Der Henker

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Fearn Feorag

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Die Menschenmenge jubelte und grölte, während Léon auf dem Podest stand. Er spürte das Gewicht des Schwertes an seiner Schulter und wartete darauf, dass die Urteilsverkündung zu Ende ging. Mittig stand ein Bursche, dessen Hände auf dem Rücken gebunden waren. Seinen Namen hatte Léon schon wieder vergessen, wie er das bei allen Verurteilten tat. Namen machten alles nur noch schwieriger.
Der Kerl war vielleicht um die 20 Jahre, also nur etwas jünger als er selber, und sah schmächtig aus. Laut Anklageschrift soll er die Tochter eines einheimischen Kaufmanns entführt und sich an ihr vergangen haben. Diese Fakten interessierten ihn eigentlich nicht, da er nur seinen Beruf ausüben wollte. Jedoch hatte seine Mutter mal erwähnt, dass eben dieses Mädchen desöfteren mit dem Verurteilten beim Austausch von Zärtlichkeiten gesehen worden war. Daraus schloss Léon, dass es sich wohl eher nicht um eine Entführung gehandelt hatte, sondern sie freiwillig mit ihrem Geliebten gegangen war.
Der Richter hatte seinen Vortrag beendet und gab ihm das Signal, dass er beginnen konnte. Während seine Gehilfen dem Verurteilten die Augen verbanden und zu Boden stießen, trat Léon daneben. Es war wie immer. Er ließ dem Jungen noch etwas Zeit für ein Gebet, wartete darauf, dass er seine Bereitschaft erklärte, holte mit dem Schwert aus und trennte mit einem Schlag Kopf und Körper voneinander. Es war das vertraute Geräusch, wie das Schwert durch Muskeln, Sehnen und Knochen glitt, die ihm anzeigten, dass die Hinrichtung wie erwartet abgelaufen war. Während er sich auf den Weg nach Hause machte, erledigten die Helfer den unangenehmsten Teil. Der Platz musste gereinigt und für die nächste Hinrichtung vorbereitet werden.

Léon genoss die Ruhe, die er spürte, als er aus dem Stadttor hinaus in den nahen Wald ritt. Die Leute, die ihm entgegen kamen, machten einen möglichst großen Bogen um ihn, lastete doch so mancher Aberglaube auf dem Beruf des Scharfrichters.
Als Junge wäre er gerne Soldat geworden, jedoch war sein Weg durch seine Familie vorherbestimmt. Er war der Älteste und musste nach seiner militärischen Grundausbildung in die Fußstapfen seines Vaters treten, was für ihn hieß, Henker zu werden. Mit allem, was dazu gehört: Am Rande der Gesellschaft leben, keinen Kontakt zu den Stadtbewohnern haben, Wirtshäuser und Kirchen nur beschränkt bis gar nicht betreten zu dürfen. Das er keinen Zugang zu den Gotteshäusern hatte, war ihm nur recht. So musste er sich nicht die Märchen vom Herrn und Erlöser anhören. Schlimmer fand er, dass es ihm verboten war, viele Wirtshäuser zu betreten. Kein guter Wein oder gutes Bier was er sich nach getaner Arbeit gönnen könnte, keine hübsche Magd, die er nehmen konnte. Die Frauen, die er haben durfte, waren oft alte oder hässliche Huren, die sich wohl schon lange nicht mehr gewaschen hatten, oder eben die Töchter anderer umliegender Henkersfamilien. Jedoch war das nicht so einfach, da jede Stadt in der Regel nur einem Scharfrichter und dessen Familie gewährte, das Amt auszuüben und in der Nähe wohnen zu dürfen. Weitere Familien mit entsprechenden Töchtern aus unehrlichen Berufen waren für ihn uninteressant.
Sicher hatte diese Arbeit auch seine Vorteile. So musste er nicht in den heißen, stinkenden Städten wohnen, mit all dem Gesindel. Die Bezahlung war gut, so dass er ein doch relativ angenehmes Leben führen konnte. Er musste sich keine Gedanken darüber machen, dass er auf einmal ohne Beschäftigung dastehen würde.
Léon stieg ab und übergab dem Stalljungen sein Pferd, als er in das Wohngebäude ging. Seine Mutter begrüßte ihn und erkundigte sich, wie es gelaufen war. Mit wenigen Worten erstattete er Bericht, auch wenn es nicht viel anders war wie sonst.
Lange hielt er es nicht im Inneren aus, so dass er im nahen Bach ein angenehm kühles Bad nahm. Dabei konnte er vergessen, was und wer er war, auch wenn das nur wenige Minuten möglich war. Es war schwer, immer wieder auf ein Neues aufzustehen, in die Stadt zu reiten und das Urteil zu vollstrecken, in dem er andere in den Tod schickte. Er hoffte, dass er auf Dauer besser damit klar kam, als sein Vater, von dem er alles gelernt hatte. Relativ früh, er war gerade mal fünf Jahre alt, zeigte ihm sein Vater die ersten Folterwerkzeuge. Er war damit aufgewachsen, kannte nichts anderes und wusste, wie was funktionierte. Die menschliche Anatomie brachte ihm sein Vater an Hingerichteten bei, nachdem er das Grundsätzliche an Tieren gezeigt bekommen hat. Da kam es ihm zu Gute, dass in der Familie seiner Mutter Abdecker und auch Schlachter vertreten waren. So war immer Übungsmaterial vorhanden. Während seiner Ausbildung wurde viel Wert darauf gelegt, dass er gerade beim Enthaupten nie mehr als einen Streich brauchte, um so den Verurteilten ein rasches Ableben zu ermöglichen. Es gab einige Kollegen, die dazu nicht in der Lage waren und daher die Delinquenten oftmals noch leiden mussten. Mit schaudern dachte er an eine Hinrichtung, die er als Junge in einer anderen Stadt als Zuschauer miterlebt hatte. Entweder hatte der Henker nicht die Kraft, oder aber das Schwert war nicht scharf genug, um den Kopf mit einem Schlag abzutrennen. Auf jeden Fall blieb die Schneide stecken und die Person schrie bestialisch bis der Scharfrichter erneut ansetzte und das Haupt endgültig fiel. Diese Hinrichtung hatte ihn geprägt und bei jeder Hinrichtung dieser Art hatte er Angst, dass ihm ähnliches passieren würde. Léon dachte an seine Ausbildung zurück. Wie für die meisten seiner Kaste begann die Lehre als Gehilfe: Körperteile verscharren, Waffen reinigen und schärfen. Danach lernte er das Handwerk des Folterknechts. Für ihn war das die schlimmste Zeit; mit allen Mitteln versuchen, Geständnisse und Informationen herauszubekommen, aber die Gefangenen nicht zu töten. Es war immer eine Gratwanderung. Man sah die Leute leiden, hörte Schreie und man war selber der Verursacher. Erst danach lehrte ihn sein Vater die Kunst des Hinrichtens. Nach den Erfahrungen in der Folterkammer war er froh zu wissen, dass er die Menschen von ihrem Leid fast schon erlösen durfte. Für ihn war es daher schwer nachzuvollziehen, dass viele, die diesen Weg gingen, gerne als Folterknecht arbeiten wollten.
Sicher waren die meisten Bürger und Städter davon überzeugt, dass auch er als Henker kein normalen Mensch sein konnte. Wer tötete sonst freiwillig straffällig gewordene Einwohner? Freiwillig tat er das sicher nicht, aber er hatte ja keine andere Wahl. Léon sah sich selber als normaler Mensch. Er war anders, aber keine Bestie die aus Lust und Spaß tötete. Wie andere in seinem Alter sehnte er sich nach dem Körper einer Frau, nach Abenteuer, Anerkennung und danach, eine eigene Familie zu haben. Er wünschte sich oft, frei zu sein, tun und lassen zu dürfen, was er wollte, ohne Einschränkungen. Er hatte Gefühle, Träume und Wünsche, wollte geliebt werden und lieben, aber alles schien für ihn schwer erreichbar zu sein. Welche Frau die ihm gefiel, sollte ihn schon lieben? Wer würde ihn schon liebkosen wollen? Das war der Fluch seiner Arbeit. Die, die das wollten und durften, übten wie er eine unehrliche Arbeit aus. Die, die er haben wollte, schauten ihn nicht mal an, gingen ihm aus dem Weg.
Er wusste, dass er nicht schlecht aussah, das hatten viele zu ihm gesagt, bevor sie wussten, was er machte und auch selber fand er sich ganz ansehnlich. Er war relativ groß gewachsen, hatte dunkles, meist kurzes Haar und durch die kraftraubende Tätigkeit einen durchtrainierten Körper, so dass so mancher Adelsspross ihn neidisch anschaute.
Léon stieg aus dem Bach und legte sich zum trocknen auf das Leinentuch in die Sonne. Gerne hätte er für den Rest des Tages hier gelegen, aber die Pflicht rief. Wie jeden Tag musste er in die Gefängnisse und zur Folterkammer, um einen Kontrollblick auf seine Gehilfen zu werfen. Eigentlich hatte er als Aufsichtsperson einen leidenschaftlichen Folterknecht, aber dennoch sollte er sich sehen lassen. Den Weg dorthin kombinierte er immer mit einem kurzen Besuch beim Richter, um die anstehenden Anordnungen in Empfang zu nehmen. Er bekam neue Namen, die entweder gefoltert oder hingerichtet werden sollten.

Nachdem er noch etwas gegessen hatte, machte er sich wieder auf den Weg in die Stadt. Dort angekommen, nahm er die Liste entgegen und ritt weiter zum Gefängnisturm. Die Wachen begrüßten ihn mit einem Nicken und er betrat die schmalen Gänge. Es war dunkel und kühl, aber durch die Feuchtigkeit die sich ansammelte nass. Es roch nach modrigem Holz und Schimmel. Jeder Schritt hallte in dem Gemäuer. Zu seiner Rechten befand sich die Wachstube in der ein paar Wachposten saßen, tranken und mit Würfeln spielten. An der Wand hingen ein paar Waffen, dessen Besitzer frei hatten. Als die Männer ihn bemerkten, hoben sie lediglich ihre Köpfe, beachteten ihn aber nicht weiter bis er die nächste Tür öffnete und eintrat.
Wie er erwartet hatte, war niemand da, so dass er die Unterlagen auf den Holztisch legte. Das Zimmer war etwas größer als das vorherige, da hier seine Gehilfen und der Folterknecht hausten. An den Wänden hingen einige Folterwerkzeuge, die nicht mehr in Gebrauch waren. An mehreren Stellen lagen die Strohsäcke und Decken, auf denen seine Leute nächtigten. Wie im ganzen Bau erhellten lediglich Fackeln und Kerzen die triste Dunkelheit, Fenster gab es nicht. Nur eine kleine Öffnung knapp unterhalb der Decke, die weniger für Licht, als mehr für etwas frische Luft sorgte. Andauernd huschten Mäuse und Ratten über den Boden und das spärliche Mobiliar. Léon machte sich weiter auf den Weg zur Folterkammer. Hin und wieder hörte er Schreie, Rufen und Schluchzen von den Eingesperrten, jedoch interessierte ihn das nicht weiter. Er hatte gelernt, mit diesen Gestalten kein Mitleid zu haben, auch wenn es manchmal schwer war. Die einzelnen Schicksale kümmerten ihn nicht, egal ob sie hier zu recht oder unrecht waren. Sicher waren einige hier, die nur aufgrund von Intrigen oder weil sie dem Nachbarn oder der angeheirateten Familie nicht passten, einsaßen, aber der Großteil hatte tatsächlich etwas verbrochen: Diebe, Land- und Königsverräter, Vergewaltiger und Wegelagerer waren nur ein kleiner Teil davon. Diese Verurteilten befanden sich im unter der Erde liegenden Bereich. Im mittleren Bereich waren diejenigen untergebracht, die zwar verdächtigt wurden, aber noch nicht gestanden hatten und die auf den Folterlisten standen. Das hatte den Zweck, dass der Weg zur Folterkammer nicht so weit war. Diese befand sich auf der Zwischenebene zwischen Verurteilten und Verdächtigen relativ ebenerdig. Im oberen Teil waren die besser situierten Gefangenen, bei denen es sich ausschließlich um Geiseln handelte, auf dessen Lösegeld man wartete. Mit diesem Klientel hatte Léon nichts zu tun, es sei denn, die Angehörigen weigerten sich die Forderungen zu erfüllen. Dann konnte es durchaus sein, dass er den ein oder anderen hinrichten musste.
Auf dem Weg zur Folterkammer flossen kleine Rinnsale neben dem Weg und den Treppen hinab, während es an vielen Stellen auch herabtropfte. Je näher er der Kammer kam, umso lauter wurden die Schreie der Gepeinigten. Die eiserne Tür, die eigentlich die Geräusche aus dem Inneren dämmen sollte, ging quietschend auf. Léon vernahm das Ächzen eines der vielen Holzräder und wusste, wo er den Folterknecht antreffen würde. Dieser bediente gerade das Rad der Streckbank, auf der ein älterer Mann lag. Mit einem: „Es freut mich, Euch zu sehen, Meister“ wurde Léon begrüßt. „Ganz Meinerseits, Nicola. Die Neuen liegen auf dem Tisch.“
„Jawohl, Meister“
„Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse in den vergangenen Tagen?“
„Nein, alles ruhig, soweit man das sagen kann.“ der Henker verabschiedete sich mit einem Nicken und verließ die Kammer.
Es war ungewöhnlich, dass solche zu Randgruppen Gehörende das Lesen beherrschten, aber da die Verständigung mit den Richtern so einfacher war, hatten bereits seine Vorgänger zu lesen gelernt. Auf wen das allerdings zurückging, vermochte Léon nicht mehr zu sagen. Er selber legte viel Wert darauf, dass seine Gehilfen, falls diese nicht sowieso zur Familie gehörten, zumindest etwas lesen lernten. So konnte er die Namensliste einfach abgeben, ohne dass er sich weiter darum kümmern musste. Fast alle seiner Helfer waren Cousins oder Brüder. Nicola gehörte zu den wenigen, die sich freiwillig für diesen Weg entschieden hatten. Als abtrünnig gewordener Soldat der neben dem Militärdienst als Straßenräuber unterwegs war, war der weitere Schritt in diesen Beruf nicht mehr besonders groß. Eines Tages stand er vor dem Anwesen seiner Familie und fragte, ob er sich als Gehilfe betätigen konnte. Léons Vater, der um jeden Neuen fast froh war, lehnte das Gesuch nicht ab, sondern führte ihn in die Kunst des Folterns ein. So kam Nicola zu ihnen und schien glücklich mit dem zu sein, was er machte.
Vielleicht hatte sein Vater auch gehofft, dass Nicola eine der beiden Töchter ehelichte, um so neues Blut in die Sippe zu bekommen. Jedoch hatte sein Vater nicht mehr miterleben dürfen, wie Megane von Nicola schwanger wurde, auch wenn es bisher zu keiner Eheschließung gekommen war.
Allgemein nahm es seine Familie mit den Werten und Gepflogenheiten der Gesellschaft nicht so genau. Sie waren eben Außenseiter und da war es egal, wie man sich verhielt, da es keine Möglichkeit gab, in dieser Zeit in einen besseren Stand aufzusteigen. Keines der Familienmitglieder strebte danach und sie baten auch keinen Heiligen um Vergebung. Lediglich ihre Mutter betete hin und wieder, aber nur, um wenigstens etwas von ihrem Kummer loszuwerden. Sie hatte seinen Vater wirklich geliebt und kam einfach nicht über seinen Freitod hinweg. Es schmerzte Léon, seine Mutter so leiden zu sehen.
Mittlerweile hatte er das Gemäuer hinter sich gelassen und ritt gemächlich durch die Straßen wieder hinaus. Immer wieder erblickte er Frauengruppen, die zu ihm schauten und sich dann tuschelnd austauschten. Andere schauten ihn verächtlich an, als wollten sie sagen: „Verschwinde aus unserer Stadt! Geh wieder in dein Drecksloch.“ Bei dem Gedanken, dass viele der Stadtbewohner nach Einbruch der Dunkelheit heimlich zu ihrem Haus kamen, um diverse Glücks- oder Heilbringer zu erhaschen, musste er schmunzeln. Tagsüber war seine Familie verpönt aber in der Finsternis suchte man Seinesgleichen gerne auf. Es waren Besucher aus allen Schichten, wobei die reicheren ihr Gesinde schickten und nur in Ausnahmefällen selber erschienen. Es wurde nach Knochenamuletten gefragt, die verschiedene Zwecke erfüllen sollten: Glück, Reichtum und Schutz. Das waren die Eigenschaften, die die Amulette haben sollten. Daran glauben taten nur die Käufer, seine Familie und er sahen das lediglich als weitere Einnahmequelle. Dann gab es noch eine Geldquelle, die immer wieder in Anspruch genommen wurde, bevorzugt von den ärmeren Bewohnern. Da der Beruf gewisse Kenntnisse der menschlichen Anatomie mit sich brachte, wurde desöfteren von Kranken oder Verletzten um Hilfe gebeten. So kamen zu den Hinrichtungen und Foltereien auch Amputationen von Gliedmaßen oder das Entfernen von Zähnen dazu oder auch weitere Eingriffe, die ein Medikus verweigerte oder es aber am nötigen Geld fehlte. Auch in anderen Bereichen gab es Möglichkeiten zu arbeiten. So verdiente einer seiner Brüder sein Geld damit, dass er auf die umliegenden Bauernhöfe bei Tiergeburten half oder als Abdecker fungierte.
Schwerer hatten es bei der Berufswahl seine beiden Schwestern. Aber auch diese trugen zum finanziellen Wohlstand bei. Zwar fehlte es oftmals an Kraft um als Henkerin zu arbeiten, was jedoch beide schon mehrmals getan hatten, hauptsächlich waren sie als Heilkundige und Kräuterspezialistinnen anzutreffen. Selbst als Hebamme bei der armen Bevölkerung verdienten sie ein Zubrot. Daher konnte sich keiner über fehlende Arbeit beschweren, was durch das weit verstreute Einsatzfeld keine finanziellen Nöte bereitete.
Vor Léon lag nun der Wald. Weil er noch ein paar Kräuter für seine Mutter besorgen sollte und diese nur an bestimmten Plätzen wuchsen, ritt er abseits des Weges auf den Trampelpfaden der Tiere entlang. Als die Äste zu tief hingen, stieg er vom Pferd und führte es weiter. Im Kindesalter war er oft mit seiner Mutter hier unterwegs gewesen, hatte die Tiere und Pflanzen als wichtige Lebewesen kennen und ehren gelernt und genoss die Erinnerungen an früher.
Erst als sein Pferd erschrocken einen Satz zur Seite machte, riss es ihn aus der Vergangenheit. Durch die Reaktion seines Tieres gewarnt hielt er inne und versuchte das Verhalten seines Hengstes zu verstehen. Léon lauschte den Klängen der Natur, als er in seiner unmittelbaren Nähe Blätter rascheln und Äste knacken hörte. Der verunsicherte Hengst schnaubte immer noch aufgeregt, jedoch brauchte Léon nur wenige Worte und Gesten, um ihn wieder zu beruhigen. Schließlich hörte er Befehle und Hufgetrappel, die sich ihm nährten, konnte jedoch nichts sehen, da die Gruppe auf dem nahen Weg angeritten kam. Je näher sie kamen, umso deutlicher verstand Léon die Männer: „Sie muss hier sein! Durchsucht die Büsche. Die darf nicht entkommen!“ Während er sich weiter durch das Unterholz schlug und plötzlich einem der Reiter gegenüberstand, entdeckte er keine Person, die sich zu verstecken schien. Es überraschte ihn nicht, als der Mann, der offensichtlich Söldner war, ihn anschrie und fragte: „Ey, Bursche, was hast du zu verbergen, dass du dich abseits des Weges aufhältst?“ Eigentlich hatte der Henker keine große Lust, sich mit diesem Kerl anzulegen, jedoch blieb ihm im Moment wohl nichts anderes über, als zu antworten: „Ich suche lediglich Kräuter. Und die befinden sich nun mal nicht auf dem Weg!“ Sein Gegenüber spuckte aus: „Soll dich doch der Henker holen! Nun geh’ mir aus dem Weg!“ Léon musste grinsen und sagte: „Ich kann mich als Henker schlecht selber holen und meine Familie zieht lohnendere Jobs, die vom Gericht kommen, doch vor.“ Darauf schaute ihn der Söldner an, machte ein Kreuzzeichen und versuchte im möglichst großen Abstand an ihm vorbei zu gelangen. Fast fluchtartig entfernte sich dieser von ihm.
Es dauerte noch etwas, bis die Gruppe weiter ritt, wobei Léon nicht sagen konnte, ob dessen Suche erfolgreich war.
Mittlerweile war er an der Stelle angekommen. Er hörte den kleinen Bach plätschern, glaubte aber, noch was anderes zu hören. Während er seinen vierbeinigen Begleiter ans Wasser führte, knackte es wie eben schon zwischen den Sträuchern, jedoch sah er auch dieses mal nicht den Verursacher. Schließlich widmete er sich dem Kräuter sammeln, konnte aber das Treffen mit dem Söldner nicht vergessen. Plötzlich hörte er sein Pferd wiehern und er wusste sofort, das etwas nicht in Ordnung war. So schnell wie es ihm möglich war, eilte er zurück und fand sein Pferd wütend auf dem Boden scharrend an. Er sah noch einen Schatten in das Unterholz kriechen und entschloss sich, genauer nachzusehen. Er brauchte nicht lange suchen und stieß schließlich auf eine Person. Diese versuchte noch ein weiteres Mal zu entkommen, stolperte aber über eine Wurzel und stürzte. In wenigen Schritten hatte er sie erreicht und ergriff grob den Arm. „Was hattest du mit meinem Pferd vor?“ Er bekam keine Antwort, also zwang er sie dazu, ihn anzusehen. Noch einmal wollte er seine Frage wiederholen, ließ es dann aber, als er erkannte, dass er eine junge Frau ergriffen hatte. Unweigerlich lockerte er den Griff und sah in dunkle Augen. Sie befreite sich und wollte gehen, als Léon sie wieder festhielt, jedoch deutlich sanfter. Auch sprach er sie nun freundlicher an: „Verzeiht, ich wollte Euch nicht wehtun. Aber würdet Ihr mir bitte sagen, warum Ihr mein Pferd stehlen wolltet?“ Endlich bekam er Auskunft, jedoch bei weitem nicht so freundlich, wie er erhofft hatte. „Lass mich gefälligst los! Ich bin auf der Durchreise und habe genug vom Laufen.“ Herausfordernd sah sie ihn nun an. Ihre schnippische Art ließ ihn alle Höflichkeit vergessen: „Nun, da hast du dir das falsche Pferd ausgesucht. Er lässt sich nicht von anderen reiten. Aber wenn ich dich so ansehe, hast du das ja bereits am eigenen Leib erfahren.“ Mit einem Kopfnicken deutete er auf ihr Gewand, was unverfälscht vom Sturz aus dem Sattel zeugte. Energisch versuchte die Fremde nun, ihr Gewand zu richten. Erfolglos wandte sie sich von ihm ab, zog ihre Hand aus seiner und schickte sich an zu gehen. „Dann suche ich mir eben ein anderes. Ich komme hier schon noch weg.“ Léon ließ sie laufen, während er sie prüfend musterte. Sie war gut gebaut, nicht zu dick und nicht zu dünn. Ihr dunkles Haar hatte sie wohl in ihr Gewand gesteckt, so dass von hinten nicht auf dem ersten Blick erkennbar war, ob es sich um eine männliche oder weibliche Person handelte. Ihr Kleid war aus groben Leinen und nicht gefärbt, so dass er davon ausging, dass sie nicht aus besseren Verhältnissen kam. Das verwunderte ihn, da gerade bei den unteren Bevölkerungsschichten jede Hand gebraucht wurde. Misstrauisch kam er zu dem Entschluss, dass sie womöglich die gesuchte Person war.
Noch etwas Zeit verbrachte er mit sammeln, bis er seinen Weg fortsetzte. Sobald die Höhe es zuließ, schwang er sich in den Sattel. Obwohl er im gemütlichen Schritt ritt, dauerte es nicht lange, bis er die junge Frau sah. Wie zuvor hielt sie sich abseits des Weges, was Léon noch nachdenklicher stimmte. Die Fremde hatte ihn wohl noch nicht bemerkt, so dass er, als es möglich war, das Unterholz verließ und sobald er den Weg erreicht hatte, schneller vorwärts ritt. Er wollte ihr den Weg abschneiden, um sie auszufragen.
An einer kleinen Wegabzweigung kreuzten sich ihre Wege. Er stellte seinen Hengst quer vor ihr, als sie vorsichtig zwischen den Büschen hindurch schlich. „So meine Liebe, bevor du hier vorbei kommst, habe ich ein paar Fragen an dich.“ Es machte ihm keine Mühe, bedrohlich zu wirken, war es doch ein Teil seines Jobs. Er wusste, dass er mit Freundlichkeit bei ihr nichts erreichen würde, hatte er es doch eben versucht. Erschrocken sah sie ihn an, machte einen Schritt zurück, jedoch blockierten die Äste ihren Rückweg. „Was soll das werden?“ fragte sie ihn nun „etwa ein Verhör?“
„Nenn es, wie du willst. Mich interessiert lediglich, wer du bist und was du hier suchst.“ Léon hatte kurz in Erwägung gezogen, ihr deutlich zu machen, mit wem sie es zu tun hatte, verwarf den Gedanken aber wieder. „Ich kann natürlich auch den Wachen sagen, dass sich hier jemand herumtreibt, der sich seltsam verhält, oder aber, du beantwortest mir meine Fragen und ich vergesse, dass ich dich getroffen habe und du mein Pferd stehlen wolltest.“ Sie schien zu überlegen, was sie tun sollte. Ihr zögern ließ Léon vermuten, dass sie etwas zu verbergen hatte. „Ich kenne dich nicht, daher brauchst du mich auch nicht zu kennen. Was du machst, liegt an dir. Ich habe schon alles verloren und da spielt es auch keine Rolle mehr, was aus mir wird. Sterben müssen wir alle einmal.“ Diese Worte trafen ihn unerwartet hart, jedoch zuckte er nur mit den Augenbrauen. Sie klang hoffnungslos und bei weitem nicht mehr so selbstsicher wie zuvor. „Na wenn du eh nichts mehr zu verlieren hast, sag mir deinen Namen und ich lasse dich ziehen.“ Langsam wurde es dunkel und Léon wollte nach Hause reiten, daher erhöhte er den Druck. Ein weiteres Mal zögerte sie, bis sie ihn ansah und sagte: „Ich heiße Elaine.“ Immer noch schaute er sie misstrauisch an, aber er spürte, dass er nichts mehr aus ihr herausbekommen würde. Er wendete sein Pferd und machte so den Weg frei. Bevor er davon ritt, teilte er ihr noch mit: „In der Nähe von dem Bach sind ein paar Felsvorsprünge“ dann trieb er den Hengst voran und galoppierte fort. Er hatte das getan, was er konnte, ihr sogar noch Tipps zum übernachten gegeben, was sie aber daraus machte, lag an ihr.

Noch vor Sonnenaufgang verließ Léon das Anwesen. In der vergangenen Nacht hatte er alles andere als gut geschlafen. Eigentlich hätte er erst zu späterer Stunde auf den Beinen sein müssen, jedoch spürte er, dass er innerlich sehr unruhig war. Er hielt es nicht mal zum frühstücken aus, sondern hatte einen Laib Brot und etwas Wurst in die Satteltasche gepackt und war losgeritten. Eher unbewusst zog es ihn an dem Bach, von dem er, nachdem er sich mit dem kühlen Nass gewaschen hatte, weiter zu den Felsvorsprüngen ging. Am Zügel führte er sein Pferd mit, da er das Tier nicht zurücklassen wollte.
Wirklich überrascht, Elaine da anzutreffen, war er nicht. Sie lag auf dem blanken Boden, hatte sich notdürftig mit trockenem Gras zugedeckt und schlief. In dem Moment war es für ihn ein erbärmlicher Anblick und ein Eindruck, welcher ihm klar machte, wie gut er es doch hatte. Seine Familie stand zwar in der Gesellschaft an unterster Stelle, aber sie hatten Geld, ein Dach über dem Kopf und konnten sich das meiste leisten, was sie wollten. Teure Lebensmittel, Stoffe, Leder und gute Felle. Sie froren nicht, hatten sogar Gesinde, das den Hof bewirtschaftete und das Feuer schürte, aber Elaine lag da, nur in ihrem Leinenhemd. Léon schaute sich um und fand keinen Anhaltspunkt für Feuer, das etwas Wärme spendete. Unwillkürlich zog er seinen wollenden Umhang enger um seinen Körper. Schließlich kniete er neben ihr und strich ihr vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht. Dabei merkte er, dass ihre Körpertemperatur gesunken war. Diese Erkenntnis reichte ihm, um etwas Reisig zusammen zu suchen und ein kleines Feuer zu entfachen. Es dauerte noch etwas, bis Elaine sich regte und als sie ihn sah, schreckte sie zusammen: „Was willst du hier?“ Es war nicht zu überhören, dass ihr seine Anwesenheit missfiel. „Ich wollte nur schauen, ob die Wölfe und Bären dich nicht aufgefressen haben.“ Eine andere Begründung fiel ihm nicht ein, davon abgesehen, dass er es selber noch nicht wusste. „Nun gut, da du dich davon überzeugt hast, dass ich noch lebe, verschwinde und lass mich in Ruhe.“ Er wusste nicht, ob er sich über sie amüsieren oder ärgern sollte. „Ich hoffe mal, dass es dich nicht stört, wenn ich mich in der Nähe hinsetze und frühstücke.“ Mit diesen Worten entfernte er sich langsam von ihrem Lager. Nicht weit entfernt ließ er sich nieder und holte sein Proviant hervor. Immer wieder schaute er in die Richtung von ihrem Lager, während er sich auf dem Boden ausstreckte und die langsam höher steigenden Sonnestrahlen genoß. Léon hoffte, dass sie sich vielleicht vom Hunger getrieben zu ihm gesellte und er doch noch mehr von ihr erfahren würde. Für ihn stand fest, dass sie etwas verheimlichte und ihn interessierte, was es war.
Im Augenwinkel bemerkte er, wie sie sich langsam näherte. Noch bevor sie weiter ging, sprach er sie an: „Versuchst du etwa schon wieder, mich zu beklauen? Setzt dich doch einfach dazu, dann kannst du auch was vom Brot abbekommen.“ Jetzt schaute er sie an und schmunzelte über ihren Gesichtsausdruck, der deutlich zeigte, dass er sie ertappt hatte.
Zögerlich folgte sie seiner Aufforderung und als Léon ihr ein Stück entgegen streckte, konnte sie nicht widerstehen. Hungrig schlang sie es hinunter, bis sie sich doch noch zusammen riss. „Wie lange hast du nichts mehr gegessen?“ wollte er wissen. Anders als erwartet, beantwortete sie seine Frage nicht mit vollem Mund, sondern zuckte mit den Schultern und gab ihm mit der Hand zu verstehen, dass er noch kurz auf eine Antwort warten musste. Der Henker schüttelte nur amüsiert mit dem Kopf.
„Was richtiges gegessen habe ich schon lange nicht mehr. Hauptsächlich bestimmen Beeren, Früchte und Pflanzen meinen Speiseplan.“
„Wieso?“
Ihrer gerade noch euphorischen Art wich Misstrauen. „Das geht dich nichts an.“ Léons Blick entzog sie sich, so dass er auch woanders hinsah. „Ich würde dir gerne helfen, aber du sagst ja nicht, was los ist.“ Es war ohne groß nachzudenken aus ihm heraus geplatzt. Sie wurde noch misstrauischer. „Ich brauche deine Hilfe nicht!“ Elaine wollte gerade aufstehen und gehen, als er ihren Arm ergriff und wieder zu Boden zwang.
„Was soll das? Lass mich los!“ Er achtete nicht auf ihre Wehrversuche, sondern legte sich mit seinem Oberkörper auf ihren. Sie erstarrte und schaute ihn panisch an. Aber anders als sie erwartete, wurde er nicht gewalttätig, sondern küsste sie auf den Mund. Als sie sich beruhigt hatte, rutschte er von ihr runter, ließ sie dabei aber nicht aus den Augen. Fast versöhnlich strich er ihr über die Wange um ihr zu zeigen, dass er ihr nichts böses wollte. Irritiert sah Elaine zu ihm; „Was hast du vor?“ es klang nicht vorwurfsvoll sondern unsicher. „Ich weiß es ja selber nicht.“ Selbst Léon hatte keine Ahnung, was er eigentlich wollte. Schließlich richtete er sich auf und gab ihr die Chance, zu entkommen. Sie blieb jedoch bei ihm und legte eine Hand auf seine Schulter: „Danke für das Brot. Aber es ist wirklich besser, wenn wir uns nicht wiedersehen.“
„Warum? Was hast du zu verbergen?“ Er hatte das Gefühl, die Kontrolle über diese Situation zu verlieren, jetzt, wo er langsam begriff, was mit ihm los war. Elaine stand auf, schüttelte mit dem Kopf und sagte: „Glaub mir. Es ist so das Beste. Leb wohl.“ Dann ging sie fort und ließ ihn alleine zurück. „Elaine! Bitte sag mir, was ist!“ verzweifelt versuchte er sie zurück zu halten, aber sie reagierte nicht auf seine Rufe.
Noch Minuten stand er da und schaute ihr hinterher. Schließlich machte auch er sich auf den Weg in die Stadt, da es doch Zeit wurde, seinem Geschäft nachzugehen. Léon versuchte nicht einmal, ihrer Spur zu folgen, sondern zog es vor, seinen Gedanken nachzuhängen, während sein Hengst den alltäglichen Weg in die Stadt von selbst einschlug. Er achtete nicht auf die Gegend, setzte eine emotionslose Miene auf und dachte an die kürzlich vergangenen Minuten. Er konnte nicht sagen, ob er sie für ihr Verhalten hassen oder doch weiter mögen sollte. Zu gerne wüsste er, was sie dazu getrieben hat, ihn so stehen zu lassen. Sie kam nicht aus der Gegend, so dass sie wissen konnte, was er machte. Daher schloss er diese Begründung aus. Léon versuchte Hinweise zu suchen, die ihre Herkunft vielleicht erklären konnten. Unweigerlich kam ihm das Aufeinandertreffen mit dem Söldner in den Kopf. Wenn sie wirklich eine gesuchte Person war, könnten ihm eventuell seine weit reichenden Kontakte weiterhelfen, warum sie so offensichtlich geflüchtet war.

Der städtische Lärm riss ihn aus seinen Gedanken, obwohl er noch nicht das Stadttor erreicht hatte. Diverse fahrende Händler sammelten sich mit ihren Marktkarren auf der Straße. Trotz des sich bildenden Rückstaus kam er schnell vorwärts, da die meisten Händler aus Angst vor Berührungen mit dem Scharfrichter großzügig Platz machten, soweit der Weg das zuließ. Auch im Inneren herrschte reges Treiben. Auf seinem Weg zum Gericht kam er an dem Anschlagbrett vorbei, auf dem einige Gesuchte abgebildet waren. Jedoch reichte ein Blick und er wusste, dass ihr Abbild nicht darunter war. Einerseits war er darüber erleichtert, andererseits bedeutete das für ihn, dass er weiter im Ungewissen bleiben würde.
Léon hielt es nicht lange vor Ort und er war froh, dass er, nachdem er die neuen Urteile entgegengenommen hatte, zum Gefängnis reiten konnte.
Je näher er dem Gemäuer kam, umso stärker wurden die Wut und vielleicht auch der Hass darauf, wie sie ihn behandelt hatte. Während er hilfsbereit und freundlich ihr gegenüber gewesen war, hatte sie nur Ablehnung signalisiert und ihn in seinem Stolz verletzt. Gröber als vorgehabt brachte er sein Pferd zum stehen, übergab die Zügel einem seiner Knechte und betrat das Gebäude. Zielstrebig ging er in die Folterkammer, wo auch Nicola war. Dieser erkannte sofort, dass mit seinem Meister im Moment nicht zu spaßen war: „Ihr wünscht, Meister?“ Der Angesprochene blickte von dem Gefolterten zu seinem Knecht und wieder zurück und fragte: „Was wird ihm vorgeworfen?“
„Das Übliche. Wilderei und Diebstahl auf Königsbesitz.“
„Wie lange bearbeitest du ihn schon?“
„Seit Sonnenaufgang, Herr.“
„Hier sind die neuen Urteile. Den Kerl übernehme ich“ dabei deutete er auf den Gefangenen und nahm die Peitsche die Nicola ihm reichte in Empfang, während dieser mit den Schriftstücken rasch den Raum verließ. Der Gefangene, der das Gespräch verfolgt hatte, blickte zu dem jungen Henker. Auch wenn sich offiziell niemand über die ansässige Henkersfamilie austauschen wollte, war allgemein bekannt, dass Léon keine Gnade kannte und rücksichtslos folterte wenn ihm danach war und er eine Möglichkeit suchte, Wut und Enttäuschung los zu werden.
Léon legte den Umhang ab und zog sein Hemd aus. Bevor er das erste Mal zuschlug, überprüfte er die Fesseln und zog sie nach. Das alles erledigte er routiniert und mit stoischer Ruhe, ohne ein Wort zu verlieren. Dann blickte er dem Mann ins Gesicht und fragte: „Du willst nicht gestehen?“ Wie erwartet wurde seine Frage verneint, auch wenn die Augen des Gefesselten Angst und Schmerzen offenbarten. Als er hinter dem Mann stand, griff er nach der Peitsche und zog die Lederriemen durch die andere Hand, bis er sie kraftvoll auf den Rücken des Verdächtigen niederknallen ließ. Léon legte alle negativen Gefühle, die er mit der Begegnung mit Elaine in Verbindung brachte in die Peitschenhiebe, so dass der Gefolterte seine Wut, Enttäuschung und auch den Hass zu spüren bekam, bei jedem Schlag aufschrie und zusammenzuckte. Schließlich gestand dieser die Vorwürfe, wurde von Léon losgemacht und von seinen Leuten abgeführt. Dann unterzeichnete er das Protokoll mit dem Geständnis und ließ Nicola wieder seine Arbeit aufnehmen. Sobald er draußen war, spürte er, dass es ihm deutlich besser ging als noch am Morgen. Entspannter bestieg er seinen Hengst und ritt seine alltägliche Runde vorbei am Pranger zum Marktplatz, auf dem die am nächsten Tag stattfindenden Hinrichtungen von den Knechten unter der Aufsicht einer seiner Brüder vorbereitet wurden. Viele Marktbesucher schauten neugierig auf die hölzerne Empore, jedoch fragte keiner nach. Als sein Bruder ihn entdeckte, winkte dieser ihm zu und Léon ritt zu ihm. „Grüß dich Léon. Babette bat mich, dir bescheid zu geben, dass du mal am Galgen vorbeischaust, ob die Überreste mittlerweile entfernt werden können, damit die nächsten hängen dürfen.“ Es war der typische Humor, der in seiner Sippe herrschte, um die Arbeit etwas zu erleichtern, mit dem Léon antwortete: „Haben die es so eilig, die Welt von oben zu sehen, dass sie schon fragen, wann sie denn dürfen?“ Beide mussten grinsen und sein Bruder sagte: „Wohl eher schauen sie sich alles von unten an, denn da oben will die doch gar keiner haben“ Dabei deutete er zum Himmel. „Werd ich machen, Brüderchen. Ich wollte sowieso schauen, ob da was ausgebessert werden musste.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich und ritt durch die sich bildende Gasse aus der Stadt hinaus. Babette war die jüngere Schwester. Beide schauten hin und wieder nach den Hinrichtungsplätzen und informierten die übrigen Familienmitglieder über die Zustände der Hingerichteten.
Der Galgen lag auf der anderen Seite der Stadt, so dass er erst die ganze Stadt durchqueren musste, bis er schließlich auf der Wiese ankam. Léon brauchte nur dem Geruch von verwesendem Fleisch folgen, um sein Ziel zu erreichen. Auch wenn er diesen Geruch nur zu gut kannte, hielt er es dieses mal nicht sehr lange aus, schaute sich die menschlichen Überreste kurz an und entfernte sich wieder von dem Ort.
Die Wiese war groß genug, um den Großteil der Einwohner aufzunehmen, wenn hier Hinrichtungen stattfanden. Es war der Platz, auf dem die Gefangenen zur Schau gestellt und in den Tod geschickt wurden, für die das Gericht Bestrafungen ausgesprochen hatte, die auf dem Marktplatz nicht durchführbar waren. Besonders häufig waren es Exekutionen, bei denen der Leichnam längere Zeit präsentiert wurde und dessen Verwesung Ungetier anlockte und Krankheiten begünstigte. Aber auch Verbrennungen fanden hier statt. Der in kurzer Zeit erreichbare Fluss hingegen brachte gute Voraussetzungen zum Ertränken mit. All diese Gegebenheiten trugen dazu bei, dass sogar kleinere Orte ihre Verurteilten an diesem Platz hinrichten ließen, was wiederum zu Gunsten Léons Familie geschah, die dann die Urteile vollstreckte.
Die nächsten Tage verliefen für Léon relativ ruhig, da seine Geschwister die meiste Arbeit machten, so dass er etwas Freizeit hatte. Er genoß die Stunden, die er mit seinem Pferd in Wald und Wiese verbringen konnte und vergaß Elaine und die damit verbundene Enttäuschung mehr und mehr. Es war schon dunkel, als er an dem Tag nach Hause kam, aber seine Familie unterhielt sich noch lebhaft über neue Insassen, die sie noch zu bearbeiten hatten. Es war unter den Henkersfamilie nicht üblich, dass man die Gefangenen bei Namen nannte, um eine gewissen Distanz zu wahren. So wurden weibliche Gefangene als Weib oder Hure bezeichnet und die männlichen als Bursche oder Kerl. Léon lauschte der Unterhaltung nur kurz, bis er mitreden konnte, und stellte fest, dass es doch wieder ein paar weibliche Angeklagte gab, was in der letzten Zeit nicht so häufig der Fall gewesen war. Es waren die üblichen Taten der Frauen: Diebstahl, Ehebruch und das Töten ungeborener Kinder, was die Richter oft als Kindsverderberei bezeichneten. Laut Nicola, der zu Besuch war, hatten fast alle gestanden, außer die, die ihr Ungeborenes getötet haben soll: „Ich gehe davon aus, dass sie morgen den Mund aufmachen wird, wenn ich ihre Brust mit der Zange bearbeiten werde.“ Für Nicola war diese Art von Arbeit normal und Léon sah, wie es in den Augen des Folterknechts glitzerte.

Wie Nicola voraus gesagt hatte, erreichte den Henker abends die Nachricht, dass das Weib gestanden hatte. Allerdings erst, als sein Folterknecht das heiße Metall angesetzt hatte. Laut seiner Aussage musste es sich dabei wohl um eine sehr starke Persönlichkeit handeln, da sie kaum Tränen vergossen und Schmerzensschreie von sich gegeben hatte.
Für Léon bedeutete das, dass er in den nächsten Tagen wohl mehrere Frauen hinzurichten hatte. Als er auf seinem Lager lag, versuchte er sich daran zu erinnern, wie es ihm bei der letzten Vollstreckung einer Frau ergangen war. Bei dem anderen Geschlecht war es nicht so einfach, so zu arbeiten, wie bei Männern.
Er musste als Scharfrichter eigentlich nur funktionieren, jedoch erschwerte oftmals das Unterbewusstsein die ganze Prozedur. Von einigen Kollegen hatte er schon gehört, dass sie kurz davor waren zu versagen und mehrere Versuche brauchten, um die Verurteilten hinzurichten. Ihm selber war das zwar noch nicht passiert, jedoch wusste er, dass jede Hinrichtung anders war und es durchaus passieren konnte. Bei derjenigen, die ihr Ungeborenes getötet hatte, machte er sich keine großen Sorgen, da er für solche Personen kein Verständnis hatte. Bei denen, die weniger schwere Straftaten begangen hatten, sah das aber schon wieder anders aus. Léon konnte nicht verstehen, wie Frauen ihrem Körper einfach so etwas antaten, nur um ein hilf- und wehrloses ungeborenes Geschöpf loszuwerden. Es juckte ihn in den Fingern, so ein Weibstück zu fragen, warum.
Tage später machte er sich tatsächlich auf den Weg zum Gefängnis, um seine Neugierde zu stillen. Durch die feuchten Gänge lief er zu der Kammer der Frau. Am Morgen hatte er die Urteile bekommen, so dass er mittlerweile ihren Namen kannte. Es beruhigte ihn, dass Elaine nicht auf der Liste stand, da er trotz allem noch an sie dachte. Seit dem sie fortgegangen war, hatte er nichts von ihr gehört und auch sonst gab es keine Hinweise auf ihr Verbleiben. Anders als sonst begab er sich dieses mal selber auf den Weg zu den Insassinnen um ihnen ihre Urteile und die Zeitpunkte der Vollstreckung zu überbringen. Nachdem er die weniger stark bestraften besucht hatte, ging er zu derjenigen, die am nächsten Tag hingerichtet werden sollte. Als er den Schlüssel im Schloss umdrehte und die Tür öffnete, schlug ihm der Geruch von Fäkalien, toten Tieren und verbranntem Fleisch entgegen. Léon unterdrückte den Würgreiz und stieß die Tür auf. In einer Ecke sah er die zusammengekauerte Person liegen: „Schau mich an!“ befahl er „ich werde dir mitteilen, wie du sterben wirst.“ Kraftlos erhob die Angesprochene den Kopf, ihre Arme hatte sie schützend vor die verbrannten Brüste gelegt. Das dunkle Haar war verklebt und durcheinander. Er sah ihren Schmerz und ihr Leid und erst dann erkannte er das Gesicht. Unsicher fragte er sie: „Elaine?“ Sie antwortete nicht, aber schaffte es, den Kopf zu schütteln. Léon war sich sicher, dass sie es war, jedoch irritierte ihn der Name auf der Liste. „Lüg mich nicht an Elaine! So gut bist du nicht, dass du mir was vormachen kannst!“ Schließlich schaffte sie es, zu antworten: „Nein, ich heiße nicht Elaine. Mein richtiger Name ist Elvire.“ Für den Henker war es ein Schock, aber vieles wurde ihm so klarer und er konnte alles zusammenfügen. Sein eigentliches Vorhaben, sie nach dem Grund zu fragen, trat im Moment in den Hintergrund. Es war der Alptraum eines jeden Scharfrichters: Eine Person hinzurichten, die man mehr oder weniger kannte und für die man doch insgeheim etwas empfand. Léon war kurz davor, wieder zu gehen, als er sich an das entsann, was ihn interessierte: „Du hast also dein Kind getötet. Korrekt?“ Elvire sank den Kopf und starrte auf den Boden: „Ja, ich hatte keine andere Wahl.“
„Man hat immer eine Wahl, Weib!“
„Nein, nicht immer. Auch Ihr, Meister, habt keine andere Möglichkeit, als das Urteil an mir zu vollstrecken.“
Er merkte, dass es ihr schwer fiel zu reden. „So teilt mir die Entscheidung des Richters und den Zeitpunkt mit und geht wieder eures Weges.“ In Léon kämpfte es. Einerseits hatte er seine Arbeit zu machen, andererseits hätte er ihr doch gerne geholfen. „Nun gut, aber zu erst sag mir, warum du das getan hast.“
„Wie Ihr wünscht, Meister.“ Schwerfällig richtete sie sich auf, so dass sie sich an die feuchte Wand lehnen konnte. „Ich wollte dem Kind ersparen, dass sein Vater mich mit Gewalt und gegen meinen Willen genommen hat. Er war übrigens wie Ihr ein Henker.“ Nun war es Léon, der auf den Boden starrte und kein Wort hervor brachte. Elvire atmete schwer: „Seinen Namen werdet Ihr von mir nicht erfahren, da er sonst meine Eltern und Geschwister töten wird.“ In dem Moment bewunderte er fast die Frau, die vor ihm in dem schimmeligen Stroh kniete, obwohl sie sich strafbar gemacht hatte. „Und nun teilt mir alles mit.“ Sie hatte sich wieder hingelegt und wartete. Noch einmal atmete er durch: „Tot durch das Schwert, zum höchsten Sonnenstand des morgigen Tages.“ Dann drehte er sich um, schaute sie ein weiteres Mal an, verschloss ihre Zelle und ging. Jetzt wusste er zwar, aus welchem Grund sie das getan hatte, jedoch war das wohl nur eine Ausnahme. Das ganze hatte ihn härter getroffen, als er erwartet hatte. Es war nicht die Tat an sich, sondern die Tatsache, dass sie es war, die er als Elaine kennen gelernt hatte.
Wortlos verließ er das Gebäude, wollte vieles hinter sich lassen. Es waren noch Stunden, bis der Tag vorüber ging, jedoch ritt er ziellos durch die Landschaft, so dass es schneller Abend wurde, als ihm lieb war.

Léon fand keinen Schlaf, sondern wälzte sich von einer Seite auf die andere und war froh, dass er die Kammer alleine bewohnte und daher niemand Fragen stellte. Am Vormittag verfolgte er aus Entfernung die Vorbereitungen und es dauerte auch nicht mehr lange, bis die ersten Zuschauer eintrafen. Mit dem Wetzstein fuhr er noch ein paar Mal über die Klinge des gefürchteten Richtschwertes und begab sich dann langsam zum Richtplatz, außerhalb der Stadt. Während sein Bruder ein paar Verbrecher erhängte und zwei Dieben jeweils eine Hand abschlug, ließ er sich noch einmal unter einem Baum nieder. Wie so oft war die anstehende Enthauptung der Höhepunkt des verordneten Gemetzels und ihm stand diese unschöne Ehre zu, das Ereignis zu dem zu machen, was der Pöbel erwartete.
Die vergangene Nacht hatte er überlegt, ob er die Enthauptung seinem Bruder überlassen sollte, hatte sich aber zum Schluss dagegen entschieden. Nicht, weil er ihm das nicht zutraute, sondern weil er wusste, dass sein Bruder noch größere Probleme mit der Hinrichtung von Frauen hatte, als er.

Der Platz wurde immer voller und auch die ersten Adelsleute trafen ein. Als schließlich der Richter das Feld betrat, wusste er, dass es in Kürze so weit sein würde. Daher begab er sich langsam auf das Podest und Nicola nährte sich mit der Verurteilten, die er durch die freiwerdende Gasse führte. Sobald sie entdeckt wurden, beschimpften sie Elvire und bewarfen sie mit verdorbenem Essen und Exkrementen. Es war das übliche Bild, was sich ihm bei solchen Verbrechen darbot. Einerseits verstand er das Verhalten des Volks aber andererseits tat Elvire ihm doch irgendwie Leid.
Je länger es dauerte, bis sein Knecht mit dem Mädchen auf das Podest kam, umso mehr spürte er Zweifel in sich aufkommen. Zweifel, die er sonst nicht hatte. Angst zu versagen und tief in seinem Inneren den stärker werdenden Schmerz, gleich jemanden zu verlieren, der ihm in einer Weise wohl mehr bedeutet hatte als ihm selber klar war. Léon stützte sich auf das vor ihm stehende Schwert und sah zu ihr. Nichts mehr erinnerte an die junge Frau, mit der er sich vielleicht eine Zukunft hätte vorstellen können. Er hatte ihr geholfen, was, wenn er das nicht getan hätte, ihm vielleicht diesen Moment erspart hätte. Die Söldner hätten sie womöglich ergriffen, oder sie wäre, falls sie nicht bei den Felsen übernachtet hätte weitergelaufen und ein anderer Henker musste das tun, was ihm bevorstand.
Es war theoretisch möglich, sie vor dem Tod zu bewahren, wenn er sie als Henker heiraten würde. Aber seine Familie würde etwas dagegen haben und, dass war seine größte Sorge, sie würde womöglich auch sein Kind töten. Er schloss die Augen, mochte sich das nicht weiter vorstellen und hörte, wie sie die Treppen empor stieg. Als er sie wieder öffnete, gab er Nicola das Zeichen, dass er Elvire in eine kniende Position brachte. Es folgte erneut die Urteilsverkündung mit allen Anklagepunkten, die Léon, der neben dem Richter, aber noch abseits von Elvire, stand, weitestgehend emotionslos entgegen nahm. Elvire kniete und betete für sich. Sie hatte ausdrücklich keinen Geistlichen in ihrer Nähe haben wolle, was für Léon ein Zeichen war, dass sie das, was sie getan hatte, nicht bereute, daher auch keine Schuldgefühle hatte und nicht um Vergebung bitten wollte.
Als sie fertig war, warf sie einen Blick zu Léon, der nun seinen Mantel ablegte und sein Schwert dem nun jubelnden Pöbel zeigte. Trotz der demütigenden Position zeigte Elvire noch Stärke und richtete sich im Oberkörper auf. Der Henker legte die Klinge an ihrem Hals um den möglichst idealen Punkt zu finden. „Es tut mir Leid, Léon, was ich dir antue.“ Das waren ihre letzten Worte, bis Léon schließlich ausholte und die scharfe Klinge durch Haut, Muskeln, Sehnen und Knochen glitt. Der Jubel der Zuschauer wurde immer lauter und als ihr kopfloser Oberkörper umkippte, fragte er noch den Richter: „Ist es wohl gerichtet, Herr?“ und bekam ein Kopfnicken und „Es ist wohl gerichtet“ als Antwort, was ihn vor dem Gesetz von der Tat frei sprach.
Das Aufräumen überließ er Nicola und ein paar weiteren Knechten, während er sich auf den Weg in den Wald machte. Kurz überlegte er, die Felsen aufzusuchen, entschied sich aber dagegen. Er atmete tief durch und mit seinen eigenen Worten „ich werde auch noch die Richtige finden“ trieb er sein Pferd an und stob davon.
 

Fearn Feorag

Mitglied
Ich würde mich freuen, wenn der ein oder andere sich den Text von mir mal zu Herzen nimmt, und mir Verbesserungsvorschläge macht. Also: Konstruktive Kritik bitte zu mir :)
 



 
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