Der Himmel vor der Hölle

Markus Veith

Mitglied
Der Himmel vor der Hölle

Ich war auf ihren Besuch nicht vorbereitet. So spät erwarte ich niemanden mehr.
Auf den ersten Blick wirkte sie wie Mitte/Ende dreißig, vielleicht auch älter. Kurze Haare, rundes Gesicht, recht dünn. Nicht hübsch, aber durchaus sympathisch. Sie trug eine kleine Reisetasche mit sich und war ganz unterkühlt. Ihre Jacke war für die Jahreszeit viel zu dünn.
Ich solle die Störung entschuldigen und es sei ihr etwas peinlich, druckste sie herum, aber sie sei gerade auf der Durchreise, sozusagen, und ... na ja, ich müsse wissen, sie habe hier mal gewohnt. Zeitweise. Früher, als Kind. In der Wohnung, in der ich nun wohne. Vor zwanzig Jahren. Und ... ob sie sich bei mir einmal umschauen dürfe. Natürlich nur, wenn ich nichts dagegen hätte. Ansonsten wäre es völlig in Ordnung, könne sie verstehen, dann ginge sie halt wieder und ... aber vielleicht ... bitte, nur ein Mal kurz, sie sei auch sofort wieder weg. Sie nannte mir ihren Namen und ohne dass ich danach gefragt hätte, zeigte sie mir ihren Ausweis zur Beglaubigung.
Ich ließ sie herein. Ich bin nicht argwöhnisch. Was sollte schon passieren? Wertsachen besitze ich kaum und Geld war auch nicht im Haus. Als sie an mir vorbei den kleinen Flur betrat, ging eine Veränderung mit ihr vor. Mir war, als atme sie ruhiger, nicht mehr so verkrampft und nervös, als habe sie etwas über ihrer dünnen Jacke getragen, was sie nun in meiner Diele ablegte. Da ich gerade Tee gemacht hatte, bot ich ihr welchen an. Sie umklammerte die Tasse mit zitternden Händen und hatte Mühe nichts überschwappen zu lassen. Ich führte sie ins Wohnzimmer.
"Wie lange haben sie denn hier gewohnt?" fragte ich.
"Oh, ich habe hier nicht wirklich gewohnt. Ich war nur oft zur Obhut hier. Bei meiner Großmutter. Die lebte hier. Eigentlich wohnte ich bei meinem Vater. Am anderen Ende der Stadt."
"Und wie alt waren Sie da."
"Als Oma starb war ich vierzehn." Sie lächelte. Doch schien es, als habe sie dabei auf ein Pfefferkorn gebissen. "Schön haben Sie es sich eingerichtet." Ich dankte. "Meine Oma hatte so einen alten Schrank. Der stand dort, wo auch Ihrer steht. Mit ganz vielen Kerzen obendrauf. Bis zuletzt waren die eingepackt. Oma hätte sie niemals angezündet. Und dort in der Ecke stand eine große, schwere Nachtspeicherheizung. Die habe ich geliebt. So schön warme Kacheln. Und da war ihre Kommode mit dem Radiorekorder, den ihr Papa mal geschenkt hat. O wei, ich weiß noch. Roy Black am laufenden Band. ‚Schön ist es, auf der Welt zu sein.'" Lachend ging sie im Zimmer umher. Nahm auf dem Sofa Platz. Erhob sich aber sofort wieder. "Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht unhöflich ... aber es ist alles so ..."
Ich winkte ab. Sie blieb jedoch stehen. "Hier stand auch Omas Couch. Sie hat sich mittags immer etwas hingelegt. Mit einem Schlüssel in der Hand. Wenn der auf das Linoleum fiel wurde sie wieder wach."
Sie taute allmählich auf und erzählte, während sie durch meine Räume ging. Ich hörte ihr zu. Im Bad sprach sie von der Heizsonne über der Tür. Wenn die glühte, hatte sie immer ein wenig Angst gehabt, das Ding könne herunterfallen und alles in Brand stecken. Und von der Waschmaschine, die eine Trommel hatte, die man von oben füllte. "Oma änderte nichts, an das sie gewöhnt war."
"Waren ihre Eltern so viel beschäftigt, dass sie so oft hier waren?"
"Mein Vater war alleinerziehend und ... ja. - Ja, sagen wir, er war viel beschäftigt."
Beim Betreten der Küche runzelte sie die Stirn. "Erstaunlich", murmelte sie so leise, dass ich ihre Worte kaum verstand. "Es ist, als hätten die Möbel an diese Plätze gewollt. Alles ist nur moderner." - Hier eine Sitzecke, wo sie immer Mau-Mau oder ‚Bübchen raus' gespielt hatten. Dort einen großen, weißen Schrank mit Schiebetüren und vielen Fächern. Worin sich auch die Waschschüsseln befunden hatten. Obwohl es eine Spüle gab, habe ihre Oma sie nie für den Abwasch benutzt. "Und es gab ein Fach für meine Spielsachen. Für Papier und Malstifte und so. Und für Dem Lieben Gott sein' Bleistift." Sie lachte laut auf und klang dabei wie ein Kind. "Ich habe keine Ahnung, warum sie den so nannte. Vielleicht, weil das Union-U drauf war. Mein Opa hat bei der Brauerei gearbeitet. Vielleicht aber auch, weil der Stift so dick war und sich nie abzunutzen schien." Dann wies sie zu der Schiebetür in der Küchenwand. Als wüsste sie genau, welcher Raum dahinter lag. "Dürfte ich wohl ...", druckste sie wieder, "... auch mal ins Schlafzimmer schauen."
"Wenn Sie Unordnung nicht stört", lächelte ich.
"Ich möchte nur einen Blick aus dem Fenster werfen. In den Innenhof."
"Aber da gibt es kaum etwas zu sehen." Ich schob die Tür beiseite und schob beiläufig einige Klamotten unters Doppelbett. "Die Firma nebenan ist längst dicht und baufällig. Vor einigen Jahren haben sie eine Mauer hochgezogen. Jetzt sieht man nur noch die alten Fahrradhügel."
"Eben den möchte ich ja sehen", sagte sie mit zitternder Stimme und ging zum Fenster.
"Die Stadt will sie entfernen lassen. Es fahren keine Kinder mehr drüber und ich vermute, so brüchig wie die aussieht, sind sie inzwischen bestimmt nicht mehr sicher."
Die hässlichen, schmutzig bunten Betonbuckel waren allen Anwohnern schon lange ein Dorn im Auge, inklusive mir. Wie steinerne Pickel wölbten sie sich aus dem eh schon nicht gerade schönen Innenhof. Trotzdem stand die Frau wie verzaubert an der Scheibe und schaute mit zärtlichem Ausdruck hinab. "Wir haben sie immer Die Busen genannt", flüsterte sie.
"Wie bitte?"
"Wegen der roten Flecken auf den Kuppeln. - Ich habe hier oft gesessen. Abends, wenn Oma noch lange Fernsehen guckte. Wir schliefen zusammen in dem großen Doppelbett." Sie schmunzelte. "Weil ich als Kleinkind mal herausgefallen war, stellte sie mir immer einen Stuhl an die Kante. Noch als ich elf oder zwölf war. Und sie hatte für mich eine dieser dicken Daunendecken. Wenn ich unruhig geträumt hatte und aufwachte, waren immer alle Federn auf meine Beine gerutscht, und ich hielt nur noch den leeren Stoff vom Bettbezug im Arm. Dann musste ich wieder alles zurechtschütteln und blieb oft noch eine Weile hier am Fenster sitzen, um in den Hof zu schauen. Das waren schöne Augenblicke. Einfach hier zu sitzen. So müde, dass ich kaum die Augen aufhalten konnte. Aber zufrieden. Alles war dann gut. Die Welt wieder in Ordnung. - Wenn Oma noch nicht im Bett war, klang aus dem Wohnzimmer die Stimme von Dagmar Berghoff und ich wusste, ich würde in der Nacht noch öfter aufwachen. Oma schnarchte immer. Aber es war ein schönes Schnarchen. Wie das Schnurren einer alten Katze. In der Dunkelheit konnte ich das Schnarren der alten Nachtischuhr hören und wusste, sie würde uns am nächsten Morgen wecken. Im Bad würde mein Entenhandtuch bereit liegen. Und nach dem Waschen würde ich mich im Wohnzimmer ankleiden und dabei so lange die Fernsehzeitung studieren, bis ich für den Tag alle Kindersendungen und ihre Anfangszeiten im Kopf hätte. Zum Frühstück gäbe es Flocken-Schokobrei. Und zu mundgerechten Stückchen geschnittenen Toast mit Erdbeermarmelade. Und als ich älter war gab es immer einen großen Pott Kakao und den Pflaumenmus, den ich so gerne mochte. Den teuren. Oma würde mir ein paar Brote schmieren und in das Wachspapier einwickeln, das immer in der Küchentischschublade lag. Bevor ich los zur Schule müsste, würde sie mir noch zwei, drei Mark für die Pause in die Hand drücken und auf dem Weg könnte ich sie so lange am Fenster stehen sehen, bis ich um die Ecke ging. ... Zur Schule. Gleich nebenan. Wo ich mich nie konzentrieren konnte. Und nach der Schule zu den Busen. Zusammen mit Thilo. Wir haben uns immer dort unten auf die Warzenkuppen gesetzt und geredet. Oder er hat mir bei den Hausaufgaben geholfen. Oder wir haben gespielt. Teekesselchen, Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst und so. Wir kannten Dutzende solcher Spiele. Oder wir haben unsere Tagesbeute ausgewertet. Damals gab es diese Sammelalben von Fernsehserien. Captain Future war der Renner. Für ein paar Pfennig konnte man sich Tüten mit Klebebildern kaufen. Die wir doppelt hatten, haben wir mit anderen getauscht. Ich hatte oft Glück. Sowohl im Spiel, als auch damit, als erstes mein Captain-Future-Album voll zu haben. - Gibt es diese Alben heute eigentlich noch? Ich habe von allem keine Ahnung mehr. Da drin hat man kaum was von der Welt mitgekriegt."
Ich hörte wieder ihr Pfefferkornschmunzeln. Bevor ich fragen konnte, was sie meinte, fuhr sie mit leiser Stimme fort. Es klang so leise, als sei sie mit ihrer Stimme weit fortgewandert, jedenfalls nicht mehr im Jetzt geblieben. "Oma hat oft hier oben am Fenster gesessen und Thilo und mich beobachtet. Manchmal warf sie uns Bonbons herunter. ‚Klümpchen', so nannte sie die. In Haushaltspapier eingepackt.
Um fünf musste ich aber immer los. Mit der Bahn durch die Stadt. Nach Hause. Zu Papa. Geradewegs in die verschwiegene Hölle. Wenn ich Glück hatte, wachte der Teufel nicht auf, wenn ich reinkam und schlief noch eine Weile weiter, drückte weiter auf der Sofalehne seine Haare hoch, so dass sie nachher wie Hörner abstanden. Papa schnarchte ebenfalls. Aber anders. Längst nicht so schön wie Oma. Ich musste für den Teufel kochen. Was Leckeres. Was seinen Bieratem für einige Zeit übertünchte. Wenn ich Glück hatte, schmeckte es ihm. Ich musste nur Glück haben. Meistens hatte ich noch genug davon parat. Wenn es ihm schmeckte, dann hatte Papa mich lieb und ließ mich in Ruhe. Wenn es ihm nicht schmeckte, ... dann hatte der Teufel mich lieb. Auf seine Art. Wieder anders. Wieder nicht so wie Oma. Und vielleicht auch nicht wie ein Vater. Aber ich habe es auch nicht anders gekannt. Oma hat von all dem nichts gewusst. Oder sie hat es gewusst und nichts gesagt. Vielleicht, um mir die Hölle kühlen. Der Teufel war schließlich ihr Sohn. - Wenn er ... satt war, musste ich wieder gehen. Raus aus der Hölle. Zurück ins verschwiegene Oma-Paradies. In die friedvolle Nacht. Mit dem schweren Oberbett und dem Schnurrschnarchen neben mir. In diesen kleinen Himmel, der direkt vor der Hölle lag.
Schnarchen kann so schön sein. Man kann es sogar lieben. - Wenn ich es mir genau überlege: ... Ich habe viele Schnarchen gehört. Das Schnarchen des Teufels grunzte. Und das von diesem anderen, von dem Freier, der nach seinem Gestöhne immer so müde wurde, dass er gleich einnickte... Himmel, der bölkte richtig. Und Astrid, mit der ich mir eine Zelle teilen musste: Deren Schnarchen schleifte wie Schmirgelpapier.
Aber Omas Schnarchen streichelte ... wie das Schnurren einer Katze. Ich kann es nicht besser erklären. Es hatte so etwas beruhigendes. Ja-a. Schnarchen kann schön sein, wenn man es liebt.
Aber ich habe nur das von Oma geliebt. Na ja, und das von Thilo ein bisschen. Später. Nach diesem Sommer. Als er mich auf dem Busen fragte, ob er mal an meinen dürfe. Eine wundervoll ungeschickte Anmache. Wenn er auf Droge war, hörte sich danach sein Schnarchen so zärtlich und glücklich an. - Ich hoffe, er ist jetzt wieder glücklich, wo er ist. Und Oma auch. Eines Nachts hörte ich ihr altes Katzenschnarchen nicht mehr. Nach dieser Nacht sah jeder Morgen gleich aus. Ich musste wieder Glück haben. Jedoch ohne es vorher von jemandem zu bekommen."
Sie wandte sich zu mir um, wischte sich über die Augen und lachte ihr Pfefferkornlachen. "Ich erzähl' Ihnen hier einen ..." Sie huschte so schnell es ging an mir vorbei. "Danke für den Tee." Dann verließ sie schnell meine Wohnung. Ich traute mich nicht, sie zurückzuhalten und blieb alleine zurück. Das heißt: Nicht ganz allein. - Nicht wirklich.
Die Wände haben begonnen, mir zu erzählen. Meine Phantasie formt Gestalten, die vor meinen Augen herumgeistern. Ein junges Mädchen und eine alte Frau. Ab und zu kommt ein Junge zu Besuch. Dann spielen er und das Mädchen im Innenhof. Und sie lachen dabei ganz seltsam. So, als bissen sie auf Pfefferkörner. So, als befänden sie sich in einem Himmel, der direkt vor der Hölle liegt.


November 2001
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Markus,

wenn Du irgendwann einmal frustriert beschließt, deine Werke nicht mehr in die Leselupe zu stellen, würde ich das persönlich zwar bedauern, aber durchaus verstehen. So eine einfühlsam und trotzdem packend geschriebene Erzählung - und niemand scheint Notiz davon zu nehmen! Sind die Leser/Kritiker mit lumpigen 12.000 Anschlägen wirklich schon so überfordert? O.K. - Du hättest dich ein klein wenig kürzer halten können (zum Beispiel bei der Aufzählung der Möbel und sonstigen Gegenstände in der Wohnung), aber würde die Geschichte dann nicht einiges von ihrem Reiz verlieren?
Sehr gelungen und originell fand ich unter anderem, wie Du mit unterschiedlichen Schnarchweisen solche Gefühle wie Geborgenheit, Angst oder auch Liebe zu assoziieren weißt. Toll!
Gefallen hat mir auch die Art, mit der Du die Protagonistin von sich selbst erzählen läßt. Nichts von den wirklich schlimmen Dingen, die ihr widerfahren sind, erscheint vordergründig, und trotzdem weiß der Leser Bescheid. Selbst die Tat, die sie ins Gefängnis gebracht hat, bleibt unausgesprochen. Das nenne ich "Kunst des Weglassens".
Nein - es gibt für mich keinen Anlaß, etwas zu kritisieren. Nur ein paar Kleinigkeiten:
""Waren ihre Eltern so viel beschäftigt, dass sie so oft hier waren?"
"Mein Vater war alleinerziehend und ... ja. - Ja, sagen wir, er war viel beschäftigt." "
Hier taucht für meinen Geschmack "war, waren" zu gehäuft auf.

""Eben den möchte ich ja sehen", sagte sie mit zitternder Stimme und ging zum Fenster.
"Die Stadt will sie entfernen lassen. Es fahren keine Kinder mehr drüber und ich vermute, so brüchig wie die aussieht, sind sie inzwischen bestimmt nicht mehr sicher."
Die hässlichen, schmutzig bunten Betonbuckel waren allen Anwohnern schon lange ein Dorn im Auge, inklusive mir"
Singular oder Plural?

Das war es auch schon. Tschüs und herzliche Grüße von
Ralph
 
L

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Gast
hallo Markus

so wie du deine Protagonistin sprechen läßt, klingt es für mich so glaubhaft so wahr so authentisch, dass ich mir erst wieder vergegenwärtigen muß - diese worte habe ich nicht gehört - sondern gelesen.
beeindruckend

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