Der König von Bengalen

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Der König von Bengalen
Wie jeden Tag wurde mein Mittagsnickerchen lautstark unterbrochen von diesem verfluchten Wärter, der seinen Schlagstock mit ohrenbetäubendem Lärm die Gitterstäbe meines Kerkers entlang fahren ließ. Sein scheinbar mutiges und martialisches Auftreten stand in so offensichtlichem Widerspruch zu seiner lächerlichen Feigheit, die ihn seit ich weiß nicht wie vielen Wochen davon abgehalten hatte, mir auch nur ein einziges Mal in die Augen zu blicken. Gewiss, völlig unbegründet war seine Feigheit nicht, denn wenn ich ihn auch nur eine winzige Sekunde lang zu fassen bekäme, dürfte es auf dieser Welt wenig geben, das ihn vor seinem wahrlich verdienten Schicksal bewahren könnte. So aber trollte ich mich in die ihm gegenüberliegende Ecke und wartete darauf, dass er durch eine Klappe, welche die Gitterstäbe auf seiner Seite durchbrach, wieder dieses kalte, übel riechende und madenzerfressene Stück Fleisch durchschob. Natürlich ließ ich ihn nicht aus den Augen, denn ich gab die Hoffnung nicht auf, dass er irgendwann einmal, vielleicht wenn er sich einmal ganz besonders mutig aufspielen wollte, einen allerletzten Fehler machen sollte. Als er sich wieder zurückzog schlenderte ich, wie es sich für jemanden meines Standes geziemt, mit vollkommen gleichgültiger Miene zu der Blechschüssel und versuchte, das Fleisch um die besonders faulen Stellen herum abzunagen. Dies war sicherlich der erniedrigendste Aspekt meiner Gefangenschaft, doch ich musste bei Kräften bleiben für genau jenen Moment der Unachtsamkeit, der mir zur Freiheit verhelfen sollte. Ich konnte warten, denn Geduld war schon immer die edelste Tugend der Könige von Bengalen.
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Heute war Bashir besonders aufgeregt. Nicht nur, dass sein Chef heute seinen jährlichen Kontrollgang durchführte, nein, er hatte auch noch seinen Parteikollegen, den Provinzgouverneur, im Schlepptau. Beim kleinsten Fehler würde sich Bashir also noch in derselben Sekunde im riesigem Arbeitslosenheer Bangladeshs wiederfinden. Auf einem hellbraunen Kiesweg gelangte die kleine Gruppe zu einem Hinweisschild, das erläuterte, wen der dahinter liegende Gitterkäfig gefangen hielt:

Bamla Raja, Spezies: panthera tigris.

Bashir näherte sich dem Tigerkäfig und hielt sich sklavisch an das Tierpfleger-Handbuch des staatlichen Zoos von Bangladeshs Hauptstadt Dhaka. Um dem Tiger unmissverständlich klar zu machen, wer hier das Sagen hatte, ließ er seinen Schlagstock die Gitterstäbe entlang rasseln, bevor er ihm seine tägliche Fleischration durch eine Klappe in den Käfig schob. Dem selbstgefälligen Gouverneur, im Volksmund wegen des bizarren Ausmaßes seiner Leibesfülle und seiner Korruption „König von Bengalen“ genannt, schien Bashirs selbstsicheres Auftreten zu gefallen. Ein wortloser Blick des Zoodirektors auf den völlig verdreckten Fußboden im Tigerkäfig jedoch trieb Bashir dicke Schweißtropfen auf die Stirn. Er öffnete also die Tür zu einer kleinen Seitenkammer des Käfigs, in der sich Besen und Schaufel befanden, beide jeweils befestigt an einem langen Stil. Bashir kniete sich neben die Gitterstäbe, um den Unrat aus dem Käfig in die Schaufel zu kehren. Er konnte sich nicht erinnern, wann er dies das letzte Mal getan hatte. Hätte er sich erinnert, dann wäre ihm vermutlich wieder eingefallen, dass das verrottete Vorhängeschloss der Käfigtür zur Seitenkammer nur noch dekorativen Zwecken diente. Bashir blickte konzentriert und angeekelt auf den Inhalt seiner Schaufel. Der laute Knall der aufgesprengten Käfigtür war das letzte Geräusch, das er hören sollte, bevor ihn eine lautlose Explosion des Schmerzes in eine bodenlose Dunkelheit stieß.

Während sich der agilere Zoodirektor noch in Sicherheit bringen konnte, blieb der Gouverneur zitternd vor dem sich langsam nähernden Tiger stehen. Sein letzter Blick streifte nochmals das Hinweisschild, und da endlich erschloss sich auch ihm die Bedeutung des Namens darauf: Bamla Raja heißt in der Landessprache nichts anderes als „König von Bengalen“. Auch der Gouverneur fand ein kurzes aber schmerzhaftes Ende, und das anschließende mark­er­schüt­ternde und meilenweit zu hörende Brüllen des Tigers beseitigte jeglichen Zweifel daran, wer König von Bengalen war.
 

Lakritze

Mitglied
Hallo Zweckoptimist,
ich war etwas erstaunt, als ich Deine Geschichte las -- es sind tatsächlich zwei, der Monolog des Tigers und dann die Geschichte mit dem Wärter. Wenn ich ehrlich bin, würde ich den Monolog komplett streichen -- er bereitet zu viel von dem vor, was im zweiten Teil kommt, fügt aber m.E. nichts Unverzichtbares hinzu. Das ginge sogar ganz ohne Änderungen im (dann) ersten Absatz, So wäre die Geschichte straffer.
Viele Grüße und viel Spaß noch --
L.
 
Vielen Dank, Lakritze, für Deinen Kommentar.

Ich wollte in einer maximal kurzen Geschichte (~ eine Normseite) mit der Perspektive spielen. Es handelt sich, bis zu dem Punkt, an dem der Tiger ausbricht, tatsächlich um eine einzige Geschichte, zweimal erzählt. Offensichtlich hat aber mein Perspektivwechsel nicht geklappt, wenn's der Leser nicht bemerkt. Na ja, muss ich wohl noch etwas üben ...

Viele Grüße

Zweckoptimist
 

Lakritze

Mitglied
Hallo Zweckoptimist, dochdoch, der Perspektivwechsel ist absolut klar. Nur gewinnt die Geschichte dadurch nicht -- im Gegenteil; Teil 2 verliert an Spannung. Darum mein Kürzungsantrag. --L.
 



 
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