Der Mann, der gerne den Zügen nachschaute...

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Zarathustra

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Der Mann, der gerne den Zügen nachschaute


Schwarz - braun und endlos
sind manche Ackerfurchen
wie Gräberfelder
vergessen vom letzten Krieg
schreien laut und hoffnungslos

Dieses Gedicht könnte ein Anfang sein zu mehr, so sagte ein guter Freund von mir. Er meinte, dass meine Ackerfurchen so schwarz-braun sind, weil sie einen Anklang an Bert Brecht suchen:

der "Schoß ist fruchtbar noch,
aus dem das kroch....."

Aber sie finden ihn nicht,- den Anklang zu Bert Brecht. Mein Gedicht war vor Brecht, obwohl ich es erst gestern geschrieben habe.

Es ist immer der letzte Krieg, dessen Gräberfelder laut und hoffnungslos schreien. Und es gibt viele letzte Kriege. Würden die Toten und die Gräber des Krieges der morgen kommt genau so laut rufen können, wie die Schädelstätten der vergangenen Kriege; - würden wir dann hören? Würde sich irgendetwas ändern?

Vergessen wir die Ackerfurchen und lassen wir die Gräberfelder schweigen. Werfen wir eine Schaufel schwarz-braune Erde darauf. Dann sind die Stimmen der Toten zwar nicht ruhig, aber sie sind leiser. Wir können wieder ruhig schlafen.

Vergessen wir doch endlich den letzten Krieg. Wo sich doch sogar tief aufgerissene Bombenkrater im Wald schon nach wenigen Jahren wieder begrünen, weil die Natur alles wieder auslöscht und heilt, - aus lauter Barmherzigkeit zudeckt, was der Mensch zerstört hat.

So dachte auch Martin Schrodek.

Er dachte über sein Gedicht nach.
Das Gedicht über die schwarz-braunen Ackerfurchen.
Es war sein Gedicht.
Sie hatten es verboten.
Damals hatten sie es verbrannt.

Weil es die endlos langen Ackerfurchen nicht geben darf, die wie Gräberfelder sind, die der letzte Krieg vergessen hat. Einfach weggeworfen hat er die Menschen als das Sterben endlich aus war; - endlich vorbei!

Damals wollten sie nicht hören. Die Menschen wollten taub sein: „Tausendmaltausend Tonnen schwarz-braune Erde auf die Gräber, damit endlich Ruhe herrscht!“
Heute können die Menschen nicht mehr hören, auch wenn sie wollten.

„Heute sind sie taub“, so dachte auch Martin Schrodek, als er einsam und wie verloren am Bahnhof stand.
Er sah dem ausfahrenden Zug nach; - seinen Lichtern.

Er hörte, wie sich das Knattern und Holpern, das stöhnende Quietschen langsam entfernte und leiser wurde. Der Zug schlingerte, ruckte nach rechts und wand sich aus dem Bahnhof heraus. Er ratterte in die Ferne.

Martin Schrodek war der Mann, der gerne den Zügen nachschaute.

Seit er ein Kind war, schaute er gerne den Zügen nach.
Als Kind lebte er in Masuren.
Sein Ostpreußen war lange schon polnisch geworden.
Seine Geburtsstadt Lyck hieß jetzt Elk.
Aber das war einerlei für ihn.
Heimat bleibt Heimat, denn Züge sehen von hinten alle gleich aus.

Sieht das Leben der Menschen von hinten auch immer gleich aus? Vom Tod her betrachtet? Erkennt man nicht die Priester an ihrem Chormantel, am Zölibat und der Heiligkeit. Die Seeleute an ihrem schaukelnden Gang, an der Tätowierung und den Bräuten in den Häfen?
Und wie ist das mit unseren Gedanken. Sehen sie von hinten auch alle gleich aus? Wenn Wünsche unerreichbar sind, fangen sie an von uns wegzulaufen, wir lassen sie gehen. Wir sehen sie von hinten, und dann sehen sie oft hässlich aus; - und manchmal sind sie uns selbst seltsam fremd.

Der Mann, der gerne den Zügen nachschaute, hatte gelernt so zu denken. Sonst hätte er in Flossenbrück nicht überlebt, als sie ihn immer und immer wieder mit dem Gummischlauch geschlagen hatten. Seine Pisse musste er anschauen, wie sie an seinen Beinen herunter lief um im festgestampften Sand zu versickern. Der Bunker stank wie ein Katzenklo. Blut, Urin und Erbrochenes.
Aber das Bild von den Gräberfeldern konnten sie aus ihm nicht herausprügeln.

Als er dem Zug nachschaute, erwachte das Bild wieder in ihm. Es erwachte und rief durch die Nacht. Es schrie wie früher, - schrie mit gepeinigter Stimme; - schrie laut und hoffnungslos.
Durch Mark und Bein ging das Geschrei.
Das Geschrei aus den Gräbern.
Gibt es deshalb so endlos lange Ackerfurchen mit schwarz-brauner Erde? Zum Ersticken der Schreie?

Martin Schrodek war ein Mann, der wusste, dass Graberde auch rot sein konnte, blutrot sogar! Er sagte das auch oft genug. Auch Jahrzehnte später – als alter Mann - hatte er noch Angst vor Prügel, wenn er so redete.

Damals in Ostpreußen hatte es angefangen, das Reden.
Weil sonst niemand etwas sagte.
Nur der liebe Gott vielleicht, aber den hatte man ja auch eingesperrt.
Er war irgendwie einsilbig geworden, er sprach nur noch wenig mit den Menschen.
Darum musste Martin Schrodek etwas sagen.
Aber es hörte keiner zu, damals in Lyck oder sonstwo.

Trotzdem schrieb er dieses Gedicht. Er schrieb es mit Bleistift auf ein Blatt Papier und steckte es seinem Pfarrer zu. Er schrieb es mit Tinte in ein Heft, das er seiner Mutter gab. Er kritzelte es mit Kreide an das Hoftor des stellvertretenden Ortsvorsitzenden der NSDAP. Das aber hätte er besser nicht getan!

Damals in Ostpreußen hatte es auch angefangen, mit den Zügen. Schon als er ein Kind war, sah er ihnen gerne nach. Besonders die schaukelnden roten Lichter hatten es ihm angetan. Dünne Lichter waren es. Zitternd und vage tanzten sie im Nebel, tanzten wie Irrlichter.

Es war einfach für Martin Schrodek, den Zügen nachzuschauen. Die Bahnstrecke in seiner Heimat war nämlich nur einspurig.Und das genügte vollkommen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, länger als für zwei oder drei Tage nach Lyck zu kommen; - und keiner der etwas auf sich hielt, würde bis nach Königsberg oder sonst wohin fahren um dort zu bleiben.
Wer verlässt schon gerne seine Heimat?

Das alles änderte sich im März 1933. Es war eine nicht mehr ganz freie Wahl. Die NSDAP führte eine Propagandaschlacht, ohne gleichen. In vielen Regionen zeigte das Wirkung. So einsilbig die Menschen in Ostpreußen waren, so eindeutig war das Wahlergebnis: Gut 80% der Wähler gaben im Kreis Lyck der NSDAP ihre Stimme. Die Nazis waren wie in einem Rausch. Der Führer war ganz gerührt vor Freude!

Für Martin Schrodek aber war die Stunde gekommen, wo er nicht mehr den Zügen nachsehen und von der Ferne träumen konnte. Er musste den Zug besteigen und seine Heimat verlassen.
Auch wenn die Kreideschrift auf dem Hoftor des Nazibonzen fast schon verblichen und vom Regen abgewaschen war.

Ein Mann in Brauner Uniform reckte sich und schlug sich mit der Reitgerte auf den Stiefelschaft, dann grinste er voller Genugtuung, als Schrodek mit gesenktem Kopf und seinem abgestoßenen Lederkoffer am Gemeindehaus vorbeischlurfte. Martin Schrodek ging schleppend. Das hatte auch seinen Grund: Nazis vergessen nicht; - besonders seit dem sie im Recht waren. Und das waren sie ab 1938. Er aber konnte sich nicht wehren, als sie im die Knickerbockerhosen von den Hüften zerrten und ihn mit einem Fahrradschlauch der mit Sand gefüllt war grün und blau schlugen.

Der junge Mann stieg in den Zug.
Er nahm Abschied. Abschied von der Heimat, von der Vergangenheit und auch Abschied von der Zukunft. Er für nach Westen.

Dort aber schrie das Leid bald zum Himmel.

Nur wenige Jahre später trank er mit hunderttausenden die Schwarze Milch der Frühe, trank sie mittags und morgens und trank sie nachts.

Trank sie zusammen mit anderen, und schaufelte ein Grab in den Lüften, dort liegt man nicht eng!
Schornsteine rauchten bald.
Es stank bestialisch, als Israels Leib, verbrannt und aufgelöst in Rauch durch die Luft schwebte. Auch dieses Schreien hörte niemand! Niemand hörte das Werben des Todes, als er das Volk rief ihm zu folgen.

Darum steht heute noch ein alter Mann an irgendeinem Bahnhof in Deutschland. Er wird in keinen Zug mehr steigen, denn der Mann war Martin Schrodek, er war der Mann, der gerne den Zügen nachschaute.
 
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nobody

Gast
Der Mann, der den Zügen nachsah - von Simenon, kenne ich... Ich war aber der Meinung, es gibt auch einen Roman mit dem Titel "Der Mann, der gerne den Zügen nachschaute" - oder nur eine Metapher? Bildungslücke? Kannst Du mir helfen?
LG Franz
 

Zarathustra

Mitglied
Hallo Nobody,

schön, dass du meine Geschichte gelesen hast. (oder doch nur den Titel..)

Es ist so: Ich kenne den Roman von Simeon nur dem Titel nach. Ich wollte auch gar nichts plagiatisieren.

Was mich immer beschäftigt, ist der Blick hinter einem Zug her. Je älter ich werde, desto mehr beeindruckt mich dieses Bild.

Ich denke dann immer an meine Geschichte, die Vergangenheit meiner Bekannten und Verwandten.

So ist diese Erzählung entstanden. Bekanntes und Erzähltes, Gelesenes und Gehörtes -- habe ich miteinander verwoben.

L. G. Hans
 
N

nobody

Gast
Lieber Hans, ich habe auch den Text gelesen!

Der Titel war mir irgendwie geläufig, und ich dachte, da wäre eine versteckte Botschaft enthalten, die deinem Text einen zusätzlichen Aspekt verleiht ... na ja, hab mich eben geirrt.
In Simenons Roman bricht der Protagonist Popinga aus seinem braven Leben aus, nachdem sein bewunderter Chef mit der Firmenkasse verschwunden ist; für Popinga fallen die moralischen Schranken, er nimmt den Zug nach Paris und will einmal richtig leben und lieben - dafür geht er über Leichen (frei zitiert aus "Amazon").

Ein düsteres Bild, das Du da (wieder einmal) beschreibst, fährst Geschütze wie Brecht und Celan auf (sogar der Rhytmus aus der Todesfuge klingt durch) - die Züge sind doch längst abgefahren.
LG Franz
 

Zarathustra

Mitglied
Hallo Franz,

ja, die Züge sind abgefahren. Aber sie lassen viele heimatlose zurück. Viele sprachlose Väter, viele stumme Zeugen und vieles andere.

Du hast recht: Brecht und Celan klingen durch und auch die sehr verehrte Nobelpreisträgerin Nelly Sachs.

L.G. Hans
 



 
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