Der Mann, der nicht mehr wollte

Pinky

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Eine grelle Explosion ganz in seiner Nähe warf ihn zu Boden. Instinktiv rollte er sich in den Bombenkrater hinein und preßte sich tief auf die Erde. Kugeln sirrten durch die Luft und die Schreie der Verwundeten hallten von den Häuserwänden wider, wurden jedoch vom Artilleriefeuer übertönt. Gleich neben ihm lag einer seiner Kameraden. Er kannte ihn zumindest vom Sehen her - oder besser: hatte ihn gekannt, denn jetzt war er tot. Eine Granate hatte dem armen Schwein das halbe Gesicht weggerissen.
Ruhig sah er wieder weg. In den letzten drei Jahren war er dem Tod so oft begegnet, daß er ihn in und auswendig kannte, in jeder nur denkbaren Variation. Manchen sah man die Verwundung fast nicht an, bei anderen wieder erkannte man nahezu nicht einmal mehr, daß das je ein Mensch gewesen war. Und wozu das alles? Weil sich irgendwelche spinnenden Machthaber wieder einmal nicht ganz einig waren.
Er fluchte lauthals, streckte dann den Kopf in die Höhe und jagte einen MP-Garbe zu feindlichen Linie hinüber. Wo der Rest seines Zuge steckte, wußte er nicht so genau. Irgendwann im Kampfgetümmel hatte er den Anschluß verloren. Er wußte bloß, daß der Treffpunkt seiner Truppe die Fabrik etwa fünfhundert Meter vor ihm war. Allerdings kämpften die verdammten Arschkerle so verbissen drum, als ginge es um ihr Leben. Nun, genaugenommen war es auch so.
Noch einmal blickte er sichernd hoch, sprang dann auf und jagte zum nächsten Bombenkrater, dabei schoß er unentwegt. Er wußte nicht, ob er dabei jemanden traf, aber eigentlich war ihm das herzlich egal. Das alles hier war ohnehin lächerlich. Erwachsene Männer stürmten zwischen Häuserruinen herum und wälzten sich dabei in Dreck und Schutt. Zu Hause stand viel Arbeit an, aber nein, sie mußten hier Haschmich spielen. Und das auf Leben und Tod.
Wieder warf er sich zu Boden. Eine weitere Explosion erschütterte den Erdboden, und dort, wo eben noch ein Wohnblock gestanden hatte, ragte nun ein staubwallender Schutthaufen empor. Aus einem reinen Reflex heraus, riß er seine Waffe in die Höhe und feuerte. Knapp darauf hörte er einen gellenden Todesschrei. Verdammt! Wenn er dachte, daß er nun vielleicht einen Menschen getötet hatte. Einen Menschen mit Träumen, mit Wünschen, mit einer Familie und Freunden und mit einer Vergangenheit - allerdings mit keiner Zukunft mehr. Wenn er daran dachte, nagte das schon an seinem innersten Selbst.
Mit einem Kopfschütteln versuchte er den Gedanken zu verjagen wie ein lästiges Insekt. Wenn er erst darüber nachzugrübeln begann, würde er noch verrückt werden.
Er kroch zum Rand seines Kraters und spähte hinaus. Es war verhältnismäßig ruhig, sah man einmal von dem beständigen Artilleriefeuer ab. So sprang er wieder hoch und hastete zu einem Schutthaufen. Er warf sich wieder kurz nieder, rannte dann geduckt weiter, feuerte, als er eine Bewegung auf der gegnerischen Seite sah, und ließ sich zur Seite fallen, als die Gegner nun ihrerseits das Feuer erwiderten. Hastig rollte er sich hinter einen Schutthaufen, von denen hier ja genug waren. Überhaupt bestand die Gegend nur aus Schutthaufen, Granatenkratern, leeren Häuserruinen und einer ganzen Menge Toten. Überall lagen sie - und nicht nur von einer Seite. Sowohl eigene als auch fremde Uniformen sah er hier. Tote auf beiden Seiten, einer sah schlimmer aus wie der andere. Und alle sinnlos gestorben. Und zu Hause sollte jemand die Felder bestellen. Die Tiere wollten gefüttert, Nahrungsmittel mußten erzeugt und alles andere mögliche hergestellt werden.
Mit unglaublicher Klarheit registrierte er plötzlich, wie einige Steinchen den Haufen hinunterkullerten - und alles erschien ihm plötzlich noch unsinniger wie zuvor. Er seufzte, richtete sich auf, schoß sicherheitshalber ein paar Mal und stürmte dann weiter geduckt nach vor in Richtung Fabrik.
Wieder donnerten die Geschütze, allerdings dieses Mal von der anderen Seite. Seine eigene Truppe hatten die Mühlen endliche angeworfen. Rundherum kamen die Leute aus den Gräben und rannten, wild schießend, auf den Feind zu. Warum brüllten sie dabei bloß so wütend? Wahrscheinlich, um ihre eigene Angst zu überdecken. Er hatte keinen Grund, wütend zu sein. Schon gar nicht auf Leute, die er überhaupt nicht kannte. Eigentlich war er ja bloß hier, weil er sonst wegen Feigheit vor dem Feind erschossen werden würde. Und auf die anderen schoß er bloß, damit sie ihn selbst nicht trafen. Aber er sah keinen Grund, auf sie wütend zu sein. Noch hatten sie ihm ja nichts getan.
Weiter vor ihm explodierte ein riesiger Wohnblock. Er hörte genau das schrille Schreien der darin stationierten Gegner. Kein einziger würde da herauskommen.
Aber die anderen ließen sich das nicht gefallen. Anstatt sich nur aufs Verteidigen zu beschränken, machten sie nun einen Ausfall - leider unterstützt von ihren Geschützen.
Er warf sich wieder in einen Krater und landete dabei fast auf einem toten Kameraden. Angeekelt rollte er zur Seite. Aber sein Blick ging doch noch einmal zu dem Mann zurück und fiel dabei auf seine Hundemarke. Da mußte er plötzlich an das Medaillon denken, das er um seinen Hals trug, und in dem sich ein Bild von seiner Frau befand. Und da mußte er wieder an sie denken. Nicht vorzustellen, was es für ihn bedeuten würde, sie nie wieder zu sehen. Hoffentlich war ihr nichts passiert! Ob sie sich wohl auch gerade solche Sorgen um ihn machte? Oder wollte gar nicht daran denken, was mit ihr wäre, sollte er nie wieder kommen. Was würde sie denken, fühlen, tun? Ihr würde es wahrscheinlich genauso gehen, wie der Frau dieses Mannes hier. Oder jedes einzelnen, der aus diesem sinnlosen Krieg nicht wieder zurückkam. Was mußte es bedeuten, wenn plötzlich die Nachricht kam, daß man den Menschen, den man liebte, nie wieder sehen würde?
Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als er vor und über sich einen Schrei hörte. Er riß seine MP hoch und feuerte. Er hörte ein gurgelndes, ersticktes Keuchen, dann kippte der über ihm plötzlich um und fiel zu ihm herunter. Einer seiner Gegner, wie er erkannte. Und in dessen Augen sah er Überraschung und Schmerz und auch etwas Furcht, aber keine Spur von Haß. Auch dieser Mensch hatte niemand gehaßt. Selbst ihn nicht, obwohl er gerade vorgehabt hatte, ihn zu töten.
Und dann sah er, daß der Tote noch etwas anderes in der Hand hielt, als sein Gewehr. Vorsichtig öffnete er die verkrampfte Hand und nahm ein zerknittertes Foto daraus. Es zeigte den Toten selbst mit einer Frau und einem vielleicht fünfjährigen Kind, wie sie vor einem See standen und lachend in die Kamera winkten.
Und in diesem Moment geschah etwas mit ihm. Der Kampflärm rückte in den Hintergrund, das Schreien der Verwundeten und Sterbenden, das Kampfgebrüll und die gerufenen Befehle, das Krachen der Explosionen und das Knattern der Gewehre, das alles drang nur noch gedämpft zu ihm vor. Unendlich vorsichtig legte er das Foto zurück in die Hand des Toten.
Er löste den Riemen seiner MP und legte die Waffe langsam und ganz sacht vor sich auf den Boden. Dann stand er auf, wandte sich um und ging nach Hause.
 



 
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