Der Kurschatten

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Maribu

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Der Kurschatten

Obwohl ich mich noch in München, mit dem ICE von Hannover kommend, relativ frisch gefühlt hatte, baute ich in der anschließenden einstündigen Bahnfahrt in dem überfüllten Eilzug sehr schnell ab.
Aber als ich dann gegen 16 Uhr das Alpensanatorium erreicht hatte, war ich hellwach: Ein sechsstöckiger, architektonisch interessant gegliederter Bau, eingebettet zwischen alten Bäumen, umgeben von Wald und Wiesen, von denen die Kuhglocken herüberklangen.
Mir wurde ein fester Platz zugewiesen. Meine Nachbarn waren ein Ehepaar aus Westfalen und Elke Rohde, eine junge, dunkelhaarige Frau aus Osnabrück, der ich bereits an der Rezeption begegnet war.
Die Eheleute erzählten mir am Sonntag beim Frühstück, dass sie morgens zwischen vier und fünf durch Türenklappen wach geworden seien. Sie meinten, die "Kurschatten" wären in ihre Zimmer zurückgekehrt.
Meine Arbeitskolleginnen hatten Wetten abgeschlossen, dass ich mich vor erlebnishungrigen Männern nicht retten könne. Eine ältere Kollegin, die bereits viermal eine Kur hinter sich hatte, erzählte die abenteuerlichsten Geschichten.
Bisher konnte ich mich nicht beklagen! Ich bemerkte zwar den einen oder anderen abschätzenden Blick, aber das war ich auch von zu Hause gewohnt. Schließlich war ich mit meinen zweiundvierzig Jahren, dem Idealgewicht, mit meinen blonden Haaren, zwar zu niedrigem Blutdruck und gestresst, noch eine attraktive Frau!
Jeden zweiten Abend telefonierte ich mit Christine, die ich bei meinen Eltern untergebracht hatte. Doris, die seit einem halben Jahr ausgezogen war, erreichte ich erst nach zwei Wochen und bedankte mich für ihr Geschenk für die langen Abende, Donald Mc Caigs Roman "Rhett", eine zweite Fortsetzung von "Vom Winde verweht".
Am Sonntag vor meiner Abreise überredete Elke mich, zum Tanzen mit ins Kurhaus zu kommen. An dem Tisch vor uns, der unmittelbar an der Tanzfläche stand, saß ein dunkelhaariger Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, mit Menjoubärtchen, ein Glas Gin-Tonic oder ähnliches vor sich, und beobachtete rauchend die tanzenden Paare. Ab und zu warf er einen flüchtigen Blick zu uns herüber. Die Kapelle spielte als drittes Stück "Spanish Eyes" und einer aus der Band versuchte sich als Sänger. Dieses Lied rief eine ganz bestimmte Erinnerung in mir hervor, und ich hätte gerne danach getanzt.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass er aufstand und unseren Tisch ansteuerte. Der konnte doch bestimmt keine Gedanken lesen! Wen würde er auffordern - Elke oder mich?
Plötzlich spürte ich meinen Herzschlag, kam mir wie ein Teenager vor und musste innerlich lächeln. Dann stand er auch schon vor mir, machte eine korrekte Verbeugung und fragte:
"Darf ich bitten!" Seine Stimme hatte einen sympathischen Klang, irgendwie aus Richtung Rheinland. Ich erhob mich langsam. Sein Händedruck war angenehm warm und nicht zu fest, und nach kurzer Unsicherheit beim Führen drehten wir uns harmonisch nach der einschmeichelnden Musik.
Ich musste zu ihm aufschauen - die ein Meter fünfundachtzig oder mehr hatte ich während seines Sitzens nicht vermutet - und sah, dass sein dunkles Haar doch schon von einigen grauen Strähnen durchzogen war. Er trug es links gescheitelt, halblang über den Ohren, und hatte geschickt mit einigen langen Haaren die 'Geheimratsecken' überdeckt.
Aus einem leicht gebräunten Gesicht lächelten tiefbraune Augen auf mich herab. Die Musik war sehr gut, es wäre aber besser gewesen, wenn man auf den Gesang verzichtet hätte.
Er empfand es wohl ebenso, denn er lästerte: "Al Martino ist das aber nicht!"
Ich lächelte nur und musterte ihn weiter. Mir fiel auf, dass sein Bart wesentlich dunkler als das Haar war. - Hatte er ihn vielleicht gefärbt? Und ich wäre bald mit der Bemerkung herausgeplatzt - biss mir im letzten Moment noch auf die Lippen - "Sie sind ja auch nicht Rhett Butler!"
Er musste meine Regung gespürt haben und sagte freundlich:
"Irgend etwas haben Sie mir jetzt verschwiegen! Nur keine Hemmungen, ich bin hart im Nehmen!"
Doch bevor mir etwas Diplomatisches einfallen konnte, ging der Tanz zu Ende und die Kapelle gönnte sich eine Pause.
Er bedankte sich und brachte mich an meinen Platz zurück. Als er an seinem Tisch ankam, zündete er sich sofort eine Zigarette an. Ich genoss meinen Wein und plauderte mit Elke, die auch von der Tanzfläche zurück gekommen war.
Nach der Pause trat der Sänger ans Mikrophon und kündigte unter Applaus 'Damenwahl' an. Ich war überrascht, als könnte ihn mir jemand wegnehmen, wie schnell ich vor ihm stand. Er sprang sofort auf und sagte lächelnd, indem er mich auf die Tanzfläche führte: "Ich habe gerade an Sie gedacht, ob Sie mich wohl holen würden?"
"Es war reines Mitleid, und Sie brauchen sich nichts darauf einzubilden!" erwiderte ich, immer noch erschreckt über meinen Mut. "In welchem Sanatorium sind Sie eigentlich untergebracht? Hat man Ihnen dort zur Gesundung 'Kettenrauchen' verordnet?" Ich blieb ganz ernst.
Er war verblüfft, konnte nicht darüber lachen und antwortete zaghaft: "Unterland-Klinik - und Sie?"
"Eichberg-Klinik, aber nur noch bis morgen früh."
"Schade!" bedauerte er.
"Wieso?" Ich wollte es genau wissen.
"Weil ein 'Nicht-Raucher-Kursus' länger dauert!" Jetzt mussten wir beide lachen und er bemerkte fast nebenbei: "Ihre Bekannte ist eben weggegangen."
Ich drehte mich zu unserem Tisch um. Tatsächlich, Elkes Platz war leer und ihre Handtasche verschwunden. Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr und in knapp dreißig Minuten wird die Außentür abgeschlossen. "Ich muss auch gehen!" sagte ich bestimmt. "Sonst muss ich im Freien übernachten!"
Er bot an, mich zu begleiten, da es für ihn kein großer Umweg sei. Draußen bat er um Entschuldigung, weil er sich noch nicht vorgestellt hatte. Er hieß Völker, war Verkaufsleiter für Büro-Kommunikation, kinderlos verheiratet und wohnte in Düsseldorf. "Ihrem Dialekt nach kommen Sie aus Norddeutschland, sind ebenfalls verheiratet und haben zwei oder drei Kinder. - Habe ich recht?" Er lachte schelmisch.
"So kann man auch Leute ausfragen!" stellte ich schmunzelnd fest. Ich erzählte ihm, dass ich in einem Vorort von Hannover wohne und zwei Töchter von achtzehn und sieben Jahren habe.
"Noch so ein Nachkömmling nach elf Jahren?" war er erstaunt.
"Sie sind von verschiedenen Vätern", antwortete ich kurz. Da ich spürte, dass er nicht nachfragen mochte, ergänzte ich:
"Von meinem ersten Mann bin ich geschieden, und Werner, mein zweiter Mann, verunglückte vor drei Jahren tödlich."
Eine Zeitlang gingen wir schweigend nebeneinander her. "Was machen Sie beruflich?" fragte er dann.
"Ich habe in der Verwaltung eines großen Kaufhauses gelernt, bin da geblieben und habe einige Jahre vor und zwischen den Kindern in der Buchhaltung gearbeitet. Seit dem Tod meines Mannes verkaufe ich in diesem Hause Gardinen und Dekorations-Stoffe. Ich wollte einfach mal Abwechslung, wollte mehr Leben, Menschen um mich haben und nicht nur Zahlen!" Ich wunderte mich sehr, dass ich diesem wildfremden Herrn Völker so viel von mir anvertraute.
"Das kann ich sehr gut verstehen!" antwortete er und gab mir die Hand, da wir vor der Klinik angekommen waren. "Wann geht Ihr Zug?"
"Neun Uhr zweiundzwanzig."
"Meiner auch", er lachte. "Aber in einer Woche!" Er drehte sich halb um, hob die rechte Hand und sagte, schon im Gehen:
"Ich wünsche Ihnen alles Gute!"
"Danke!" erwiderte ich. "Auch für Sie!" Ich schloss die Tür hinter mir, ohne mich umzusehen.
Am nächsten Morgen traute ich meinen Augen nicht. Er stand auf dem Bahnsteig, einen kleinen Blumenstrauß in der Hand, die Zigarette verwegen im Mundwinkel. "Ich wollte Sie doch nicht so einfach fahren lassen!" Er überreichte mir lachend die Blumen und half, die Reisetasche im Abteil zu verstauen. Dann musste er schon aussteigen, da der Zug nur kurz hielt.
"Auf Wiedersehen!" rief ich. "Und vielen Dank für die Blumen!"
Sein "Auf Wiedersehen" hörte sich eher wie eine Frage an. Ernst, fast traurig, blickte er dem Zug hinterher, mit der rechten Hand zaghaft winkend.
Er hatte das Papier zur Hälfte um die Stiele gerafft, und ich bemerkte erst jetzt den dahinter verborgenen kleinen Umschlag.
Er enthielt eine Visitenkarte mit Namen und Sitz der Firma, für die er tätig ist sowie seinen Namen mit der Privatanschrift. Die eingedruckte Straße war mit Kugelschreiber durchgestrichen und handschriftlich durch eine andere ersetzt worden. Und dahinter stand in Klammern das Wort
'allein'! Ich drehte die Karte um und las:
'SEHR GEEHRTE FRAU BOYSEN, ICH BEDAURE SEHR, DASS ICH SIE NICHT FRÜHER KENNEN GELERNT HABE. ICH HÄTTE NOCH VIELE FRAGEN GEHABT! - ABER ICH HABE DIE GROßE HOFFNUNG, DASS SIE DEN 'NICHT-RAUCHER-KURSUS' MIT MIR FORTSETZEN MÖCHTEN! IHR WOLFGANG VÖLKER'
Ich musste herzhaft lachen. Dieser "Rhett-Butler-Verschnitt" hatte mich irgendwie beeindruckt. Was sollte ich von ihm halten? Die neue Anschrift von ihm mit dem Vermerk 'allein' signalisierte: er war ausgezogen - ohne seine Frau! Offenbar wartete er jetzt auf ein Lebenszeichen von mir. - War das nun ein 'Kurschatten'? Wenn ich das übermorgen meinen Kolleginnen erzählte, würden sie mich bestimmt auslachen!
Er wird erst in einer Woche zu Hause sein. Ich hatte also noch viel Zeit, zu überlegen und dachte wie 'Scarlett': 'Schließlich, morgen ist auch ein Tag.'
 
Hallo Maribu,

deine Erzählung gefällt mir.
Sie ist frisch geschrieben, sie liest sich für mich echt, als ob du sie selbst erlebt hättest.
Der Satz: "architektonisch interessant gegliederter Bau, eingebettet zwischen alten Bäumen, umgeben von Wald und Wiesen, von denen die Kuhglocken herüberklangen“ hat es mir angetan.
Eingebettet ist ein angenehmer Ausdruck.
„Architektonisch interessant gegliedert“ macht mich neugierig auf eine detaillierte Beschreibung.
Die Beschreibung des Mannes finde ich gelungen.
Das Ende der Erzählung läßt ich schmunzeln.

Ich wünsche dir noch viele interessante Ideen für deine Erzählungen.

Liebe Grüße. Rhondaly.
 

Maribu

Mitglied
Hallo Rhondaly Da Costa,

wenn ein Leser das Gefühl hat, es sei selbst erlebt, ist der Text zumindest realistisch - oder wie man heute so gerne sagt-
authentisch.

Vielen Dank für die aufbauende Bewertung; die wird sicherlich
zur weiteren Kreativität beitragen!
Liebe Grüße
Maribu
 



 
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