENLOS 30
DAS DORF 32
VERÄNDERUNG IN EDEN 44
DIE HEIMKEHR 44
DER APFEL 45
DAS WASSER 46
DER GRASHALM 46
SCHÖPFUNG IN EDEN 46
ZWIESPALT IN EDEN 47
DIE VIER BURSCHEN 48
DAS DRITTE LEBEN 51
DER MORGEN 51
AUFBRUCH DER GEMEINSCHAFT 51
DIE VULKANLANDSCHAFT 52
DIE TRENNUNG 52
DER SCHRITT IN DIE HÖLLE 52
DER TOTE BAUM 53
DER GEYSIR 54
DIE LAVA 54
DIE HÖHLE 57
DER GIPFEL 57
DIE HEIMKEHR 60
AUFBRUCH INS PARADIES 62
DER NÄCHSTE MORGEN 62
DER PALAST 63
DER LETZTE MORGEN 63
DAS VIERTE LEBEN 65
DER ORT DES PARADIESES 65
DER ALTE MANN (DER NEUE MANN) 67
LANDKARTEN 68


Der Garten Eden (Teil 1)

Der Garten Eden (Teil 2)
 



 
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