Der Höllentrip

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Buffy

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Der Höllentrip
© 2004 by Katharina Wegeleben


Kennen sie das Geräusch, wenn hinter ihnen eine schwere Eisentür ins Schloss fällt? Die Angst, wenn diese von fremder Hand abgeschlossen wird? Das Gefühl, wenn ihnen langsam bewusst wird gefangen zu sein?
Eingeschlossen! Der Freiheit beraubt!
Ich habe es bis zu jenem Tage nicht gewusst. Ehrlich gesagt, habe ich auch keinen Gedanken daran verschwendet. Schließlich war, und bin ich keine kriminelle Person.

Meine Erinnerungen an diese Zeit weisen Bruchstücke auf. Ein Phänomen, dass ich schon als Kind hatte. All meine irrationalen Ängste habe ich instinktiv in meinem Unterbewusstsein begraben. Mein Verstand lehnt es einfach ab, diese bewusst zu registrieren. Zu akzeptieren.
Und damals hatte ich Angst. Todesangst.
Sie möchten wissen wie es dazu kam? Vielleicht auch, welche Tür es war, die sich hinter mir schloss?
Aber lassen sie mich von Anfang an beginnen. Vorausgesetzt, meine Bruchstücke ergeben ein fertiges Puzzle.
Ich hatte innerhalb von 20 Jahren zwei Ehemänner durch unheilbare Krankheiten verloren. War in einer Scheidung gefangen, die einem Rosenkrieg glich und wog nur noch 45 Kilo.
Mein Nervenkostüm war so dünn, dass ich die Symptome hätte erkennen müssen. Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Damals war es tabu, sich um fremde Hilfe zu bemühen. Der Gedanke, einen Psychologen oder gar einen Psychiater aufzusuchen, war kein Thema über das man sprach. Ich, als Geschäftsfrau, war auf die Gesellschaft angewiesen. Ihr gegenüber zuzugeben, dass ich mich miserabel fühlte, einfach undenkbar.
Freunde hatte ich nicht. So fraß ich alle Ängste in mich hinein.
Ein Richterspruch sagt: “Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ und ich war in jener Zeit sehr unwissend. Ich hatte mich sträflich vernachlässigt. Meine ganze Energie verbraucht. Die Strafe! Der Zusammenbruch.
Plötzlich war ich umgeben von Personen, die es nur gut mit mir meinten. Einem Arzt, der auf eine sofortige Einweisung in eine Nervenklinik drängte. Sie redeten und redeten. Appellierten an meine Vernunft. Doch ich war in einem Zustand, der alles andere hören wollte. Vernunft war das letzte, dass ich gebrauchen konnte. Um meine Zustimmung zu bekommen ließen sie nicht locker. Nach Stunden gab ich erschöpft mein OK.
So wurde der Krankenwagen gerufen und man brachte mich in eine Klinik. Dass es sich um eine geschlossene psychiatrische, Abteilung handelte, hatte man mir nicht gesagt.
Ich geriet in Panik, als man mich in einen Raum brachte, dessen Wände mit einem gummiähnlichen Material ausgeschlagen war. Auf dem Boden lag eine große Matratze. Die Eisentür mit dem kleinen vergitterten Guckloch schloss sich hinter mir.
Traumatische Erinnerungen an meine Kindheit kamen wieder in mein Bewusstsein. Ich sah mich in der kleinen dunklen Speisekammer eingesperrt. Dachte daran, dass man mich damals vergessen hatte. An die endlosen Stunden der Verzweiflung. Hilflosigkeit. An die Angst zu ersticken.
Doch jetzt war ich kein Kind mehr. Ich war eine erwachsene Frau.
Das, was man mir antat, war schlichtweg Freiheitsberaubung. Dem hatte ich nicht zugestimmt. Obwohl? Hatte ich nicht irgendetwas unterschreiben müssen? Etwas, dass soviel aussagte, dass ich bei Gefahr der Selbstverletzung mich einverstanden erklärte, mich in eine Gummizelle zu stecken.
Dabei hatte ich, soweit ich mich erinnere nicht die Absicht gehabt, mich selbst zu verletzen. Ich flehte durch das Gitter mich herauszulassen. Ich schrie. Rannte mit dem Kopf gegen die Wände.
Fluchte! Tobte! Raste!
Dann brach ich zusammen.
Das ein Arzt mich untersuchte. Schwestern mir Spitzen und Medizin verabreichten, registrierte ich nicht. Mein Verstand hatte einfach die Off-Taste gedrückt.
Als sich nach Stunden endlich die Tür öffnete und die Schwester mir sagte, ich könnte jetzt in mein Zimmer gebracht werden, war es mir gleichgültig. Alles war mir egal. Ich hatte keinen eigenen Willen mehr. Langsam, wie in Zeitlupe erhob ich mich. Der Boden unter mir schwankte. Krampfhaft bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, versuchte ich ihr zu folgen. Die Schwester musste mich stützen, als wir auf den Flur traten. Wie in Trance ließ ich mich ins Behandlungszimmer führen. Brav schluckte ich die Medikamente und sah teilnahmslos zu, wie man mir erneut eine Spritze gab. Die Füße gaben unter mir nach, als man mich in mein Zimmer bringen wollte. Eine zweite Schwester wurde zu Hilfe gerufen. Als wir zu Dritt auf den Flur traten stockte mir der Atem. Der Linoleumbelag des Flures kam mir wellenförmig entgegen. Das Gefühl, dass ich dabei empfand, lässt sich sehr schwer beschreiben. Es war eine Mixtur aus Entsetzen, Angst und Spannung. Schlagartig war ich hellwach. Von Trance keine Spur mehr. So wie die Wellen des Flures, so stieg auch meine innere Neugier. Bei jeder neuen Welle die auf mich zukam, dachte ich daran. Wie ist es, wenn man ertrinkt?

„Sie müssen viel trinken. Wir lassen die Tür auf, dann haben sie etwas Licht“ hörte ich eine Schwester sagen, als sie mich zudeckte. Dann war ich allein. Unsicher schaute ich mich in dem schwach erleuchteten Zimmer um.
Es war Nacht.
Eine Vollmondnacht.
Das bleiche weiße Licht schien ungehindert durch das Fenster. Ich konnte klar die schwarzen Konturen eines blattlosen Baumes vor dem Fenster erkennen. Seitlich davon die dunklen Tannen. Fast schwarz. Mit einer silbernen Aura umgeben.
Ebenso die Umrisse des Schrankes im Zimmer. Den Türrahmen zum Bad. Die zwei Stühle am kleinen runden Tisch, die Nachtkommode. Sowie das hölzerne Fußende des Bettes in dem ich lag.
Meine Augen glitten an den Konturen entlang. Ich war überrascht von meiner Sehschärfe. Die Maserung des Holzes war lebendig. In stetiger Bewegung änderten sie Form und Farben. Wie Rinnsale, oder kleine Wasserstrudel. Ich schaute gebannt diesem ungewohnten Schauspiel zu. Ich weiß noch, dass ich in diesem Augenblick keine Angst verspürte. Im Gegenteil, es war faszinierend.
Daran erinnere ich mich genau.
Auch daran, dass ich ein Glas Wasser nach dem anderen trank.
Die Folge, ich musste dringend auf die Toilette. Im Ohr hatte ich noch die Worte der Schwester, „Bitte vorsichtig, wenn sie aufstehen müssen. Nicht dass sie uns noch hinfallen“. So nahm ich mir vor, erst einmal ein paar Minuten auf der Bettkante sitzen zu bleiben. Das Unterfangen erwies sich schwieriger, als ich vermutet hatte. Als ich endlich die Füße aus dem Bett hatte und auf der Kante saß, war ich in Schweiß gebadet. Das fahle Licht im Zimmer ließ die schwarze Kontur der Badezimmertür endlos erscheinen. Aus Angst, wieder in der Gummizelle zu landen, wagt ich nicht, nach der Schwester zu klingeln. Wenn nicht gehen, dachte ich, dann eben kriechen. Meine Hand tastete nach dem Lichtschalter für die Nachttischlampe.
Die Helligkeit blendete mich und ich schloss schnell sie Augen. Mit dem zaghaften öffnen meiner Lider, begann mein unvorstellbarer Horrortrip. Blitzschnell zog ich die Beine an und starrte entgeistert auf den Fußboden. Ich erinnere mich, dass ich beim Betreten des Raumes einen Teppichboden unter meinen Füßen gespürt hatte. Jetzt war er verschwunden. Auf dem Boden wimmelte es von kleinen Maden oder Würmern. Nein! Der Boden bestand aus Würmern. Grauen packte mich. Zwischen mir und dem Bad nur Würmer. Ich kauerte auf dem Bett und starrte auf das Getümmel.
Jetzt bin ich verrückt, schoss es mir durch den Kopf.
Gleich kommt die Zwangsjacke. Was passiert, wenn ich ins Bett mache?
Nur nicht klingeln, bitte nur nicht klingeln. Die lassen mich nie mehr raus. Ich werde für den Rest meines Lebens eingesperrt bleiben. Auch daran erinnere ich mich. Diese und ähnliche Gedanken hatte ich, während mein Blick starr auf den Boden gerichtet war.
Der Druck wurde stärker. Ich musste auf die verdammte Toilette. Aber wie? Ich überlegte hin und her. Dann hatte ich eine rettende Idee. Kurzerhand nahm ich die Bettdecke und warf diese länglich auf die Würmer. Das Kopfkissen nahm ich in die Hand. Vorsichtig stellte ich meine Füße auf die Decke, ging in die Hocke, dann auf die Knie. So kroch ich auf allen Vieren auf das Badezimmer zu. Rechts und links von mir das Gewimmel der Maden und Würmer. Ekel stieg in mir hoch. Angst, dass Diese auch auf die Decke kommen könnten, ließ mich die Luft anhalten. Die Decke war zu kurz. Ich hatte richtig kalkuliert, doch mit dem Kissen erreichte ich die Tür des Badezimmers. Ich erhob mich, öffnete die Tür und machte Licht. Ungläubig sah ich auf die mit Kot verschmierten Wände. Auf den mit Urin bespritzen Toilettendeckel. Auf den Dreck in der Dusche und im Waschbecken. Ich hatte den bestialischen Gestank in meiner Nase. Mein Vorgänger hatte es nicht für nötig gehalten, seine Notdurft herunterzuspülen. Das war zuviel. Ich hockte mich in eine Ecke und erbrach. Obwohl ich kaum etwas im Magen hatte. Grüne Galle spuckte ich. Der Brechreiz nahm kein Ende. Jetzt war es mir auch egal. Mein Pipi würde gar nicht auffallen. So ließ ich dem Wasser seinen Lauf. Als ich das Bad verließ, nahm ich alle schmutzigen Handtücher mit und löschte schnell das Licht. Man konnte ja nicht wissen. Mein Bettzeug würde ich jedenfalls nicht mehr benutzen. Das Bett erreichte ich kriechend, mit geschlossen Augen, nur am Bettzeug orientierend, ohne das Kopfkissen zu vergessen. Akribisch suchte ich die Bettwäsche nach Würmern ab. Ich konnte keine finden. Doch das Gefühl, dass sich welche zwischen Bettdecke und Bezug verkrochen haben könnten, verfolgte mich. Mein Körper fing an, an den unmöglichsten Stellen zu jucken. Nur nicht kratzen. Die Angst vor der Gummizelle hielt mich zurück. Ich löschte das Licht und versuchte an etwas anderes zu denken. Doch dazu kam es nicht. Der Horrortrip ging weiter.

Der Mond hatte seine Bahn gezogen und schien nun voll in mein Zimmer. Er tauchte es in ein silbergraues Licht. Ließ die Wände wie Wachs aussehen. Hatte ich vorher mit offenen Augen im Bett gelegen, jetzt saß ich kerzengerade. Meine Nackenhaare sträubten sich. Die Wände waren aus Gummi. Gesichter drückten von außen dagegen. Ich sah Nasen, Münder, die sich bewegten, Augenhöhlen. Als hätte jemand Masken an die Wände gehängt. Konnte klar die weiblichen von den männlichen Masken unterscheiden. „Freund oder Feind“ flüsterte ich angstvoll. Aber ich bekam keine Antwort. Sah nur gebannt auf die Arme, die aus der Wand kamen. Die nach mir greifen wollten. Doch sie waren zu kurz. „Danke lieber Gott“, flehte ich aus tiefsten Herzen. Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick abwenden. Ich hypnotisierte den blattlosen Baum vor dem Fenster. Immer noch besser, als auf die Wände starren. Doch jetzt saßen dort Geier. Fledermäuse hingen an den Zweigen oder flogen um den Baum herum. Schlagartig wurde mir klar, dass ich heute noch sterben würde. Die Vorboten des Todes warteten bereits auf mich. Als ich sah, wie die Fledermäuse durch das geschlossene Fenster in mein Zimmer flogen, um meinen Kopf kreisten, gab es gar keinen Zweifel. Ich ergab mich meinem Schicksal. Der Tod konnte nicht schlimmer sein. Als mein geschwächter Körper endlich vom Schlaf übermannt wurde, seufzte ich erleichtert und ließ den Schlaf zu.

Der Schwester, die mich am nächsten Morgen weckte, erzählte ich von dem schmutzigen Badezimmer und bat darum, dass es gereinigt wird. Sie half mir beim Aufstehen und führte mich ins Bad. Es war sauber. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Kein Kot! Kein Urin! Kein Erbrochenes. Ich drehte mich um. Sah auf den Teppichboden. Es waren keine Würmer da und auch die Wände waren so stabil, dass man zwei Bilder aufgehängt hatte.

Und dennoch! Vor Gericht hätte ich geschworen, dass alles, was ich in jener Nacht gesehen hatte, der Wahrheit entsprach.
Später erfuhr ich, dass es sich um die Nebenwirkung eines Medikamentes handelte und dass es nur Halluzinationen waren.
Doch heute noch habe ich Angst vor jeder Tablette die man mir verschreibt.
Man kann nicht vorsichtig genug sein.
 

Buffy

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Der Höllentripp - korrigierte Fassung

Der Höllentrip
© 2004 by Katharina Wegeleben


Kennen sie das Geräusch, wenn hinter ihnen eine schwere Eisentür ins Schloss fällt? Die Angst, wenn diese von fremder Hand abgeschlossen wird? Das Gefühl, wenn ihnen langsam bewusst wird, gefangen zu sein?
Eingeschlossen! Der Freiheit beraubt!
Ich habe es bis zu jenem Tage nicht gewusst. Ehrlich gesagt, habe ich auch keinen Gedanken daran verschwendet. Schließlich war, und bin ich keine kriminelle Person.

Meine Erinnerungen an diese Zeit weisen Bruchstücke auf. Ein Phänomen, dass ich schon als Kind hatte. All meine irrationalen Ängste habe ich instinktiv in meinem Unterbewusstsein begraben. Mein Verstand lehnt es einfach ab, diese bewusst zu registrieren. Zu akzeptieren.
Und damals hatte ich Angst. Todesangst.

Sie möchten wissen wie es dazu kam? Vielleicht auch, welche Tür es war, die sich hinter mir schloss?
Aber lassen sie mich von Anfang an beginnen. Vorausgesetzt, meine Puzzelstücke ergeben ein fertiges Bild.
Innerhalb von zwanzig Jahren hatte ich zwei Ehemänner durch unheilbare Krankheiten verloren. War in einer Scheidung gefangen, die einem Rosenkrieg glich und wog nur noch 45 Kilo.
Mein Nervenkostüm war so dünn, dass ich die Symptome hätte erkennen müssen. Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Damals war es tabu, sich um fremde Hilfe zu bemühen.
Der Gedanke, einen Psychologen oder gar einen Psychiater aufzusuchen, war kein Thema über das man sprach. Eine Geschäftsfrau konnte es sich nicht erlauben, als verrückt zu gelten. Geschäftsuntüchtig. Klapse war nun mal Klapse und Irrsinn automatisch damit verbunden.
Mein Ruf als Geschäftsfrau stand auf dem Spiel. Die Gesellschaft war mein
Auftraggeber. Ihr gegenüber konnte ich mir keine Schwäche erlauben, denn ich war sie angewiesen.
Zuzugeben, dass ich mich miserabel fühlte, einfach undenkbar.
Freunde hatte ich nicht.
So fraß ich alle Ängste in mich hinein.
Ängste vor dem Verlassenwerden. Vor der unverhofften Konfrontation mit dem Tod. Den ich täglich vor Augen hatte. Angst meine Pflichterfüllung nicht gerecht zu werden.
Vor meiner Hilflosigkeit.
Ein Richterspruch sagt: “Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ und ich war in jener Zeit sehr unwissend. Ich hatte mich sträflich vernachlässigt. Meine ganze Energie verbraucht. Die Strafe! Ein unkontrollierter Nervenzusammenbruch.
Plötzlich war ich umgeben von Personen, die es nur gut mit mir meinten. Einem Arzt, der auf eine sofortige Einweisung in eine Klinik drängte. Sie redeten und redeten. Appellierten an meine Vernunft. Doch ich war in einem Zustand, der alles andere hören wollte. Vernunft war das letzte, dass ich gebrauchen konnte. Um meine Zustimmung zu bekommen, ließen sie nicht locker. Nach Stunden gab ich erschöpft mein OK.
So wurde der Krankenwagen gerufen und man brachte mich in eine Psychosomatische Klinik. Dass es sich um eine geschlossene psychiatrische Einrichtung handelte, hatte man mir nicht gesagt.
Die Erinnerung, wie die Eingangstür nach meinem Eintreffen in der Klinik, hinter mir abgeschlossen wurde, versetzt mich heute noch in Angst und Schrecken. Ich geriet in Panik. Wollte nach Hause. Schrie und tobte. Man gab mir eine Spritze, trotz meiner Weigerung. Dann wurde ich in einen Raum geführt, dessen Wände mit einem gummiähnlichen Material ausgeschlagen war. Auf dem Boden lag eine große Matratze. Die Eisentür mit dem kleinen vergitterten Guckloch schloss sich hinter mir. Sie hatte keine Türklinke.
Traumatische Erinnerungen an meine Kindheit kamen in mein Bewusstsein. Ich sah mich wieder in der kleinen dunklen Speisekammer eingesperrt. Als Strafe für Ungehorsamkeit. Auch die hatte keinen Griff innen. Noch nicht einmal Licht. Dachte daran, wie es möglich sein konnte, ein Kind einzusperren und es dann einfach vergessen. Mich hatte man vergessen. Die Erinnerung an die acht endlosen Stunden der Verzweiflung. Meiner Hilflosigkeit. Meine Angst, zu ersticken.
Doch jetzt war ich kein Kind mehr. Ich war eine erwachsene Frau.
Das, was man mir antat, war schlichtweg Freiheitsberaubung. Dem hatte ich nicht zugestimmt. Obwohl? Hatte ich nicht irgendetwas unterschreiben müssen? Etwas, dass soviel aussagte, dass ich bei Gefahr der Selbstverletzung, ich mich einverstanden erklärte, mich zu meinem eigenen Schutz in eine Gummizelle zu stecken.
Wusste ich damals doch gar nicht, was eine Gummizelle war.
Dabei hatte ich, soweit ich mich erinnere nicht die Absicht gehabt, mich selbst zu verletzen. Jetzt war ich in einer. Panische Angst überkam mich. Erst flehte ich, mich doch bitte herauszulassen. Doch vergeblich. Dann schrie ich um Hilfe.
Fluchte! Tobte! Raste!
Rannte mit dem Kopf gegen die Wände.
Völlig erschöpft brach ich auf der großen Matratze zusammen. In Embryohaltung und wimmernd wie ein Baby.
Das ein Arzt mich untersuchte. Schwestern mir Spitzen und Medizin verabreichten, registrierte ich nicht. Mein Verstand hatte einfach die Off-Taste gedrückt.
Als sich nach Stunden endlich die Tür öffnete und die Schwester mir sagte, ich könnte jetzt in mein Zimmer gebracht werden, war es mir gleichgültig. Alles war mir egal. Ich hatte keinen eigenen Willen mehr. Langsam, wie in Zeitlupe erhob ich mich. Der Boden unter mir schwankte. Krampfhaft bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, versuchte ich ihr zu folgen. Die Schwester musste mich stützen, als wir auf den Flur traten. Wie in Trance ließ ich mich ins Behandlungszimmer führen. Brav schluckte ich dort die Medikamente. Sah teilnahmslos zu, wie man mir erneut eine Spritze gab. Die Füße gaben unter mir nach, als man mich in mein Zimmer bringen wollte. Eine zweite Schwester wurde zu Hilfe gerufen. Als wir zu Dritt auf den Flur traten stockte mir der Atem. Der Linoleumbelag des Flures kam mir wellenförmig entgegen. Das Gefühl, dass ich dabei empfand, lässt sich sehr schwer beschreiben. Es war eine Mixtur aus Entsetzen, Angst und Spannung. Schlagartig war ich hellwach. Von Trance keine Spur mehr. So wie die Wellen des Flures, so stieg auch meine innere Neugier. Bei jeder neuen Welle die auf mich zukam, dachte ich daran. Wie ist es, wenn man ertrinkt?

„Sie müssen viel trinken. Wir lassen die Tür auf, dann haben sie etwas Licht“ hörte ich eine Schwester sagen, als sie mich zudeckte. Dann war ich allein. Unsicher schaute ich mich in dem schwach erleuchteten Zimmer um. Ich erinnere mich. Man hatte mich in einem Einzelzimmer mit Bad untergebracht.
Es war Nacht.
Eine Vollmondnacht.
Das bleiche weiße Licht schien ungehindert durch das Fenster. Klar konnte ich die schwarzen Konturen eines blattlosen Baumes vor dem Fenster erkennen. Seitlich davon die dunklen Tannen. Fast schwarz. Mit einer silbernen Aura umgeben.
Ebenso die Umrisse des Schrankes im Zimmer. Den Türrahmen zum Bad. Die zwei Stühle am kleinen runden Tisch, die Nachtkommode. Sowie das hölzerne Fußende des Bettes, in dem ich lag.
Meine Augen glitten an den Konturen entlang. Ich war überrascht von meiner Sehschärfe. Die Maserung des Holzes war lebendig. In stetiger Bewegung änderten sie Form und Farben. Spirale Formen! Bizarr! Ungewöhnlich!
Farben abstrakt. Solche hatte ich noch nie gesehen. Das ganze erinnerte mich an Rinnsale, oder kleine Wasserstrudel.
Ich schaute gebannt diesem ungewohnten Schauspiel zu. Ich weiß noch, dass ich in diesem Augenblick keine Angst verspürte. Im Gegenteil, es war faszinierend.
Daran erinnere ich mich genau.

Auch daran, dass ich ein Glas Wasser nach dem anderen trank.
Die Folge, ich musste dringend auf die Toilette. Im Ohr hatte ich noch die Worte der Schwester, „Bitte vorsichtig, wenn sie aufstehen müssen. Nicht dass sie uns noch hinfallen“.
So nahm ich mir vor, erst einmal ein paar Minuten auf der Bettkante sitzen zu bleiben. Das Unterfangen erwies sich schwieriger, als ich vermutet hatte. Als ich endlich die Füße aus dem Bett hatte und auf der Kante saß, war ich in Schweiß gebadet.
Das fahle Licht im Zimmer ließ die schwarze Kontur der Badezimmertür endlos erscheinen. Aus Angst, wieder in der Gummizelle zu landen, wagt ich nicht, nach der Schwester zu klingeln. Wenn nicht gehen, dachte ich, dann eben kriechen. Meine Hand tastete nach dem Lichtschalter für die Nachttischlampe.
Die Helligkeit blendete mich und ich schloss schnell sie Augen. Mit dem zaghaften öffnen meiner Lider, begann mein unvorstellbarer Horrortrip. Blitzschnell zog ich die Beine an und starrte entgeistert auf den Fußboden. Ich erinnere mich, dass ich beim Betreten des Raumes einen Teppichboden unter meinen Füßen gespürt hatte. Jetzt war er verschwunden. Auf dem Boden wimmelte es von kleinen Maden oder Würmern. Nein! Der Boden bestand aus Würmern. Grauen packte mich. Zwischen mir und dem Bad nur Würmer. Ich kauerte auf dem Bett und starrte auf das Getümmel.
Jetzt bin ich verrückt, schoss es mir durch den Kopf.
Gleich kommt die Zwangsjacke.
Oh, Gott! Wenn ich jetzt ins Bett mache?
Nur nicht klingeln, bitte nur nicht klingeln. Die lassen mich nie mehr raus. Ich werde für den Rest meines Lebens eingesperrt bleiben.
Auch daran erinnere ich mich. Diese und ähnliche Gedanken hatte ich, während mein Blick starr auf den Boden gerichtet war.

Der Druck wurde stärker. Ich musste auf die verdammte Toilette. Aber wie? Ich überlegte hin und her. Dann hatte ich die rettende Idee. Kurzerhand nahm ich die Bettdecke und warf diese länglich auf die Würmer. Das Kopfkissen nahm ich in die Hand. Vorsichtig stellte ich meine Füße auf die Decke, ging in die Hocke, dann auf die Knie. So kroch ich auf allen Vieren auf das Badezimmer zu. Rechts und links von mir das Gewimmel der Maden und Würmer.
Ekel stieg in mir hoch.
Angst, dass diese auch auf die Decke kommen könnten, ließ mich die Luft anhalten. Die Decke war zu kurz. Ich hatte richtig kalkuliert, doch mit dem Kissen erreichte ich die Tür des Badezimmers. Ich erhob mich, öffnete die Tür und machte Licht.
Ungläubig sah ich auf die mit Kot verschmierten Wände. Auf den mit Urin bespritzen Toilettendeckel. Auf den Dreck in der Dusche und im Waschbecken. Ich hatte den bestialischen Gestank in meiner Nase. Mein Vorgänger hatte es nicht für nötig gehalten, seine Notdurft herunterzuspülen. Das war zuviel. Ich hockte mich in eine Ecke und erbrach. Obwohl ich kaum etwas im Magen hatte. Grüne Galle spuckte ich. Der Brechreiz nahm kein Ende. Jetzt war es mir auch egal. Mein Pipi würde gar nicht auffallen. So ließ ich dem Wasser seinen Lauf. Als ich das Bad verließ, nahm ich alle schmutzigen Handtücher mit und löschte schnell das Licht. Man konnte ja nicht wissen. Mein Bettzeug würde ich jedenfalls nicht mehr benutzen. Das Bett erreichte ich kriechend, mit geschlossen Augen, nur am Bettzeug orientierend, ohne das Kopfkissen zu vergessen. Akribisch suchte ich die Bettwäsche nach Würmern ab. Ich konnte keine finden. Doch das Gefühl, dass sich welche zwischen Bettdecke und Bezug verkrochen haben könnten, verfolgte mich. Mein Körper fing an, an den unmöglichsten Stellen zu jucken. Nur nicht kratzen. Die Angst vor der Gummizelle hielt mich zurück. Ich löschte das Licht und versuchte an etwas anderes zu denken. Doch dazu kam es nicht. Der Horrortrip ging weiter.

Der Mond hatte seine Bahn gezogen und schien nun voll in mein Zimmer. Tauchte es in ein kaltes, milchweißes Licht.
Die Wände sahen jetzt wie Wachs aus.
Hatte ich vorher mit offenen Augen im Bett gelegen, saß ich jetzt kerzengerade.
Meine Nackenhaare sträubten sich. Nein, die Wände waren aus Gummi. Gesichter drückten von außen dagegen. Ich sah Nasen. Münder. Augen. Ich sah sie sprechen. Wollten sie mir etwas sagen? Ihre Umrisse wurden immer deutlicher. Unschwer konnte ich die weiblichen, von den männlichen Gesichtern unterscheiden.
„Freund oder Feind“ flüsterte ich angstvoll.
Aber ich bekam keine Antwort.
Sah nur gebannt auf die Arme, die jetzt aus den Wänden kamen. Die nach mir greifen wollten.
Doch sie waren zu kurz.
„Danke lieber Gott“, flehte ich aus tiefsten Herzen.
Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick abwenden. Ich hypnotisierte den blattlosen Baum vor dem Fenster. Immer noch besser, als auf die Wände starren. Doch jetzt saßen dort Geier. Fledermäuse hingen an den Zweigen oder flogen um den Baum herum. Schlagartig wurde mir klar, dass ich heute noch sterben würde. Die Vorboten des Todes warteten bereits auf mich. Als ich sah, wie die Fledermäuse durch das geschlossene Fenster in mein Zimmer flogen, um meinen Kopf kreisten, gab es gar keinen Zweifel. Ich ergab mich meinem Schicksal. Der Tod konnte nicht schlimmer sein. Als mein geschwächter Körper endlich vom Schlaf übermannt wurde, seufzte ich erleichtert und ließ den Schlaf zu.

Der Schwester, die mich am nächsten Morgen weckte, erzählte ich von dem schmutzigen Badezimmer und bat darum, dass es gereinigt wird. Sie half mir beim Aufstehen und führte mich ins Bad. Es war sauber. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Kein Kot! Kein Urin! Kein Erbrochenes. Ich drehte mich um. Sah auf den Teppichboden. Es waren keine Würmer da und auch die Wände waren so stabil, dass man zwei Bilder aufgehängt hatte.

Und dennoch! Vor Gericht hätte ich geschworen, dass alles, was ich in jener Nacht gesehen hatte, der Wahrheit entsprach.
Später erfuhr ich, dass es sich um die Nebenwirkung eines Medikamentes handelte und dass es nur Halluzinationen waren.
Doch heute noch habe ich Angst vor jeder Tablette die man mir verschreibt.
Man kann nicht vorsichtig genug sein.
 
Re: Der Höllentripp - korrigierte Fassung

Das war mir sehr schön zu lesen, irgendwie ein Genuss. Dein Schreibstil ist mir angenehm.

Formal wird die schnellrichterliche Einweisung einer gefährdeten Person in die Psychiatrie per PsychKG beschrieben (PsychKG = "Psychisch-Kranke-Hilfegesetz")

Das Allermeiste, was an sachlichen Rahmenbedingungen dann im Text aufgeführt wird (zB Gummizelle u. Eisentüre) ist rein sachlich absurd und falsch. So funktioniert keine Psychiatrie. Per PsychKG wird man zB nicht in eine psychosomatische Klinik, sondern in eine psychiatrische Notaufnahme verbracht, man bekommt als Medikamente nicht Drogen verabfolgt, die Halluzinationen auslösen, sondern Arzneien, die sie dämpfen oder beseitigen, usw.

Indessen ist der Text so geschickt geschrieben, dass man diese ganzen Unrichtigkeiten ohne Problem als Fehlwahrnehmungen und Halluzinationen der eingewiesenen Person lesen kann, insbesondere, weil sich die im Text als Hallus gelabelten Erlebnisse nahtlos mit den absurden Realitäten legieren (zB Gummizelle+Beschreibung und Speisenkammer+Kindheitserlebnisse).
(* es heißt SpeiseNkammer)
Diese Darstellungsweise ist nicht einfach zu handhaben und daher hier wirklich gelungen, auch, weil sie kurzweilig moduliert (Höhen und Tiefen), aber an keiner Stelle übertreibt. Ich hätte zB erwartet, dass die Autorin bei der Geschichte mit den Würmern und Maden, von ihrem eigenen Impetus angetrieben, die Kurve nicht mehr kriegt, und die Sache exzessiv übertreibt, aber sie hat diese Klippe problemlos umschifft.

Der Anfangsteil des Textes, in dem recht abstrakt und summarisch beschrieben wird, wie es aus der bereits deutlich halluzinationsgefärbten Sicht der Protagonistin überhaupt zur Einweisung kommt,

[Vernunft war das letzte, dass ich gebrauchen konnte.]

erinnert mich an E.A.Poe, der ebenfalls oft genau solche bereits "eingefärbten" Vorschalt"kapitel" verwendet hat.
ZB frage ich mich aus forensischer Sicht, was es mit dem Verlust der beiden Ehemänner wirklich auf sich haben mag, besonders in Anbetracht des TextSchlusses:

[Noch heute noch habe ich Angst vor jeder Tablette die man mir verschreibt. Man kann nicht vorsichtig genug sein.]

der in dem Zusammenhang ganz gefährlich doppeldeutig sein könnte (es könnte diese Äußerung fast von einer AgathaChristie stammen).
----------------

Was mich ein wenig unbefriedigt zurücklässt: Ich hätte gerne mehr über den Vorspann und den Nachlauf des Textes gewusst, denn ich könnte mir den Text gut in einen größeren Zusammenhang eingebettet vorstellen.

Rechtschreibefehler? Ja, einige, wenige, aber...lässlich, lässlich
 

Buffy

Mitglied
Danke

Hallo Waldemar,
es ist interessant,meinen Text nach deiner ausführlichen Argumentation, erneut zu lesen.
Auch das Einbetten dieser Szene, in einer etwas längeren Fassung, klingt verlockend. Darüber muss ich ernsthaft nachdenken.
Ich freue mich über deinen Kommentar und dass Dir die Story gefallen hat.
Gruß Buffy

PS
Während eines Klinikaufenthaltes, hat man mir mal ein falsches Medikament verabreicht. Ich bekam tatsächlich Halluzinationen. Allerdings nicht in diesem s.o. beschriebenen Ausmaß.
 
Re: Der Höllentripp - korrigierte Fassung

Eine packende Geschichte. Von der ersten Zeile an fesselnd: Warum wird sie gefangen? Warum hat sie so viel "Pech" mit ihren Ehemännern? Warum ist sie überhaupt krank? Wegen dem Schicksal? Wegen der Kindheit? Wegen eines Fluches?
Das meiste findet keine Auflösung, und das ist gut. Es lässt dem Leser viel Raum, Deine Geschichte in seinem Kopf weiterzudenken. Atmosphärisch sehr stark und authentisch.

Ein paar Flüchtigkeitsfehler haben sich eingeschlichen (Interpunktion, fehlende Wörter), die Du mit Sicherheit beheben kannst, wenn Du Deine Geschichte noch einmal bearbeitest.

Beispiele:

"Kennen sie das Geräusch, ..." => "sie" natürlich groß zu schreiben.

"Sie möchten wissen wie es dazu kam?" => nach "wissen" Komma.

"Ihr gegenüber konnte ich mir keine Schwäche erlauben, denn ich war sie angewiesen." => "denn ich war auf sie angewiesen"

"(1) Wusste ich damals doch gar nicht, was eine Gummizelle war. (2) Dabei hatte ich, soweit ich mich erinnere nicht die Absicht gehabt, mich selbst zu verletzen. (3) Jetzt war ich in einer." => Um der Verständlichkeit willen würde ich die Sätze in der Reihenfolge: (1), (3), (2) anordnen.
 

Buffy

Mitglied
Danke für dein Feedback

Freut mich, wenn dir die Story gefallen hat.
Auch, dass du mich auf meine kleinen Fehlerteufelchen aufmerksam machst.
Meiner Erachtens ist "Sie" hier keine persönliche Anrede, also klein geschrieben.
Die Satzumstellung ist gut und auch das fehlende Wort. Ich werde es korrigieren.
Gruß Buffy
 

Buffy

Mitglied
Der Höllentrip-2. Fassung

Der Höllentrip
© 2004 by Katharina Wegeleben


Kennen sie das Geräusch, wenn hinter ihnen eine schwere Eisentür ins Schloss fällt? Die Angst, wenn diese von fremder Hand abgeschlossen wird? Das Gefühl, wenn ihnen langsam bewusst wird, gefangen zu sein?
Eingeschlossen! Der Freiheit beraubt!
Ich habe es bis zu jenem Tage nicht gewusst. Ehrlich gesagt, habe ich auch keinen Gedanken daran verschwendet. Schließlich war, und bin ich keine kriminelle Person.

Meine Erinnerungen an diese Zeit weisen Bruchstücke auf. Ein Phänomen, dass ich schon als Kind hatte. All meine irrationalen Ängste habe ich instinktiv in meinem Unterbewusstsein begraben. Mein Verstand lehnt es einfach ab, diese bewusst zu registrieren. Zu akzeptieren.
Und damals hatte ich Angst. Todesangst!

Sie möchten wissen, wie es dazu kam? Vielleicht auch, welche Tür es war, die sich hinter mir schloss?
Aber lassen sie mich von Anfang an beginnen. Vorausgesetzt, meine Puzzelstücke ergeben ein fertiges Bild.
Innerhalb von zwanzig Jahren hatte ich zwei Ehemänner begraben. War in einer Scheidung gefangen, die einem Rosenkrieg glich und wog nur noch 45 Kilo.
Mein Nervenkostüm war so dünn, dass ich die Symptome hätte erkennen müssen. Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Damals war es tabu, sich um fremde Hilfe zu bemühen.
Allein der Gedanke, einen Psychologen oder gar einen Psychiater aufzusuchen, wurde damals umgehend, mit Wahnsinn, oder Verrückt gleichgesetzt! Ein Klinikaufenthalt in dieser Richtung, und ich war gesellschaftlich tot.
Mein Ruf als zuverlässige Geschäftsfrau stand auf dem Spiel. Die Gesellschaft war mein Auftraggeber. Ihr gegenüber durfte ich mir keine Schwäche erlauben.
Freunde hatte ich nicht.
So fraß ich alle Ängste in mich hinein.
Angst, verlassen zu werden.
Vor der unverhofften Konfrontation mit dem Tod, den ich täglich durch meine Ehemänner vor Augen hatte.
Angst, meiner vermeintlichen Pflichterfüllung nicht gerecht zu werden.
Vor meiner Hilflosigkeit, meiner Ohnmacht.
So kam, was kommen musste.
Durch meine zwanghafte Fokussierung auf die jeweiligen aktuellen Situationen, hatte ich meine eigene Gesundheit sträflich vernachlässigt.
Der totale Nervenzusammenbruch war bereits vorprogrammiert.

Plötzlich war ich umgeben von Personen, die es nur gut mit mir meinten. Einem Arzt, der auf eine sofortige Einweisung in eine Klinik drängte. Sie redeten und redeten. Appellierten an meine Vernunft. Doch ich war in einem Zustand, der alles andere hören wollte.
Vernunft war das letzte, dass ich gebrauchen konnte.
Doch ihre Überredungskünste fanden immer neue Nahrung. Sie brauchten meine Zustimmung. Nach Stunden gab ich erschöpft mein OK.

So wurde der Krankenwagen gerufen und man brachte mich in eine Spezialklinik. Dass es sich um eine geschlossene psychiatrische Einrichtung handelte, hatte man mir nicht gesagt.
Die Erinnerung, wie die Eingangstür nach meinem Eintreffen in der Klinik, hinter mir abgeschlossen wurde, versetzt mich heute noch in Angst und Schrecken. Ich geriet in Panik. Wollte nach Hause. Schrie und tobte. Man gab mir eine Spritze, trotz meiner Weigerung. Dann wurde ich in einen Raum geführt, dessen Wände mit einem gummiähnlichen Material ausgeschlagen war. Auf dem Boden lag eine große Matratze. Die Eisentür mit dem kleinen vergitterten Guckloch schloss sich hinter mir. Sie hatte keine Türklinke.
Traumatische Erinnerungen an meine Kindheit kamen in mein Bewusstsein. Ich sah mich wieder in der kleinen dunklen Speisekammer eingesperrt. Als Strafe für Ungehorsamkeit.
Es gab kein Licht! Keine Türklinke! Kein Entkommen!
Dachte daran, wie es möglich war, dass Eltern ihr Kind einsperrten und es dann einfach vergessen konnten. Mich hatte man vergessen. Die Erinnerung an die acht endlosen Stunden der Verzweiflung, der Hilflosigkeit, der Angst zu ersticken.
Doch jetzt war ich kein Kind mehr. Ich war eine erwachsene Frau.
Das, was man mir antat, war schlichtweg Freiheitsberaubung. Dem hatte ich nicht zugestimmt. Obwohl? Hatte ich nicht irgendetwas unterschreiben müssen? Etwas, dass soviel aussagte, dass ich bei Gefahr der Selbstverletzung, ich mich einverstanden erklärte, mich zu meinem eigenen Schutz in eine Gummizelle zu stecken.
Wusste ich damals doch gar nicht, was eine Gummizelle war. Jetzt war ich in einer.
Dabei hatte ich, soweit ich mich erinnere, nicht die Absicht gehabt, mich selbst zu verletzen. Panische Angst überkam mich. Erst flehte ich, mich doch bitte herauszulassen. Doch vergeblich. Dann schrie ich um Hilfe.
Fluchte! Tobte! Raste!
Rannte mit dem Kopf gegen die Wände.
Völlig erschöpft brach ich auf der großen Matratze zusammen. In Embryohaltung und wimmernd wie ein Baby.
Das ein Arzt mich untersuchte. Schwestern mir Spitzen und Medizin verabreichten, registrierte ich nicht. Mein Verstand hatte einfach die Off-Taste gedrückt.
Als sich nach Stunden endlich die Tür öffnete und die Schwester mir sagte, ich könnte jetzt in mein Zimmer gebracht werden, war es mir gleichgültig. Alles war mir egal. Ich hatte keinen eigenen Willen mehr. Langsam, wie in Zeitlupe erhob ich mich. Der Boden unter mir schwankte. Krampfhaft bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, versuchte ich ihr zu folgen. Die Schwester musste mich stützen, als wir auf den Flur traten. Wie in Trance ließ ich mich ins Behandlungszimmer führen. Brav schluckte ich dort die Medikamente. Sah teilnahmslos zu, wie man mir erneut eine Spritze gab. Die Füße gaben unter mir nach, als man mich in mein Zimmer bringen wollte. Eine zweite Schwester wurde zu Hilfe gerufen. Als wir zu Dritt auf den Flur traten stockte mir der Atem. Der Linoleumbelag des Flures kam mir wellenförmig entgegen. Das Gefühl, dass ich dabei empfand, lässt sich sehr schwer beschreiben. Es war eine Mixtur aus Entsetzen, Angst und Spannung. Schlagartig war ich hellwach. Von Trance keine Spur mehr. So wie die Wellen des Flures, so stieg auch meine innere Neugier. Bei jeder neuen Welle die auf mich zukam, dachte ich daran. Wie ist es, wenn man ertrinkt?

„Sie müssen viel trinken. Wir lassen die Tür auf, dann haben sie etwas Licht“ hörte ich eine Schwester sagen, als sie mich zudeckte. Dann war ich allein. Unsicher schaute ich mich in dem schwach erleuchteten Zimmer um. Ich erinnere mich. Man hatte mich in einem Einzelzimmer mit Bad untergebracht.
Es war Nacht.
Eine Vollmondnacht.
Das bleiche weiße Licht schien ungehindert durch das Fenster. Klar konnte ich die schwarzen Konturen eines blattlosen Baumes vor dem Fenster erkennen. Seitlich davon die dunklen Tannen. Fast schwarz. Mit einer silbernen Aura umgeben.
Ebenso die Umrisse des Schrankes im Zimmer. Den Türrahmen zum Bad. Die zwei Stühle am kleinen runden Tisch, die Nachtkommode. Sowie das hölzerne Fußende des Bettes, in dem ich lag.
Meine Augen glitten an den Konturen entlang. Ich war überrascht von meiner Sehschärfe. Die Maserung des Holzes war lebendig. In stetiger Bewegung änderten sie Form und Farben. Spirale Formen! Bizarr! Ungewöhnlich!
Farben abstrakt. Solche hatte ich noch nie gesehen. Das ganze erinnerte mich an Rinnsale, oder kleine Wasserstrudel.
Ich schaute gebannt diesem ungewohnten Schauspiel zu. Ich weiß noch, dass ich in diesem Augenblick keine Angst verspürte. Im Gegenteil, es war faszinierend.
Daran erinnere ich mich genau.

Auch daran, dass ich ein Glas Wasser nach dem anderen trank.
Die Folge, ich musste dringend auf die Toilette. Im Ohr hatte ich noch die Worte der Schwester, „Bitte vorsichtig, wenn sie aufstehen müssen. Nicht dass sie uns noch hinfallen“.
So nahm ich mir vor, erst einmal ein paar Minuten auf der Bettkante sitzen zu bleiben. Das Unterfangen erwies sich schwieriger, als ich vermutet hatte. Als ich endlich die Füße aus dem Bett hatte und auf der Kante saß, war ich in Schweiß gebadet.
Das fahle Licht im Zimmer ließ die schwarze Kontur der Badezimmertür endlos erscheinen. Aus Angst, wieder in der Gummizelle zu landen, wagt ich nicht, nach der Schwester zu klingeln. Wenn nicht gehen, dachte ich, dann eben kriechen. Meine Hand tastete nach dem Lichtschalter für die Nachttischlampe.
Die Helligkeit blendete mich und ich schloss schnell sie Augen. Mit dem zaghaften öffnen meiner Lider, begann mein unvorstellbarer Horrortrip. Blitzschnell zog ich die Beine an und starrte entgeistert auf den Fußboden. Ich erinnere mich, dass ich beim Betreten des Raumes einen Teppichboden unter meinen Füßen gespürt hatte. Jetzt war er verschwunden. Auf dem Boden wimmelte es von kleinen Maden oder Würmern. Nein! Der Boden bestand aus Würmern. Grauen packte mich. Zwischen mir und dem Bad nur Würmer. Ich kauerte auf dem Bett und starrte auf das Getümmel.
Jetzt bin ich v errückt, schoss es mir durch den Kopf.
Gleich kommt die Zwangsjacke.
Oh, mein Gott! Bitte! Lass mich nicht ins Bett machen!
Nur nicht klingeln, bitte, nur nicht klingeln. Die lassen mich nie mehr raus. Ich werde für den Rest meines Lebens eingesperrt bleiben.
Auch daran erinnere ich mich. Diese und ähnliche Gedanken hatte ich, während mein Blick starr auf den Boden gerichtet war.

Der Druck wurde stärker. Ich musste auf die verdammte Toilette. Aber wie? Ich überlegte hin und her. Dann hatte ich die rettende Idee. Kurzerhand nahm ich die Bettdecke und warf diese länglich auf die Würmer. Das Kopfkissen nahm ich in die Hand. Vorsichtig stellte ich meine Füße auf die Decke, ging in die Hocke, dann auf die Knie. So kroch ich auf allen Vieren auf das Badezimmer zu. Rechts und links von mir das Gewimmel der Maden und Würmer.
Ekel stieg in mir hoch.
Angst, dass diese auch auf die Decke kommen könnten, ließ mich die Luft anhalten. Die Decke war zu kurz. Ich hatte richtig kalkuliert, mit dem Kissen erreichte ich die Tür des Badezimmers. Ich erhob mich, öffnete die diese und machte Licht.
Ungläubig sah ich auf die mit Kot verschmierten Wände. Auf den mit Urin bespritzen Toilettendeckel. Auf den Dreck in der Dusche und im Waschbecken. Ich hatte den bestialischen Gestank in meiner Nase. Mein Vorgänger hatte es nicht für nötig gehalten, seine Notdurft herunterzuspülen. Das war zuviel. Ich hockte mich in eine Ecke und erbrach. Obwohl ich kaum etwas im Magen hatte. Grüne Galle spuckte ich. Der Brechreiz nahm kein Ende. Jetzt war es mir auch egal. Mein Pipi würde gar nicht auffallen. So ließ ich dem Wasser seinen Lauf. Als ich das Bad verließ, nahm ich alle schmutzigen Handtücher mit und löschte schnell das Licht. Man konnte ja nicht wissen. Mein Bettzeug würde ich jedenfalls nicht mehr benutzen, sollte der Drang zur Toilette erneut sich melden. Das Bett erreichte ich kriechend, mit geschlossen Augen, nur am Bettzeug orientierend, ohne das Kopfkissen zu vergessen. Akribisch suchte ich das Kissen und den Bezug nach Würmern ab. Ich konnte keine finden. Doch das Gefühl, dass sich welche zwischen Bettdecke und Bezug verkrochen haben könnten, verfolgte mich. Mein Körper fing an, an den unmöglichsten Stellen zu jucken. Nur nicht kratzen. Die Angst vor der Gummizelle hielt mich zurück. Ich löschte das Licht und versuchte an etwas anderes zu denken. Doch dazu kam es nicht. Der Horrortrip ging weiter.

Der Mond hatte seine Bahn gezogen und schien nun voll in mein Zimmer. Tauchte es in ein kaltes, milchweißes Licht.
Die Wände sahen jetzt wie Wachs aus.
Hatte ich vorher mit offenen Augen im Bett gelegen, saß ich jetzt kerzengerade.
Meine Nackenhaare sträubten sich. Nein, die Wände waren aus Gummi. Gesichter drückten von außen dagegen. Ich sah Nasen. Münder. Augen. Sah sie untereinander sprechen. Wollten sie mir etwas sagen? Ihre Umrisse wurden immer deutlicher. Unschwer konnte ich die weiblichen, von den männlichen Gesichtern unterscheiden.
„Freund oder Feind“ flüsterte ich angstvoll.
Aber ich bekam keine Antwort.
Sah nur gebannt auf die Arme, die jetzt aus den Wänden kamen. Die nach mir greifen wollten.
Doch sie waren zu kurz.
„Danke lieber Gott“, flehte ich aus tiefsten Herzen.
Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick abwenden. Ich hypnotisierte den blattlosen Baum vor dem Fenster. Immer noch besser, als auf die Wände starren. Doch jetzt saßen dort Geier, Raben. Fledermäuse hingen an den Zweigen oder flogen um den Baum herum. Schlagartig wurde mir klar, dass ich heute noch sterben würde. Die Vorboten des Todes warteten bereits auf mich. Als ich sah, wie die Fledermäuse durch das geschlossene Fenster in mein Zimmer flogen, um meinen Kopf kreisten, gab es gar keinen Zweifel. Ich ergab mich meinem Schicksal. Der Tod konnte nicht schlimmer sein. Als mein geschwächter Körper endlich vom Schlaf übermannt wurde, seufzte ich erleichtert und ließ den Schlaf zu.

Der Schwester, die mich am nächsten Morgen weckte, erzählte ich von dem schmutzigen Badezimmer und bat darum, dass es gereinigt wird. Sie half mir beim Aufstehen und führte mich ins Bad. Es war sauber. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Kein Kot! Kein Urin! Kein Erbrochenes. Ich drehte mich um. Sah auf den Teppichboden. Es waren keine Würmer da und auch die Wände waren so stabil, dass man zwei Bilder aufgehängt hatte.

Und dennoch! Vor Gericht hätte ich geschworen, dass alles, was ich in jener Nacht gesehen hatte, der Wahrheit entsprach.
Später erfuhr ich, dass es sich um die Nebenwirkung eines Medikamentes handelte und dass es nur Halluzinationen waren.
Doch heute noch habe ich Angst vor jeder Tablette die man mir verschreibt.
Man kann nicht vorsichtig genug sein.
 



 
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