Der Mann des Schweigens

Der Mann des Schweigens

Der Junge zog sich die rauhe, sich wie eine Kratzbürste anfühlende Bettdecke über den vom Schweiss dieses Tages verklebten Körper, gestattete seiner Phantasie mit einigem Widerwillen das Entstehen schrecklicher Bilder in seinem Kopf, die das Krabbeln von Milliarden ekliger Milben zeigte, wie sie in einem zuckenden Gewirr über seine Haut jagten und mit ihren kleinen, spitzen Zähnen einem Schwarm Piranhas gleich an ihm zu knabbern begannen; und er betrachtete die schattenhaften, sich auf- und niedersenkenden Körperberge seiner in den Welten des Schlafes weilenden Schulkameraden. Ein lauer, periodisch auftretender Windstoss von spät sommerlichem Charakter, vermischt mit einer nördlichen Brise der jurassischen Gebirgszüge drängte sich durch die Leere des offenstehenden Fensters, streifte über sein zierlich gekräuseltes Haarkleid und verschwand in der tiefschwarzen Dunkelheit des Saales, wo er über die spröden Lippen schlafender Schüler strich, ihre schnarchenden Töne in unbedeutenden Luftwirbeln mit sich trug und zu einem sanften Pfeiffkonzert erklingen liess, dessen sich der Junge nun, als er die schweren Augenlieder ihrer Last entledigte, ganz widmete. Seltsame Ruhe beherrschte den Saal, abgesehen vom leisen Surren des vibrierenden Aufladegerätes, das dem Klassenkameraden mit den langen Haaren gehörte, der während eines vollen Tages ein Quantum an Wörter verlauten liess, wie in einer glasklaren Nacht verliebte Paare Sterne am Himmel funkeln sehen.

***

Es war nicht die ungewisse, Gefahren zu bergen scheinende Finsternis der Nacht. Nicht die einsamen, aber undurchdringlichen und beharrlichen Nebelschwaden, die dem Jungen die Sicht auf die Wipfel der Nadelhölzer raubten und so gespenstisch bedingte Angstgefühle, die dem innersten, ursprünglichsten Kern des Menschen entstammten, provozierten. Nicht das Vernehmen von fernem Glockengebimmel weidendem Viehs, das ihm sich unendlich weit erstreckende Felder vor Augen führte, die von dichtem Waldrand gesäumt wurden, hinter welchem sich glühende, bedrohliche Augen versteckten und einer perfiden Spinne gleich in der Mitte ihres klebrigen Netzes auf ein Opfer warteten, das sie hinterhältig überfallen und daraufhin in ihre Höhle verschleppen konnten. Es war auch nicht eine blasse Vision, eine seltene Erleuchtung oder eine zweifelhafte Vermutung, sondern reine Gewissheit, unwiderlegbare Überzeugung, die ihm versicherte, dass der Mann unten im schwach beleuchteten Vorhof, vor der Fassade des geräumigen Mietshauses Stellung bezogen hatte und mit dem starrem Blick lebloser Augen nach oben zu dem Fenster schaute, auf welcher Kehrseite der Junge sich zur Ruhe gelegt hatte.

Dies war der Mann, auf den der Junge seit langer Zeit gewartet hatte und der nun gekommen war, um ihn mit sich zunehmen.

Nur wenige Gliedmassen der Gestalt des schweigenden Mannes traten aus der Schwärze der Finsternis hervor, und der Junge erkannte mit pochendem Herzen einen breiten Hut, dessen Vorderseite dem Mann tief ins Gesicht fiel und es verbarg, und die groben Konturen eines schweren Mantels, der schlaff am hochgewachsenen, von Stärke und Macht zeugenden Korpus des Mannes herabhing. Obschon der Junge Kenntnis davon gehabt hatte, dass der Mann eines Nachts erscheinen würde, und im Innern seiner Seele hatte er dem Augenblick ungeduldig zugewartet, überschwemmte ihn in diesem gänzlich überraschenden Moment eine gigantische Woge des Entsetzens, als er einsam und schweigend auf die unten im Vorhof weilende Gestalt blickte, die mit der Standhaftigkeit einer antiken Statue in der Dunkelheit verharrte und ihn mit leblosen Augen anstarrte; und einen kurzen Augenblick lang nahm das Gesicht des Jungen die verzweifelten Züge eines Kindes an, das mit weinerlicher Stimme nach seiner Mutter ruft, die es aus den Augen verloren hat.

***

Der Junge schob nun die von Milben übersäte Bettdecke beiseite, ignorierte schmerzhaftes Prickeln in den Fingerspitzen und in der Magengrube und machte sich auf jenen ungewissen Weg, den Jungen seiner Art zu beschreiten hatten. Wie ein Blinder tastete er sich, nachdem er in Hemd und Hosen gestiegen war, Schritt für Schritt durch die undurchdringliche Schwärze des Saales, fühlte nach der kalten Klinke der Türe und trat mit einer Gänsehaut auf den von flimmernden Neonlampen beleuchteten Korridor hinaus. Eigentümliches Schweigen fand der Junge auch an diesem Ort. Wo noch vor Stunden das jauchzende Gekreische vor Jungen mit nackten Oberkörpern fliehender Mädchen den sich weitläufig erstreckenden Korridor erfüllt hatten, weilte nun die Lautlosigkeit mit der Kraft eines allmächtigen Gottes, die niemand zu durchbrechen in der Lage schien; und nur noch ein lächerlicher Wasserspritzer, den der Junge mit dem muskulösen Körperbau aus seiner Wasserpistole abgeschossen und versehentlich die Tapete anstelle des Mädchens mit den langen Beinen getroffen hatte, erinnerte an die quirligen Gemüter, die sich hier einmal getummelt hatten.

Das Schweigen war wie Grabesstille und der Junge verspürte keine Lust, zu sterben.

***

Er löste die letzte Fessel, die massive, aus Eichen gefertigte Eingangstüre, blickte von plötzlich zurückgekehrter Unschlüssigkeit noch einmal in die verschwindende Dunkelheit des Hauses und trat dann, freilich von Bangigkeit erfüllt, aber seiner Absicht überzeugt, in die Tiefe der Nacht hinaus. Heulende Windmassen tänzelten um seine erbärmliche Gestalt und versuchten ihn zu erfassen. Seine zögerlichen, auf den schattenhaften Mann zusteuernden Tritte knirschten auf dem Untergrund, den Kieselsteine bildeten. In weniger Entfernung blieb der Junge vor dem Mann stehen, ohne es indessen zu wagen, ihm direkt in sein Antlitz zu blicken. Der Mann verharrte regungslos, ohne dem Jungen Beachtung zu schenken, bis ihn ein undurchsichtiger Blitz durchzuckte, der den Jungen innerlich erschreckte und den er gegen aussen nur schlecht zu kaschieren wusste; dann setzte sich der Mann schweigend in Bewegung; durch die Kornfelder des Bauern mit dem bösen Hund geradewegs auf den Waldrand zu, von wo aus er gekommen war.

***

Im blassen Mondschein verschwamm das Lagerhaus mit seinen schlafenden Seelen allmählich hinter trägen Nebelschleiern, und der Junge blieb fortwährend ein knappes, aber sicheres Stück hinter dem voranschreitenden Mann zurück. Beide schwiegen sie, und nur der rasselnde Atem des Jungen und das Knacken der unter der Last der beiden Körper zerbrechenden Astzweige erfüllte die Luft mit seltenen Geräuschen. Tief in den Gefilden des Waldes, als des Jungen Kräfte sich dem Ende neigten, kam der Mann endlich zum Stehen, hielt kurz inne und machte sich dann schweigend daran Holzmaterial zu sammeln, um ein Feuer zu entfachen. Der Junge half ihm trotz seiner Erschöpfung. Als der Keim des Feuers gelegt war, liess sich der Mann auf den feuchten, mit erstem Herbstlaub bedeckten Boden nieder und sah mit einem Blick, der einerseits träumerisch, andererseits aber auch tief melancholisch erschien, in das Gewirr der züngelnden Flammenreigen. Der Junge, von Ratlosigkeit erfüllt, tat dem Manne gleich und harrte dem Folgenden. Als er es von unwiderstehlicher Neugierde ergriffen wagte, von den sich wie Schlangen aufbäumenden Flammensäulen aufzusehen und dem Mann in sein Antlitz zu blicken, brach der Mann das Schweigen.

„Weisst du, wer ich bin?“, fragte er den Jungen.

Die Stille des Waldes zerriss wie auf Steinboden in Tausend winzige Stücke splitterndes Porzellan. Es verging eine Weile, ehe der Junge dem Mann erwiderte.

„Ja. Du bist der Mann des Schweigens. Und du bist gekommen, um mich mit dir zu nehmen. In jenes Land, wo es nur Schweigen gibt. In das Land der Schweigenden.“

Der Mann erhob sich und verschwand stumm im angrenzenden Gestrüpp. Erst nach einer Weile kehrte er zurück, kniete sich nieder und warf gesammelte Holzspäne ins Feuer, um die hungrigen Flammenkinder zu nähren.

„Und, wirst du mit mir kommen?“, fragte der Mann den Jungen.

Gierig machten sich die Flammen über das frisch hinzugekommene Material her. Auf der Stirne des Jungen hatten sich Falten breitgemacht, die von der Weisheit eines Greisen zeugten. Der Junge räusperte sich, und diesmal kam ihm die Rolle zuteil, die unheimliche Ruhe des Waldes zu durchbrechen.

„Habe ich denn eine Wahl?“, fragte der Junge den Mann und sich selbst, wühlte im Laubboden und bekam ein spitzes Holzstück zu fassen.

„Was habe ich in einer Welt zu suchen, in der alle Menschen sprechen und ich nur schweigen kann?“

Der Junge schwieg wieder. Er sammelte seine Gedanken und siebte den überflutenden Strom an Gedankengängen. Nachdem er die richtige Wortwahl gefunden hatte, fuhr er fort:

„Wie soll ich dem Jungen mit dem muskulösen Oberkörper bedeuten, dass seine Muskeln ihn nicht zu einem besseren Menschen machen? Wie soll ich dem Mädchen mit den langen Beinen erklären, dass das Innere eines Menschen mehr zählt als das Äussere? Mit welchen Mitteln soll es mir gelingen, dem Mädchen mit dem falschen Lächeln zu erklären, dass das Verleumden von Kameraden hinter deren Rücken zwar kurzfristig Freunde schafft, am Ende jedoch viel Unglück bringt?“

Der Junge wollte nicht weinen. Und er wollte sich auch nicht in einen unsinnigen Wutanfall hineinsteigern. Deshalb schluckte er das viele Tränenwasser und den mächtigen Frust der Jahre in einem ehrenhaften Zug hinunter.

„Und wie um alles in der Welt soll ich dem süssen Mädchen mit der Brille erklären, dass ich mich in sie verliebt habe?“

Der Junge ersuchte den Mann mit verzweifelter Miene nach Antworten, und ein ergreifendes Stöhnen, das seinen Schwermut zum Ausdruck brachte, entwich seinem erschöpften Körper.

„Täglich begegne ich kleinen Ungerechtigkeiten und Bosheiten, die ich schweigend erdulden muss. Gemeinheiten ziehen ungesühnt vorbei, und je länger je weniger ertrage ich sie. Die Zeit zu gehen ist gekommen. Ich bin bereit.“

Gespanntes Schweigen kehrte ein, nur leise knisterndes Holz vernahm der Junge. Der Mann räusperte sich.

„Du gibst dich zu voreilig, zu ungestüm, mein Junge. Der wahre Grund, warum du dich ganze Nächte lang schlaflos im Bette wälzt, ist ein anderer. Er ist es, weshalb ich aus den Wäldern gekommen bin. Stell sie mir, jene Frage, die dich seit dem Tag, an dem du zu schweigen begonnen hast, nicht ruhen lässt.“

Und der Junge kam der Aufforderung des Mannes nach. Danach fühlte er sich wie eine eingegangene Blume, deren ehemalige Blüte ihr verlorengegangen war. Der Mann hüllte sich lange Zeit in Schweigen, die der Junge als Unendlichkeit erlebte. Dann endlich bewegten sich die Lippen des Mannes und er sagte:

„Wärst du bereit, für die Antwort dein Leben zu lassen?“

***

Bei Tagesanbruch kehrte der Junge aus dem Wald zum Mietshaus zurück. Goldene Sonnenstrahlen wärmten des Jungen entkräfteten Leib, und als er in der Ferne das Gekreische des Mädchens mit den langen Beinen hörte, huschte ein Grinsen über sein Gesicht. Der Junge trat durch die Eichentüre in das Mietshaus, ging in die Küche und blieb bis zu seinem Lebensende ein schweigsamer Mensch. Später verglichen ihn die Menschen oft mit einer Schildkröte, weil er obschon seiner Schweigsamkeit den Eindruck vermittelte, ein tiefes Geheimnis über die Menschen in sich zu tragen. Und jedes Mal, wenn der Junge diesen Vergleich zu hören bekam, huschte ein Grinsen über sein Gesicht.



BASEL, IM MAI 2001
 
H

hero-freak

Gast
bewertung

ich glaube, ich bin der erste, der das zu ende gelesen hat, es hat echt einige gute ansätze, es ist zu lang, inkonsiquent in schreibstil (satzlänge, satzstrucktur, aufbau, wortwahl ...) ... das ganze soll dich nicht venichten sondern ermunterung zur veränderung sein, denn die metapher ist sehr gut, aber der mann des schweigens sollte ausgefragt werden und nur kurze antworten geben, sonst verliert die geschichte an glaubwürdigkeit ...
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
sehr

tief beeindruckt vergebe ich für dieses - allerdings ein klein wenig zu lang geratene werk - 10 punkte. es stimmt, die meisten schweigen lieber bis an ihr lebensende, anstatt eine unbequeme wahrheit zu erfahren oder offen auszusprechen. und jene, die die wahrheit sagen, werden schnell als lügner hingestellt. deine geschichte regt sehr zum nachdenken an. ganz lieb grüßt
 

gladiator

Mitglied
Schweigen...

Mir gefällt die Geschichte an sich sehr gut. Ich finde sie auch überhaupt nicht zu lang, sondern grade richtig. Allerdings habe ich mit der Sprache einige Probleme. Der exzessive Gebrauch des Partizip Präsens wirkt schnell gestelzt, zumal du ja hier aus der Sicht eines Jungen schreibst, da wäre eine griffigere, eher junge Sprache angebrachter.

Andere Formulierungen fand ich wiederum etwas unglücklich.

Bsp.:

1. Ein lauer, periodisch auftretender Windstoss von spät sommerlichem Charakter - Ein Windstoß kann meiner Meinung nach nicht lau sein und periodisch auftreten. Er stößt und fertig.

2. Nur wenige Gliedmassen der Gestalt des schweigenden Mannes traten aus der Schwärze der Finsternis hervor - Wenn, dann "einige", aber ich würde es ganz umformulieren, vielleicht "Arme und Beine" oder was anderes.

3. In weniger Entfernung blieb der Junge vor dem Mann stehen, ohne es indessen zu wagen - in "einiger" oder "geringer", aber nicht "weniger".

Es gäbe noch mehr, aber vielleicht fällt es Dir beim neuerlichen Durchlesen ja von selbst auf.

Das ganze Motiv und die Handlung erinnert mich stark an Roland, den Revolvermann aus Stephen Kings Geschichte um den "Dunklen Turm"...

Gruß
Gladiator
 



 
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