Der Kaffee

Klaus Zankl

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Der Kaffee

Erster Teil

Es war zu der Zeit, als sich der fünfzehnjährige Junge Tobias Kramer Gedanken darum machen mußte, wie er seine berufliche Zukunft gestalten wollte. Er war noch Pennäler der neunten Klasse einer Volksschule. Das zweite Halbjahr war bereits angebrochen, und da er trotz guter Zeugnisse meinte, er sei eher praktisch als theorethisch veranlagt, war es höchste Zeit, die ersten Bewerbungen zu schreiben und sie verschiedenen Handwerksbetrieben zuzuschicken.
Er bekam daraufhin viele Absagen; es waren mehrere Klempnereien dabei, eine Tischlerei, zwei Schmieden und eine Dreherei. Am Ende sagte jedoch eine Schlosserei zu; sie bat Tobias Kramer, er solle sich mit seinen Eltern beim Chef melden, um mit ihm ein kurzes Vorstellungsgespräch zu führen. Na bitte, wer sagte denn, daß man im Leben nicht auch einmal Glück haben konnte, zumindest die letzte Bewerbung hatte sich also gelohnt!
Zwar hatte Tobias’ Mutter wegen ihrer Grippe keine Möglichkeit, den Vorstellungstermin bei Herrn Reuter, dem Eigentümer des Betriebes, wahrzunehmen, jedoch schien es ausreichend, wenn ihr Sohn mit seinem Vater vorstellig würde, um alle Formalitäten zu besprechen.
Tobias war schon richtig aufgeregt. Ein neuer Lebensabschnitt würde beginnen, er würde sein erstes eigenes Geld verdienen, er würde eigene Werkstücke herstellen, er würde einen fauchenden Schweißbrenner einsetzen, er würde mit einem Hammer glühendes Eisen formen! Klasse!
Herr Reuter wartete bereits, als Tobias und sein Vater in der Firma eintrafen.
Er begrüßte beide herzlich und führte sie in sein Büro, in dem er platzzunehmen bat. Er war ein großgewachsener Mann mit derben Knochen und starken Muskeln und erweckte somit den Eindruck, daß hier der Chef noch selbst mit zupackte. Tobias selbst war eher zierlich und klein, der Anblick dieses großen Kerls flößte ihm deshalb einen gewissen Respekt ein, obwohl man von Angst nicht sprechen konnte.
Herr Reuter führte aus, daß nach seiner Ansicht Tobias’ Bewerbung die ordentlichste von allen eingegangenen Unterlagen gewesen sei und ihn auch die guten schulischen Leistungen beeindruckt hätten. Zwar habe er sich Tobias etwas kräftiger vorgestellt, aber der Junge sei ja längst noch nicht ausgewachsen. Es gebe daher keinen vernünftigen Grund, den Abschluß eines Lehrvertrages zu verweigern.
Er stand auf und suchte in einem Eckschrank nach einem Vertragsvordruck. Nach kurzer Zeit fand er einen, füllte ihn mit einem Kugelschreiber aus, setzte noch einen Firmenstempel in das dazugehörige Feld und legte ihn Tobias und seinem Vater vor, damit sie ihn unterschreiben konnten.
Daß dieses Vorstellungsgespräch so kurz ausfallen würde, hatte keiner von ihnen geahnt, geschweige denn gewußt. Aber wenn diese kurze Unterredung schon nach so kurzer Zeit zum Ziel führen würde, warum nicht?
Herr Reuter führte nach dem Vertragsabschluß beide Besucher in die Werkstatt, um ihnen einen Eindruck von der Arbeit in seiner Schlosserei zu verschaffen. Es wurden vor allem stählerne Fenster und Türen zusammengeschweißt, aber auch solche aus Aluminium zusammengesteckt und danach verschraubt. Der Betrieb hatte mit der Schreibkraft, dem Meister, den sechs Gesellen und den beiden Lehrlingen aus dem zweiten und dritten Lehrjahr insgesamt zehn Mitarbeiter. Die Arbeitszeit betrug üblicherweise acht Stunden und begann um sieben Uhr morgens.
Tobias’ Vater nickte den Angestellten, die die beiden Besucher inzwischen bemerkt hatten, kurz zu. Sein Sohn tat es ihm nach, besonders in bezug auf die Auszubildenden. Einer von ihnen sollte im nahenden Sommer seine Gesellenprüfung ablegen, sowohl theoretisch als natürlich auch praktisch. Tobias wünschte ihm viel Glück dazu und gutes Gelingen.
So, das war erstmal geschafft, der Lehrvertrag war unter Dach und Fach, die Firma hatte einen positiven Eindruck hinterlassen, der Chef war offenbar recht seriös und die künftige Arbeit das, was sich Tobias vorgestellt hatte, nämlich praktisch und handwerklich. Seine Schulkameraden hatten längst nicht alle eine solch zufriedenstellende Perspektive vor Augen, daher wollten manche von ihnen nach dem Abschluß eine weiterführende Schule besuchen wie etwa die Realschule, manche dachten sogar an das Gymnasium.
Im Sommer dann war es endlich soweit, die Zeugnisse wurden geschrieben und verteilt, der Direktor höchstpersönlich erschien noch einmal in den Abschlußklassen und verabschiedete jene, die nicht gerade sitzengeblieben waren. Die Sommerferien waren also zum Greifen nah, die Badehose schon bereitgelegt, und auch das Rennrad stand bereit, um mit ihm die eine oder andere Tour zu unternehmen. Auf Wiedersehen, du alte Schule!

Zweiter Teil

Ach, war das frühe Aufstehen mühsam! Als Schüler mußte Tobias auch immerhin um spätestens sieben Uhr aufstehen, aber da der Arbeitsbeginn entsprechend früher und auch der Weg weiter war, hieß es nun, um halb sechs Uhr war es aus mit der Nachtruhe. Noch vor den Eltern mußte er aufstehen, seine Brote für das Frühstück und die Pausen zubereiten und sich dann eilig mit dem Fahrrad auf den Weg begeben. Er mußte die Erfahrung machen, daß man ihn doch nicht gleich schmieden und schweißen ließ, wie er es sich einst vorgestellt hatte. Nein, ganz im Gegenteil, er war eigentlich nur dafür da, den Gesellen oder dem Meister Werkzeuge zu reichen, die Werkstatt zu fegen, die Aufenthaltsräume zu reinigen oder vor der ersten Pause einkaufen zu gehen. Ja, ihr habt recht gelesen, der arme Tobias wurde öfters zum Einkaufen in ein in der Nähe befindliches Geschäft geschickt. Zwar gab es auch noch die anderen Stifte, sie hatten jedoch, da sie an Ausbildungsjahren vorangeschritten waren, inzwischen gesellenähnliche Aufgaben und Aufträge. Der Vorgang des Einkaufens lief immer nach demselben Schema ab: vor der Pause sollte Tobias alle Mitarbeiter fragen, ob oder was er einkaufen solle, wobei der Chef nie etwas wollte, weil er sich stets alles Nötige von zu Hause mitbrachte. Bei den Handwerkern selbst war das anders: der eine wollte vielleicht etwas Marmelade, der nächste ein paar Brötchen, der dritte etwas Schinken und der letzte ein Päckchen Zigaretten. Jeder gab ihm dafür etwas Geld mit, aber natürlich hatte niemand den exakt passenden Betrag. So gab ihm der eine zwei, der nächste fünf und ein anderer zehn Mark. Die große Kunst bestand nun darin, sich alles genau zu notieren, die bestellte Ware, den Namen des Mitarbeiters und die Menge des erhaltenen Geldes im einzelnen. Es kam ein weiteres Problem hinzu: daß jeder Mensch sein eigenes Wesen und seinen eigenen Charakter hat, ist bekannt und nichts Neues. Dies galt dementsprechend auch für die Angestellten dieser Firma. So war der Meister herzenswarm, zwei Gesellen gleichgültig, zwei weitere arrogant, einer versnobbt und der letzte bösartig. Gerade diesem war natürlich nichts rechtzumachen, und so entwickelte Tobias nicht nur eine Abneigung gegen ihn, sondern, da er ja so klein und zierlich war, zum Teil starke Angst. So kam es, als er eines Tages wieder kurz vor der Frühstückspause zum Einkaufen geschickt wurde, daß er, neben den Wünschen der übrigen, von diesem Gesellen ein Glas Nescafè mitzubringen beauftragt wurde. Tobias schrieb sich, wie erwähnt, alles auf und bekam für die bestellte Ware Geld.
Das Einzelhandelsgeschäft war für ihn zu Fuß in fünf Minuten, mit dem Fahrrad gar in zwei Minuten zu erreichen.
Im Laden dann nahm er sich einen Einkaufswagen, zog seinen Zettel hervor und arbeitete Punkt für Punkt seine Liste ab, möglichst wortwörtlich, um auch Sonderwünsche, etwa nach dem Gewicht einer Ware oder ihrer genauen Beschaffenheit, befriedigen zu können und nicht etwa wegen irgendwelcher Verwechslungen ins Gerede zu kommen, insbesondere beim Bösartigen.
Fast geschafft! Alle Artikel waren erhältlich, auch der Nescafè, alles befand sich im Einkaufswagen, als er sich auf den Weg zur Kasse machte. Nun galt es noch, dort die mitgegebenen Gelder den Waren zuzuordnen, auch hier wären ärgerliche Verwechslungen möglich gewesen. Zur letzten Sicherheit hatte Tobias sogar alle Einzelbeträge in verschiedenen Taschen seines Blaumanns deponiert, um sie genau unterscheiden zu können.

Dritter Teil

Die Schlange an der Kasse war nicht lang, so daß er bereits nach ein oder zwei Minuten des Wartens alle Artikel auf das Förderband legen konnte. Sie wurden von der netten Verkäuferin eingetippt und abgerechnet. Zwar war das Koordinieren der Bezahlung unter diesen Umständen etwas kompliziert, aber mit etwas Konzentration war dies für Tobias keine unlösbare Aufgabe.
Ein älterer Herr stand hinter ihm und suchte schon einmal seine Brieftasche.
Endlich fertig! Tobias begann, seinen Einkauf in zwei Plastiktüten zu stecken, die er stets eigens zu diesem Zwecke mitzubringen pflegte. Alles bis auf den Nescafè war verstaut, als das Unglück geschah: gerade dieser Nescafè, der ja für den Bösartigen gedacht war, glitt ihm aus den Händen und zerbarst mit einem lauten Klirren auf dem steinernen Fußboden. Oh nein! Wie sollte er das in der Firma erklären? Und der Kaffee war doch auch noch so teuer! Fast zehn Mark! Wenn er eigenes Geld dabei gehabt hätte, was nicht der Fall war, wäre das Mißgeschick nicht so schlimm gewesen. Er hätte einfach auf eigene Rechnung neuen Kaffee gekauft und das Zerbersten des Glases verschwiegen. Auch wurde deutlich, daß das Geschäft den Schaden nicht tragen würde, da sich die Ware zum Zeitpunkt des Entgleitens bereits in seinem Besitze befunden hatte. Nun war guter Rat teuer!
Die übrigen Kunden und die Kassiererin waren natürlich auf Tobias aufmerksam geworden, aber sie konnten ihm auch nicht helfen, außer daß ein Verkäufer bereits nach Handfeger und Schippe suchte.
Der ältere Herr hinter Tobias wollte nun seinen Einkauf bezahlen, als er immer noch sein Portemonnaie suchte und nicht finden konnte. Da kam ihm ein Verdacht: offenbar hatte der junge Lehrling mit dem Blaumann vor ihm seine Geldbörse gestohlen! Und das Urlaubsgeld war auch noch darin!
Empört schritt er Tobias entgegen und rief ihm zu, er habe ihm Geld gestohlen und solle es sofort zurückgeben. Falls er dies nicht tun sollte, werde er unverzüglich die Polizei rufen.
Tobias stand immer noch unter dem Eindruck des zerbrochenen Glases, jetzt sollte er auch noch etwas geklaut haben - womöglich wollte man ihm auch noch einen Mord anhängen!
Der ältere Herr fing an, nervös in des Knabens Brusttaschen zu wühlen, damit er sein Geld zurückbekomme. Zwar fand er dort welches, aber natürlich nicht sein eigenes, sondern nur das Wechselgeld vom Einkauf für die Gesellen.
Der Junge stieß ihn mit seinen Händen zurück, zu dreist war ihm die Attacke des Alten.
Inzwischen war auch schon der Geschäftsführer herbeigeeilt, da er den kleinen Tumult von seinem Büro aus beobachtet hatte. Er fragte kurz, was hier vor sich gehe; die Kunden, die alles miterlebt hatten, erklärten es ihm.
Tobias wußte genau, daß er niemandem etwas getan habe; sollte doch die Polizei kommen, dann könnte er beweisen, daß er unschuldig sei!
Er teilte dem Geschäftsführer seine Überlegung mit; dieser stimmte zu und wollte gerade zum Telefon gehen, als der ältere Herr noch einmal in einer seiner Jackentaschen suchte. Mensch, das gab es doch nicht, mit einem Mal hielt er das verlorengewähnte Portemonnaie in seinen Händen! Er hatte anfangs nur nicht gründlich genug gesucht!
Diese überraschende Wende konnte allen Beteiligten nur recht sein, dem Knaben, dem älteren Manne, der Geschäftsführung und vielleicht sogar der Polizei.
Einige Kunden schimpften nun mit dem alten Herrn, er solle sich doch beim nächsten Male genauer überlegen, wo er seine Brieftasche gelassen habe und nicht gleich sinnlose Verdächtigungen ausstoßen.
Dieser war nun natürlich etwas beschämt. Was sollte er tun, um den moralischen Schaden wieder gutzumachen? Er näherte sich Tobias noch einmal, entschuldigte sich und gab ihm als Schmerzensgeld einen Zehnmarkschein.

Na, und was hat sich unser Held wohl davon gekauft? Na? Richtig, Kaffee natürlich!
 

Tadeya

Mitglied
Lieber Klaus!

Ich habe mit Interesse deine Kurzgeschichte gelesen und möchte nun etwas von meinem Senf dazugeben ;-)

Erstmal Kompliment für den sehr einheitlichen Erzählstil: relativ sachlich, mit hin und wieder einem kleinen Augenzwinkern.

Allerdings finde ich, daß die Vorgeschichte gemessen an der Pointe zu lang ist. Auf welche (relativ gewöhnliche) Weise der Lehrling nun genau an seine Stelle gekommen ist, tut eigentlich nicht viel zur Sache. Es unterstreicht weder besondere Charakterzüge des Tobias, noch hat es Auswirkungen auf die Situation an der Ladenkasse.

Interessanter für mich persönlich wäre es gewesen, die Bösartigkeit des bösartigen Kollegen etwas mehr herauszustellen, damit man besser vor Augen hat, was dem Tobias blühen könnte, wenn er ohne Nescafe zurück käme...
So wären die inneren Ängste des Lehrlings für den Leser noch besser nachvollziehbar.

Das ist mir dazu eingefallen.
Ich hoffe, du kannst meine Kritik konstruktiv verwerten.

Gruß von
 



 
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