Der Hexenflug

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Jarolep

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Der Hexenflug

Weißt du, wie sich ein Vogel anfühlt, den man zwischen den Beinen hat?

Du hältst inne, schluckst den Klumpen im Hals herunter, schweigst. „Pervers!“ – lese ich in deinen Augen. Immerhin hast du versucht, Dir das vorzustellen.

Weißt du denn oder nicht?


… Ich streifte seinen Rücken, glitt mit meinen Fingern über sein schwarzes Federkleid, immer und immer wieder. Sanft, schwerelos, wie ein kurzer Hauch der schüchternen Brise, die sich in noch nacktem Geäst der Wälder verliert und hoffen lässt, dass der Frühling nicht mehr so unendlich weit ist. Und warm. Diese beruhigende Wärme kam aus den Tiefen seines kräftigen Körpers und auch an der Oberfläche versiegte sie nicht. Welche unglaubliche Quelle nährte dieses Tier und ließ ihn langsam und bedächtig aufsteigen, immer höher und höher, die riesigen Flügel schwingend den tragenden Luftstrom erreichen und dann nur noch majestätisch über die verlassene Erde gleiten? Unerreichbar, unbesiegbar. Das war ein Rabe, der mich trug. In seiner Erhabenheit und seiner Demut hat er mich empfangen, hielt still und ließ mich an sich heran. Wortlos. Er stellte keine Fragen und brauchte keine Antworten. Das tiefe Blau schimmerte im Schwarz seiner Feder, silbern glänzten die Flügel im Licht des frühen Morgens, wenn die Stunde der Sonne noch nicht geschlagen hat, der Himmel aber schon auf seine Herrin wartet und in seinem gläsernen Verlangen erzittert. Das war ein Rabe und er war weich.

Nicht so weich, wie es ein Wattebausch ist, mit dem die Frauen nach dem langen sinnlosen Tag ihre Frust und Müdigkeit vom Gesicht abkratzen und der die dunklen Schlieren der Wimperntusche auf fahler Haut hinterlässt. Die dann schnellstens weggespült werden, damit die Familie sie nicht sieht.

Aber die roten Augen bleiben.


… Eine Stadt warf sich über die Erde, dort, weit unten. Wie ein alter, verschlissener, aber kostbarer Teppich legte sie sich über Felder und Hügel. Und der Horizont schien immer näher zu kommen in diesem gewaltigen und lautlosen Flug. Immer näher wurde der grelle rotgoldene Streifen, der den Türkis über mir erschütterte und zu zerbrechen drohte. In dieses tiefe schattige Gold hüllten sich auch die Dächer der Stadt und die Kuppeln ihrer Kathedralen. Nein, sie strahlte nicht, diese Stadt ohne Namen. Sie loderte, die Formen schienen sich zu bewegen, sie zerfielen und setzten sich wieder neu zusammen. Die Geraden verblichen, die Kurven traten hervor und bildeten wundersame Muster, und prägten diese windstille ewige Dämmerung mit ihrem allgegenwärtigen Licht. Die Rinnsale der Dunkelheit flohen von den Straßen, zerflossen in Kellern und Gassen, verschwanden, wurden bedeutungslos, ein Nichts. Manche Fenster leuchteten auf, oder brannten die Lampen schon die ganze Nacht lang, als kalte Schemen die einst weißen Wände durchstreiften und die Angst die Welt regierte? Die Angst, nicht mehr aufzuwachen… oder aufzuwachen und diesem gestaltlosen Tun zu begegnen, das unseren Geist verstummen lässt, die Lust raubt und uns in die Gassen verbannt, wo die Reste jener Dunkelheit kleben. Ich wusste es nicht. Ich wollte es nicht wissen. Denn ein anderer Weg war der meine.

Was in den Fenstern war, willst du wissen? Menschen. Denke ich jedenfalls. Vielleicht saßen sie genau wie du am Tisch und ließen ihre Gedanken vorbeiziehen. Genau wie du, wollten sie vielleicht verstehen und konnten es nicht, und ließen es sein.

Also lassen wir es auch.


… Die Stadt blieb zurück, ich drehte mich nicht um. Das Meer breitete sich vor mir, mit seinen bleiernen Gewässern und seiner Trägheit. Seltsam, aber das Meer war nicht in die Strahlen der unsichtbaren Sonne getaucht, keine Schatten legten sich über ihn. Die gefrorenen Wellen warteten auf den Atemzug der Gezeiten und sehnten sich danach. Ihr Schicksal war kommen und gehen, geben und nehmen: die Welt, die Zeit. Und dieses erstarrte Meer glich einem dunklen Vogel, schrecklich in seiner Macht, wenn er die Flügel ausbreitet und sich erhebt, und die Fesseln der Irdigkeit sprengt… Doch unser Flug ging nicht aufs Meer hinaus. Der Rabe neigte sich zur Seite, wurde langsamer und landete schließlich in einem Wald. Ich spürte den Staub unter meinen Füßen und die trockenen sonnengebleichten Strohhalme, einen schwachen Widerschein jener würdevollen Gräser längst vergessener Zeiten. Es war nichts in diesem Wald, was anders war, als ich es gewohnt war. Dieselben grazilen Kiefern, dieselbe harzige Duft und dasselbe Salz auf den Lippen, das einem das nahe Meer schenkt. Ich blicke nach oben, den Himmel suchend, der sich immer roter färbte und sich immer mehr mit Türkis füllte, unendlicher wurde und alles verschlang. Und vor den Kulissen dieser beginnenden Ekstase des hereinbrechenden Tages sah ich es… In den Ästen der fast schwebenden Kiefern funkelten und freuten sich auf mich Millionen kleiner und schlichter Blumen, deren Farbe der reine Purpur war. Und wie aus feinem Porzellan gefertigt, zerbrechlich, durchscheinend, strahlten sie ihr Purpur in die Welt. Und nun wusste ich, worauf alles gewartet hatte: die goldenen Nebelschwaden der Stadt, das matte Metall des Wassers, die blauen Splitter des Himmels, zerworfen auf glühenden Kohlen der Sonnenstrahlen. Und der Rabe, der mich hierhin geführt hatte und nun stumm dasaß, fast gelangweilt und doch angespannt, alles wissend und doch staunend. Der Augenblick, in dem all das, was mich umgab, in diesem leuchtenden Purpur unscheinbarer Blumen unterging, wieder auferstand und Eins wurde, kam. Und das Leben begann…

Eigentlich würde ich dich auf diese Reise mitnehmen. Aber du blickst nach oben und siehst nur die Stromleitungen und die Masten, die sie tragen, und keinen Raben.

Also denke ich, zu zweit würden wir für den Vogel wohl zu schwer sein.
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Jarolep,

auch diese Geschichte von Dir ist fantastisch geschrieben.

Die Art, wie Du mit Deinem Eingangssatz und der folgenden Frage den Leser bei den Gedanken packst, das zieht mich unwillkürlich in den Bann der Geschichte. Sie zeugt von Stärke, die im Verlauf des Textes hält, was sie eingangs verspricht.

Weißt du, wie sich ein Vogel anfühlt, den man zwischen den Beinen hat?

Du hältst inne, schluckst den Klumpen im Hals herunter, schweigst. „Pervers!“ – lese ich in deinen Augen. Immerhin hast du versucht, Dir das vorzustellen.
Ich freue mich, mehr von Dir zu lesen.

Schöne Grüße

Elke
 



 
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