Der Gebärdenlegastheniker.

pleistoneun

Mitglied
Schlecht gelaunt betrat er am Morgen das Wartezimmer. Schlecht gelaunt deshalb, weil er die letzten Male zwar bestellt, aber nicht aufgerufen worden ist. Obwohl das Zimmer fast voll war, herrschte Totenstille. Keine Krankheitsgeschichten, keine Unterhaltungen zwischen Sitznachbarn und keine quängelnden Kinder. Er nickte zum Gruß in die Menge und begab sich auf einen freien Platz unmittelbar neben dem Tischchen mit den alten, abgegriffenen Zeitschriften. Unsicher musterte er sein Gegenüber. Eine ältliche Dame, viel zu dünn für ihr Alter und ihre sozioökonomische Herkunft, aber sauber und korrekt gekleidet. Daneben kritzelte ein kleines Mädchen ein paar Buchstaben auf die herumliegenden Zeitschriften, die junge Mutter daneben kümmerte sich nicht darum. Hier, beim Doktor für Gebärdenlegasthenie, waren nur sprachlose Menschen, also Menschen, die sich nur mittels Gebärden mitteilen konnten und von dieser Menschengruppe auch nur jene, die Probleme im Erlernen dieser Kommunikationsform hatten.

Die Ordinationstür ging auf und ein weißbekittelter Mann trat heraus. Es war der Herr Gebärdenlegastheniedoktor persönlich. In seiner legasthenischen Art stand er da. Wieder Totenstille. Nichts regte sich, sogar das Gekritzel der Kleinen hatte aufgehört. Nicht mal eine einzige Gebärde war zu sehen. Alles wartete auf die Entscheidung des Doktors, wen er doch als Nächsten drannehmen würde. Er hob die Hände und rief mit einer unverständlichen Gebärde einen Patienten auf. Verwirrung im Wartezimmer. Niemand wusste, wer gemeint war. Der Gebärdenlegastheniearzt versuchte es nochmal. Wieder helle Aufruhr, wilde Gebärden flogen durch die Luft. Natürlich war es sehr schwer für ihn, nur mithilfe der Hände einen Namen zu deuten. Man denke dabei jetzt mal nicht an gebärdenfreundliche Namen wie "Sauschläger", "Schinkenhirt" oder "Stopfkuchen", sondern beim multikulturellen Einfluss auch an etwas kompliziertere wie "Paraskevopoulos", "Kanesharajakkurukkal" oder "Pospischil". Der Spezialist für Gebärdenlegasthenie schaffte es heute trotz mehrstündigem Bemühen den ganzen Vormittag über nicht, einen einzigen Patienten in seine Ordination zu bestellen. Am Nachmittag saß er dann selbst bei einem Fachkollegen im Wartesaal und wurde an diesem Tag komischerweise auch gar nicht aufgerufen.
 



 
Oben Unten