Der Herbst der Katzen

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Cirias

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Der Herbst der Katzen



An einem kalten, späten Septembermorgen schien die Zeit plötzlich still zu stehen. Die Welt war in ihren eigenen Schatten gehüllt, während Adrian den Wagen auf der Straße hielt. Die Konturen der Dinge waren im flimmernden Staubschleier der Luft geronnen. Plötzlich, hinter einer langgezogenen Kurve, endete die Straße im Nichts. Ein Wagen tauchte direkt vor ihm auf, dahinter trugen die Bäume die Sonne in den Himmel. Adrian riss den Wagen auf die Gegenfahrbahn und bremste, während er das Lenkrad umklammert hielt. Sein Wagen kam auf dem Bankett zum Stehen. Er sah in den Rückspiegel. Eine Frau kniete auf dem Asphalt. Vor ihr auf dem Boden lag etwas. Adrian stieg aus. Erst jetzt sah er, dass die Straße immer weiter geradeaus in eine baumlose Ebene führte. Der Nebel löste sich zögernd auf. Die Frau blickte zu ihm. Adrian trat neben sie. Eine schwarze Katze lag auf der Straße. Es sah aus als würde sie schlafen, wäre da nicht der gebrochene Blick ihrer Augen und ihr unnatürlich verdrehter Kopf.
"Verdammt gefährlich, was Sie hier machen. Sie sollten sehen, dass Sie von der Straße kommen."
Die Frau nickte. Sie erhob sich, in einer einzigen grazilen Bewegung. Sie sah ihn an. Unter ihren schmalen Augen war die Wimperntusche zerlaufen. Ihre blassen Lippen zitterten. Während die Frau in den Wagen stieg, packte Adrian die Katze am Schwanz und zog sie über den Asphalt in das hohe Gras zwischen zwei Baumstämmen.
"Verdammt", murmelte er und blickte auf seine Hand, an der die dunklen Haare der Katze klebten. Die Frau saß regungslos hinter dem Steuer. Adrian öffnete die Tür.
"Geht es nicht?", fragte er mitfühlend.
Die Frau legte den Kopf zurück. Adrian sah sie an. Sie war sehr schön. Er schätzte sie auf Ende dreißig. Sie erregte ihn. Das Licht glänzte auf ihren hohen Wangenknochen. Ihr Rock war hoch über ihre Knie gerutscht und Adrian sah auf ein Paar makelloser schlanker Beine und die sanfte Wölbung ihrer Knie. Adrian half ihr beim Aussteigen. Er fuhr den Wagen ein paar Meter auf einen Forstweg. Das Wageninnere roch nach ihrem Parfüm. Die Frau stand unbewegt an der Stelle, wo die Katze auf der Straße verendet war.
"Und jetzt?", fragte er.
"Fahren Sie mich einfach nach Hause. Ich bitte Sie", sagte sie tonlos. Ihre hohe und schlanke Gestalt neigte sich ein wenig zu ihm. Adrian spürte ihren Atem in seinem Gesicht. Eine Weile standen sie schweigend auf der Straße. Lichtnetze waren über die Bäume gespannt. Der Wind trieb die Schatten des Lichts über ihr Gesicht. Wie kleine Flügel tanzten die Schimmer auf ihrer Haut, auf ihrem engen weißen Shirt, ihren nackten Beinen.
"Gut", sagte Adrian. Er war unterwegs an die Küste, wo er in seinem einwöchigem Urlaub das Haus seiner Tante auflösen wollte. Sie hatte ihm das Haus vor kurzem vermacht, mitsamt einem halben Dutzend Katzen. Daran musste Adrian in diesem Augenblick denken. Sie stiegen in seinen Wagen. Adrian wendete.
"Ich wohne in Zehlendorf", sagte die Frau.
"Was ist mit dem Wagen?"
"Morgen", sagte die Frau. "Ich hole ihn morgen. Ich hab das manchmal, und dann kann ich nicht mehr fahren."
Adrian wunderte sich, dass ihnen die ganze Zeit über kein Auto begegnet war. Erst als sie sich der Stadtgrenze näherten, schien sich die Welt wieder zu beleben. Seltsam, auch die Uhr in seinem Auto war stehen geblieben. Adrian sah die Frau an. Sie lächelte. Ihre Hand lag auf der Mittelkonsole, direkt neben seinem Oberschenkel.
"Ich heiße Mathilde", sagte sie, plötzlich sehr vertraut.
"Adrian", antwortete er mit rauer Stimme.
"Ich meine, ich habe das manchmal, also wenn so etwas passiert, dann kann ich nicht mehr weiterfahren. Ich frage mich dann was das Leben ist. Wir wissen niemals wie die Dinge ablaufen werden, was passieren wird, oder?"
"Überfahren Sie öfter Tiere?"
Sie lachte. Das hatte Adrian gar nicht beabsichtigt. Augenblicke später, so schien es ihm, standen sie vor Mathildes Wohnung, im dritten Stock eines Geschäftshauses am Mexicoplatz.
"Komm doch mit hoch", hatte sie ihn, unvermittelt ins vertraute Du wechselnd, am Ende der Fahrt gefragt. "Ich mag jetzt nicht allein sein." Adrian hatte sie angesehen. Winzige Funken sprühten in ihren blassgrünen Augen. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen und gab ihrem Gesicht einen unwiderstehlichen Ausdruck.
Mathilde öffnete die Tür. Ein sanfter Halbdämmer lag in den hohen Räumen der Altbauwohnung. Die Vorhänge waren zugezogen. Andeutungen von Licht schliefen im Raum. Mathilde verschwand in einem der Zimmer am Ende des Gangs. Ihre Bewegungen wirkten schwerelos, fast schwebend. Adrian wartete im Flur. In dem Wandspiegel sah er, wie Mathilde sich auszog. Mit sanften, geschmeidigen Bewegungen, so als täte sie es nicht für sich selbst sondern für jemand anderen. Als sie ihren Slip abgestreift hatte, streckte sich ihr nackter Körper zögernd, bis er gespannt, wie in der Bewegung erstarrt ihm zugewandt verharrte. Ihr langer, glatter Hals, die fließenden Bögen ihrer Schultern, ihre mädchenhaften festen Brüste und ihr flacher Bauch, der sanft in ihre Rippenbögen floss, all das lag schattenhaft und doch unaussprechlich deutlich vor seinem Blick. Es war als wäre er unvermutet auf eine Lichtung getreten und blickte nun auf ein fremdes Wild, etwas, für das seine Augen noch keinen Namen wussten. Sie rief ihn mit einem Blick ihrer sich langsam öffnenden Augen. Adrian betrat ihr Schlafzimmer. Ohne sie zu berühren, frierend vor Erregung, zog er sich aus. Irgendwo zwischen den hohen Fenstern verebbten die Laute. Ein stummes Rauschen füllte den Raum. Mathilde nahm Adrian an der Hand. Sie führte ihn zu einem von Spiegeln umgebenen Sessel. Ihre zierlichen kleinen Hände glitten zwischen seine Beine und streichelten ihn, während sie mit ihren Zähnen in seine Lippen biss, tastend, fordernd, bis ihre blutig gewordenen Zungen einander umkreisten und in ihren Mündern zärtlich miteinander rangen. Mathilde presste ihn auf den Sessel. Adrians Hände glitten suchend über ihren Körper, den er zu halten glaubte und doch wieder verlor. Wie eine Katze entwand sich Mathilde ihm, bevor sie sich mit einem tiefen Seufzer auf ihn hockte. Sie wandte ihm den Rücken zu. In den Spiegeln vervielfachten sich ihre Bewegungen, sein sich hebender und senkender Unterkörper, ihr kreisendes Becken und ihr Hals, der sich zu ihm bog, wenn sie sich küssten. Ihre Bewegungen waren von unwirklicher Schönheit. Mathildes Körper schien ihn zu bändigen, herauszufordern, ihn mit einer fremden Sprache zu verwirren. Sie war lautlos. Alles was Adrian hörte, schien nur von seinen Bewegungen auszugehen. Mathilde bewegte sich katzengleich. Während Adrian seine Hände auf ihre Brüste presste, bäumte sie sich auf, krallte ihre Fingerspitzen in seine Haut und floss zitternd in seinen Körper.


Es war Mittag. Mathilde und Adrian lagen auf dem Bett. Nach Augenblicken der Ruhe weckten ihre Lippen, ihre Hände einander und das lautlose, schattenhafte Ringen ihrer Körper schlug von neuem wie das Ticken einer Uhr gegen ein unsichtbares Ufer. Mathilde sprach kein Wort. Mit einer Aufwärtsbewegung ihres Kopfes und einem verlangenden Blick aus ihren schmalen Augen verabschiedete sie ihn, als der Tag seine langen Schatten durch die Vorhänge schickte. Als Adrian unten an der Haustür angelangt war, öffnete sich oben eine Tür. Jemand stürzte mit raschen Schritten die Stufen hinab. Atemlos und nackt stand Mathilde vor ihm. Sie schlang die Arme um seinen Hals.
"Ich will dich wiedersehen. Morgen abend um sieben?"
Adrian nickte ohne nachzudenken. Ihr Körper roch nach Liebe und dem verblassenden Hauch ihres Parfüms. Sie küsste ihn. Die Haustür wurde geöffnet und ein älteres Ehepaar trat in den Flur.
"Guten Abend", sagte Mathilde. Mit einer einzigen Drehung wandte sie sich um. Mit ihren langen Beinen nahm sie zwei Stufen auf einmal.
"Hat sie nicht einen herrlichen Arsch?", fragte Adrian.

Adrian versuchte zu verstehen, was mit ihm geschah. Es hatte nicht nur mit Mathilde zu tun, es hatte mit einem Punkt in der Zeit und vielleicht auch im Raum zu tun, dort wo das Bewusstsein möglicherweise wie ein Schiff verankert war. Adrian war besessen von Mathilde. In der ersten Woche nach ihrer Begegnung war er jeden Tag am frühen Morgen an die Küste gefahren, hatte dort den ganzen Tag gearbeitet und war nachmittags zurückgefahren. Er wollte das Haus verkaufen, es bedeutete ihm nichts. Als er wieder ins Institut musste, sahen er und Mathilde sich noch mehrmals in der Woche. Oft trafen sie sich in der Mittagspause, um miteinander zu schlafen.
Mathilde war der Himmel in den leeren Fenstern, das Leben und all das wonach er glaubte sich gesehnt zu haben. Mathilde war seine Zukunft und seine Gegenwart, die es nicht gab, weil es Mathilde gab.

An einem Regennachmittag im November lagen sie nackt nebeneinander im Bett. Mathilde wehrte Adrians Zärtlichkeiten sanft ab.
"Du musst etwas für mich tun", sagte sie tonlos in die Stille. Adrian schwieg. Plötzlich hörte man den Regen gegen die Fenster prasseln.
"Du musst jemanden für mich töten", sagte Mathilde.
"Bist du verrückt?"
Adrian schnellte hoch. Mathilde zog ihn sanft zurück.
"Narr! Ich habe dir noch so vieles zu zeigen...Es soll nicht zu deinem Nachteil sein..."
Ihre Lippen wanderten über seine Brust. Mathildes Zunge umspielte seinen Bauchnabel. Ihre Fingernägel zerkratzten seine Brust, seine Lenden. Adrian schloß die Augen.
Mathilde wiederholte ihre Bitte bei jeder Begegnung, still und beharrlich. Adrian gab seinen Widerstand auf. Sie erzählte ihm alles. Und Adrian verstand.

Mark, ihr Stiefbruder, hatte sie vom zwölften Lebensjahr an vergewaltigt. Er hatte sie geschlagen und gedemütigt. Eines Tages hatte er ihre geliebte Katze vergiftet. Sie war in Mathildes Armen qualvoll verendet. Und vor einigen Jahren hatte er sie mit einem juristischen Trick um ihr Erbe gebracht. Mathilde hatte beschlossen zu sterben. Aber auch das wusste Mark zu verhindern. Er ließ sie nach dem ersten Suizidversuch in eine Klinik einweisen.

"Töte ihn. Töte ihn für mich", bat Mathilde Adrian mit Tränen in den Augen. Sie bat ihn in seinen schwächsten und glücklichsten Momenten, von denen es bisher nicht viele in seinem Leben gegeben hatte. Bald erschien ihm ihre Bitte als das Selbstverständlichste, so als würde sie ihn zum Einkaufen um die Ecke schicken. Er hasste Mark, obwohl er ihm nie begegnet war.
Es war nicht schwer an Mark heranzukommen. Er arbeitete als Immobilienmakler. Die Geschäfte gingen laut Mathilde schlecht. Adrian bot Mark das Haus seiner Tante zum Verkauf an. Sie verabredeten einen Termin für die letzte Novemberwoche. Mathildes Zärtlichkeit wuchs von Tag zu Tag.
"Es erregt mich, dass du für mich töten wirst", flüsterte sie in seinen Körper, bevor sie lautlos über ihn glitt. Schließlich war Adrian stolz, etwas solch großes für sie tun zu können.

Von der Liebe ausgezehrt und eine kalte Wut im Herzen nahm er an einem nebligen Novemberabend den Zug nach D. Das Haus lag auf einer Dünenanhöhe abseits des kleinen Ortes. Von den oberen Fenstern blickte man auf das Meer, das wie ein ruhiger See aus der milchigen Finsternis starrte. Niemand hatte sein Kommen bemerkt. Adrian bereitete alles vor. Es störte ihn, dass die Katzen noch immer im Haus waren, aber seine Tante hatte das testamentarisch so verfügt. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft sah täglich nach ihnen. Adrian zählte nur fünf. Waren es nicht sechs gewesen?
Er legte sich früh schlafen. Nachts strichen die Katzen um sein Bett. Wenn sie sich vor ihn hockten und ihn fixierten, dann war es als ob Mathilde ihn anblickte. Jeden Augenblick erwartete er die Berührung ihrer weichen Haut, die sich an ihn schmiegte. Adrian war glücklich, ihrer Liebe ein Opfer bringen zu dürfen.

Er schlief unruhig. Am nächsten Morgen stand er früh auf, bereitete den Kaffee und wartete. Eine blasse Nebelwand stand über dem Meer. Der Strand leuchtete fahl. Max fuhr pünktlich vor. Er musterte das Haus aufmerksam. Adrian öffnete ihm die Tür, bevor er klingeln konnte. Max war groß und gutaussehend. Er war unverschämt selbstgefällig, was Adrian außerordentlich beruhigte. Sie besichtigten das Haus. Danach saßen sie in der Küche. Max trank den Kaffee in kurzen, hastigen Zügen.
" Bevor wir zu den Einzelheiten kommen, Sie erwähnten da noch ein anderes Objekt, draußen auf eine der Inseln?"
Schweißperlen glänzten über Marks Oberlippe. Adrian verstand es, seine Neugier zu wecken. Sie fuhren zum Hafen, wo Mark das Boot des vor Jahren verstorbenen Onkels noch gestern abend startklar gemacht hatte. Mark konnte nicht schwimmen. Er klammerte sich sichtlich angestrengt an die Reling des kleinen Motorboots, das Adrian sicher durch die Dünung und den Nebel steuerte. Der kleine Sporthafen war menschenleer und die See lag unbewegt wie ein weites Feld vor ihnen. Das Schlafmittel, das Adrian im Kaffee aufgelöst hatte, begann zu wirken. Max kämpfte mit der Müdigkeit. Als das Boot das offene Meer erreicht hatte, sank er zu Boden. Adrian stoppte das Boot. Er befreite Mark von seiner Schwimmweste, zog ihn zur Reling und wuchtete seinen schweren Körper über die Metallstreben, wobei sich das Boot bedrohlich zur Seite neigte. Den Kopf voran stieß er Mark ins Meer. Einen Augenblick schien es, als wäre Mark bei Bewusstsein, aber vielleicht war das auch nur die Bewegung der Wellen. Adrian wendete das Boot. Er fuhr in einem weiten Bogen über das Meer zu dem Küstenabschnitt, wo das Haus seiner Tante stand. Er ließ das Boot langsam voll Wasser laufen, schlüpfte in seinen Neoprenanzug und band sich den Rucksack mit seinen Sachen um die Hüfte. Vom Bug des sinkenden Boots aus glitt er in das kalte Wasser. Der Nebel schwebte direkt über dem Wasser, ein Meer der Stille, aus dem die winzigen Gischtkämme, die seine Bewegungen verursachten, wie zerbrochenes Glas aufschimmerten. Erschöpft stieg Adrian ans Ufer. Der Nebel war wie ein Verbündeter, man sah keine hundert Meter weit. Er schlüpfte aus dem Anzug, zog sich rasch an und schlich unbemerkt ins Haus. Adrian beseitigte alle Spuren, legte einen Zettel für Max auf den Küchentisch, in dem er ihn bat, die Schlüssel nach der Besichtigung wieder in den Briefkasten zu werfen. Außerdem fanden sich auf einem weiteren Blatt genaue Instruktionen zur Nutzung des Bootes. Adrian verließ das Haus durch den Hintereingang. In seiner Reisetasche hockte eine der Katzen, eine gefleckte mit grünen Augen. Er wollte Mathilde damit überraschen. Zu Fuß durchquerte er das angrenzende Waldstück und bestieg eine Stunde später einen Zug, der ihn zurück nach Berlin brachte. Adrian war zufrieden. Selbst wenn ihn jemand gesehen hätte, so gab es noch Plan B. Mathilde war sein Alibi. Er war das ganze Wochenende bei ihr gewesen. Ein Kollege hatte ihn am Freitag selbst zu ihrer Wohnung gefahren, da Adrian seinen Wagen am Morgen in die Werkstatt gebracht hatte. Auf dem Anrufbeantworter von Max hatte Adrian weitere Hinweise für die Besichtigung des Hauses hinterlassen. Alles schien perfekt.

Mathilde erwartete ihn erregt. Ihre Augen glänzten. Unter dem schwarzen Bademantel war sie nackt. Wortlos zog sie ihn aus. Sie brauchte keine Erklärungen von ihm. Sie sah den dunklen Schimmer in seinen Augen, sah ihn stolz und aufrecht vor ihr stehen, weil er für sie getötet hatte. Selbst sein Schwanz erschien ihr in diesen Augenblicken größer und prächtiger, als sie ihn mit ihren Lippen zärtlich zu umfassen begann. Zum ersten Mal konnte er Mathilde beim Sex hören. Während sie unter ihm lag, stiegen tiefe, in ihrem Innern widerhallende Laute aus ihrem Körper, so wie eine Katze behaglich schnurrte, wenn sie sich wohl fühlte. Mathilde entließ ihn mit einem eigenartigen Lächeln. Ihre Katzenaugen wanderten über sein Gesicht, dann wandte sie sich ab und verschwand lautlos in der Wohnung.
Sie hatte Adrian gebeten, die nächsten vierzehn Tage jeden Kontakt zwischen ihnen zu vermeiden.
Erst geschah nichts. Nur das Mädchen rief an. Jetzt sei schon die zweite Katze verschwunden. Adrian beruhigte sie. Dann, nach ein paar Tagen, tauchte die Polizei bei Adrian auf. Er war auf ihre Fragen vorbereitet. Mathilde schien die Angaben, die er machte zu bestätigen. Allerdings galt Max auch weiterhin nur als vermisst, denn seine Leiche und das Boot wurden nicht gefunden. Die Suche konzentrierte sich auf das Eiland, auf dem der Ferienbungalow der Tante stand. Adrian beschlichen Zweifel. Hatte er überlebt? Warum meldete er sich dann nicht? Adrian hoffte, dass das Meer nicht viel von Max Leiche übriglassen würde, damit man keine Rückstände des Schlafmittels mehr fand.
Eines Tages warteten zwei Beamte der Kripo vor dem Institut auf ihn. Zusammen gingen sie in ein Cafe um die Ecke. Unvermittelt fragte der eine der beiden, während der andere ihn beobachtete: "Mathilde Berndorf ist verschwunden. Können Sie uns etwas über ihren Aufenthaltsort sagen? Sie waren doch...befreundet?"
Adrian versuchte ruhig zu bleiben.
"Verschwunden? Wir hatten länger keinen Kontakt. Es ist keine richtige Beziehung, wenn Sie das meinen. Ich weiß nicht, wo sie ist."
"Sie könnten sich nicht vorstellen wo sie ist? Sie wussten doch, dass der Verschwundene ihr Ex-Mann war? Und Sie wollten Max Gehrke Ihr Haus verkaufen. Irgendetwas an der Sache passt nicht. "
Adrian fuhr zusammen, aber er schwieg und zuckte bedauernd mit den Schultern. Die Beamten stellten ihm noch eine Reihe von Fragen, aber offensichtlich waren sie nur daran interessiert, ob er etwas mit dem Verschwinden von Mathilde zu tun hatte.
"Rufen Sie uns an, wenn Ihnen noch was einfällt."

Adrian versuchte Mathilde zu erreichen. Er fuhr zu ihrer Wohnung, aber er hatte keinen Schlüssel. In seinen Gedanken tauchte immer wieder das eine Wort auf: "Ex-Mann"... Was war das für ein Spiel, in dem er unfreiwillig die tragende Rolle übernommen hatte? Adrian schlief nicht mehr. Verzweifelt versuchte er der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Wenn er abends in seine Wohnung zurückkehrte, wartete die Katze auf ihn. Sie sah ihn mit Mathildes Augen an.
Zehn Tage später wurde die Leiche von Max Gehrke gefunden. Mathilde erbte sein Vermögen, nachdem alle Zweifel am Verschulden seines Todes ausgeräumt war. In den Zeitungen war der plötzliche Tod des Immobilienmaklers ein Unfall.
Mathilde kehrte nicht mehr nach Berlin zurück. Trotz aller Nachforschungen fand Adrian ihren Aufenthaltsort nicht heraus. Einmal glaubte er sie gesehen zu haben. Sein Zug stand in einem Bahnhof in Norddeutschland und durch die Scheiben sah er auf den Bahnsteig. Eine Frau bewegte sich an den Tafeln mit den Abfahrtsplänen vorbei auf ihn zu. Ihr Gang hatte etwas Schwebendes. Es sah aus, als würden ihre Füße den Boden gar nicht berühren. So wie Mathilde schien die Fremde leise und federnd zu gehen, so, als gäbe es keinen Weg. Als sie für einen Moment aufsah, lag der erinnerungslose Blick ihrer schmalen grünen Augen kalt auf seinem Gesicht, der Schatten einer Erinnerung aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit.

Das Mädchen ließ nicht locker. Sie meldete das Verschwinden der Katzen der Polizei und machte die Aussage, dass am Vorabend des Besuchs von Max Gehrke jemand im Haus gewesen sei. Das Haus wurde erneut durchsucht. Unter dem Nachttisch im Schlafzimmer fand man eine Bahnfahrkarte von Berlin nach D. für den Tag vor dem Verschwinden des Maklers.
Die Polizei durchsuchte die Wohnung von Adrian. Sie fanden die Katze und den Anzug. Das waren keine Beweise, aber unter den beharrlichen Fragen der Beamten brach Adrian zusammen. Er gestand. Mathilde wurde des Vergehens der Anstiftung zum Mord angeklagt. Im Gerichtssaal begegneten sich Adrian und Mathilde das erste und das letzte Mal wieder. Beide wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Katze wurde in das Haus am Meer zurückgebracht. In Adrians einsamen Träumen saß die Katze oft an seinem Bett. Ihre Augen blickten ihn stumm an, so als wollte sie ihm noch etwas sagen.
 
I

Ivor Joseph

Gast
Hallo Cirias,
sehr gerne gelesen, Deine Texte gehören zu meinen liebsten auf der LL.
Auch wenn du eine Überfrachtung mit Metaphern betreibst, die außerdem nicht immer funktionieren (Die Welt war in ihren eigenen Schatten gehüllt, flimmernden Staubschleier der Luft) und den Lesefluss stellenweise (und sich gegenseitig) behindern.

Wieviel besser wäre es zu sagen:

> An einem kalten, späten Septembermorgen schien die Zeit plötzlich still
> zu stehen. Die Welt war im Schatten gehüllt, Bäume trugen die Sonne in
> den Himmel. Ein Wagen tauchte direkt vor ihm auf. Adrian riss das
> Lenkrad zur Seite und kam mit Ruck auf einem Bankett zum Stehen. Vor
> der Frau, die auf dem Asphaltboden kniete lag etwas: Eine schwarze
> Katze.

Usw., usw.

Liebe Grüße, Ivor
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Schade eigentlich, dass die beiden gefasst werden. Das macht die schön stimmungsvolle, melancholische Geschichte irgendwie zu einem Krimi, wie man ihn schon tausendmal im Fernsehen geboten bekam.
 

visco

Mitglied
Hallo Cirias,

die bildhafte Erzählweise verleiht dem Text das gewisse Etwas. Ich habe ihn über weite Strecken mit großem Vergnügen gelesen. Bis zu dem Mord an dem Immobilienmakler Max / Mark, der mir zu lapidar geschildert erscheint wie ein nötiges Übel, fühlte ich mich beim Lesen gut aufgehoben.

Von da ab bis zum Ende habe ich nur gelesen, um zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht, doch der Zauber war verflogen, als wäre dir unterwegs das Pulver ausgegangen. Im letzten Teil hetzt du durch die Geschichte, als hättest du die Lust am Schreiben veloren. Auch inhaltlich wird die Geschichte dünner. Da wird zeitlich gerafft, erklärt, zusammengefasst, Wichtiges nur noch am Rande erwähnt und Aus.

Max trank den Kaffee in kurzen, hastigen Zügen.
[..]
Schweißperlen glänzten über Marks Oberlippe. Adrian verstand es, seine Neugier zu wecken. Sie fuhren zum Hafen, wo Mark das Boot des vor Jahren verstorbenen Onkels noch gestern abend startklar gemacht hatte.
[..]
Das Mädchen ließ nicht locker. Sie meldete das Verschwinden der Katzen der Polizei und machte die Aussage, dass am Vorabend des Besuchs von Max Gehrke jemand im Haus gewesen sei.
Hm, heißt Mathildes geschiedener Ehemann jetzt Max Gehrke oder Mark?
Und hat tatsächlich Mark das Boot von Adrians verstorbenem Onkel startklar gemacht, oder doch vielleicht Adrian?


Weshalb wurde Mathilde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt? Der angeblichen Anklage "Anstiftung zum Mord" liegt lediglich Adrians Aussage zugrunde. Wie wir wissen, hat Mathilde Adrian belogen (Max / Mark angeblich ihr Stiefbruder, etc). Durch Adrians konfuse Aussage dürfte ihr die Anstiftung kaum nachzuweisen sein, zumal Eifersucht als starkes Motiv gilt.


Überhaupt bin ich vom Ende, also der Auflösung etwas enttäuscht. Ich schließe mich jon an. Wieso mussten sie überhaupt (beide) geschnappt werden?


Statt nur darüber zu meckern hier ein Gedankenspiel:
Was wäre, wenn Max / Mark nicht Mathildes geschiedener Ehemann wäre, sondern die beiden lediglich in Trennung lebten? (Steigerung: eventuell hielt Mathilde sich vor ihm versteckt?)
Mathilde trägt sich mit Suizidabsichten, ok. Dass sie noch am Leben ist, mag einen Klinikaufenthalt zu verdanken sein. Oder welchen Grund könnte es sonst geben?
Welchen Plan verfolgt Mathilde?

Ich denke da zB an folgendes:
Nach dem Tode geht ein etwaiges Vermögen entweder testamentarisch bzw gesetzlich geregelt an die Erben. Selbst ein Erbe 1. Grades verliert allerdings seinen Erbanspruch, falls er schuldhaft am Tod des Erblassers ist.
Im Falle von Mathildes Tod vor der Scheidung gerät sofort der verlassene Ehemann in Verdacht.

Nehmen wir an, Mathilde ist vermögend und hat dieses Vermögen mit in die Ehe gebracht. Sie hat Angst vor ihrem Mann, der sie geschlagen hat. Sie hat ihn verlassen und versteckt sich vor ihm. Sie gönnt ihm nicht das Schwarze unter dem Fingernagel. Eventuell haben die beiden ein Kind?
Die Jahre der Trennung, bis die Scheidung auch ohne Zustimmung des Partners vollzogen werden kann, will Mathilde nicht abwarten müssen. Wie schon früher trägt sie sich mit Selbstmordgedanken. Doch davon würde ihr Mann profitieren, was sie auf keinen Fall will. Ihr wäre am liebsten, es sähe so aus, als hätte ihr Mann erst sie umgebracht und anschließend sich selbst.

Damit das gelingt, müssen sich die beiden bloß nachweislich kurz vor ihrem Tod sehen.
Sie scheidet dann auf die von ihr gewählte Weise aus dem Leben, und bald darauf tötet ihr Liebhaber Adrian ihren Ehemann, was auch für einen Selbstmord (Familientragödie) gehalten werden kann. Oder Adrian wird gefasst und für die vermeintlich aus Eifersucht begangene Tat belangt. Seine "Belohnung" hat er ja im Vorfeld bereits erhalten.


Ich weiß, du wolltest den Katzen eine Schlüsselrolle zukommen lassen. Vielleicht liefern die in Max / Marks Atemwegen gefundenen und an seiner Kleidung anhaftenden Katzenhaare den Beweis, dass er kurz vor seinem Tod in Mathildes Wohnung gewesen ist (sofern sie eine Katze hat, der diese Haare zuzuordnen sind)? Oder bei beiden, Mathilde und ihrem Mann, werden Katzenhaare und andere Spuren entdeckt, die auf einen gleichzeitigen Aufenthalt im Haus von Adrians Tante hindeuten?


Ich hoffe, du hältst mich nicht für vermessen. Immerhin unterrichtest du laut deines Profils andere in Kreativem Schreiben. Wenn dir meine Anregungen nicht zusagen, verwirf sie einfach.

Frohes Gelingen weiterhin wünscht
Viktoria
 



 
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