Der Nachbar

LUPESIWA

Mitglied
Der Nachbar

Maria genießt das Frühstückchen in ihrer gemütlichen Küche. Erste Sonnenstrahlen tanzen auf ihrem Teller herum und wieder mal drehen sich die Gedanken um ihren Nachbarn Peter.
Mit einem Lächeln erinnert sie sich daran, dass er der erste Dorfbewohner war, mit dem sie ein persönliches Wort gewechselt hatte, als sie sich vor über 20 Jahren in dem kleinen hessischen Ort niederließ.

Der Einzug in das Siedlungshäuschen, sie hatte es von ihrer Oma geerbt, war fast geschafft und sie holte die bestellten Brote für ihre Helfer in der Dorfbäckerei ab.
Mit einer Hand balancierte sie das Blech, versuchte mit der anderen Hand die Kofferklappe zu öffnen und in Zeitlupe drohte die Ladung zu kippen. Zwei Arme griffen an ihre vorbei und brachten alles wieder in Waage.
Erstaunt drehte sie sich in der unfreiwilligen Umarmung und bedankte sich. „Es sei ja noch mal gut gegangen“, meinte der Retter lachend und der Schalk in seinen blauen Augen machte ihn sehr sympathisch. Er stellte sich als direkter Nachbar vor und wünschte ihr alles Gute im neuen Zuhause.


Die Geräusche quietschender Reifen, lauten Schepperns und Kratzens von Metall auf Pflastersteinen dringen schmerzhaft in ihre Ohren und sie schnellt vom Stuhl hoch.
Für Sekunden ist es totenstill. Dann zerreißt ein gellender Schrei die Idylle. Entsetzt starrt sie aus dem Fenster, sieht ein demoliertes Fahrrad auf der Fahrbahn liegen und wenige Meter weiter liegt ein Mädchen aus der Nachbarschaft; bewegungslos.
Maria rennt aus dem Haus und gerät in den Pulk aufgeregter Menschen, die von allen Seiten heraneilen. Am Kopf des verunglückten Mädchens kniet laut weinend die Mutter.
Aus der Ferne klingt das Martinshorn. Das Kind bewegt sich langsam wieder und die Nachbarn diskutieren lautstark, wie das wohl passieren konnte. Die Fahrerin des Unfallwagens, eine Frau aus dem nächsten Dorf, steht völlig unter Schock und sackt an ihrem Auto, das an der leichten Rechtskurve zum Stehen kam, zusammen.
Plötzlich verstummen alle Gespräche und die Dorfbewohner schauen wie hypnotisiert auf Peter, der sich durch die Reihen gedrängt hatte und laut aufschreiend über dem Mädchen zusammenbricht. Er drückt seinen Kopf auf ihre Beine, umklammert mit beiden Armen ihren kleinen Körper und heult; aus tiefstem Inneren heraus.
Die eintreffende Notärztin und die Sanitäter haben Mühe, ihn von der Gestalt zu lösen.
Das Mädchen ist ansprechbar. Im Krankenwagen wird es gründlich untersucht und ins nächste Krankenhaus abtransportiert. Marias Nachbar Peter und die Frau des Unfallwagens werden auch medizinisch versorgt.
Alle beruhigen sich langsam und keiner der Anwesenden muss sich fragen, was sich da gerade abgespielt hatte. Fast auf den Tag, zwei Jahre zurückliegend, war Peters Frau Marlene genau in der Kurve von einem viel zu schnell fahrenden PKW erfasst worden und verstarb noch am Unfallort an ihren Verletzungen.
Bleierne Müdigkeit, die man eigentlich nur an dunklen, kurzen Tagen kennt, hängt über den Dächern. Hier und da stehen Grüppchen Leute, unterhalten sich gedämpft über das eben Geschehene und wahrscheinlich auch darüber, was vor zwei Jahren passiert war.
Maria verschwindet sehr betroffen in ihrem Haus. Ihr ist nicht nach Reden zumute, obwohl sie den engsten Kontakt zu Peter und Marlene hatte. Tatenlos sitzt sie am nicht abgeräumten Frühstückstisch und Erinnerungen der letzten Jahre geistern sehr deutlich durch ihren Kopf.

Am tiefsten hatte sich Marlenes Beerdigung eingegraben. Das ganze Dorf war dabei gewesen, um Beileid zu bekunden.
Nach der Tragödie war Marlenes Mann wie ein Roboter durch die Gegend gelaufen und hatte alle notwendigen Angelegenheiten rein mechanisch mit versteinerter Miene erledigt. Und genauso hat er am Grab gestanden. Unendlich traurig hatte Maria ihn angeschaut, als der Sarg hinab gelassen worden war. Plötzlich hatte sich eine Träne aus seinem Auge gequetscht, war über die Wange gerollt und wie ein Eiskügelchen am Nasenflügel liegen geblieben.
Ein Sonnenstrahl hatte sich darin verfangen und es in eine glitzernde Perle verwandelt.
Sie hatte sich nicht abwenden können, außer ihr hatte es wohl niemand bemerkt. Er hatte den Blick gespürt und sich kurz geschüttelt. Manchmal träumte sie heute noch davon und fragte sich am nächsten Morgen, ob es vielleicht Einbildung gewesen war.


Die Dämmerung bricht schon herein und durch ein leises Klopfen an der Tür schreckt Maria hoch. Sehr blass steht Peter mitten im Raum. Tagsüber schließt niemand die Haustür ab.
Schweigend schauen sie sich eine Weile an und er legt seinen Schlüssel auf den Tisch.
„Würdest du ab und zu mal nach dem Rechten schauen, ich muss ein paar Tage weg hier“,sagt er mit leiser Stimme und dreht sich um.
„Na klar, mach ich. Alles in Ordnung mit dir?“, will Maria noch wissen. „Geht so, ich war bei der Kleinen, sie hat Glück gehabt; und Danke“.
Ziemlich verwirrt bleibt Maria zurück und denkt über den seltsamen Besuch nach. Irgendetwas hatte sich verändert bei Peter und sie hofft, zum Positiven.
Sie bereitet sich ein kleines Abendbrot und ihre Gedanken schweifen in unendlichen Kreisen wieder zurück in die Vergangenheit.

Damals, ein halbes Jahr nach ihrem Umzug, war Wolfgang nachgekommen. Sie waren fünf Jahre vorher zusammen gewesen. Er wollte niemals mit aufs Land ziehen. Heute denkt sie manchmal darüber nach, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn er den Schritt nicht getan hätte.
Die Männer verstanden sich gut und spontan hockte man oft zusammen, Grillabende, Ausflüge und so weiter.
Bei Marlene und Peter war Nachwuchs in Sicht. Maria freute sich sehr mit ihnen und ihr eigener Wunsch nach Kindern kam mit aller Macht wieder hoch. Wolfgang vertröstete sie von Jahr zu Jahr und vor fünf Jahren eröffnete er ihr, dass er sich scheiden lassen wolle und eine andere Frau liebt. Sie war um etliches jünger und erwartete sein Kind.
Ihre heile Welt brach zusammen, obwohl sie es hätte ahnen müssen. Die Ehe blubberte schon lange wie ein müder Bach dahin. Dabei wollte sie doch nur zufrieden leben, etwas glücklich sein. Sie sah es jeden Tag, dass es auch ohne Kinder möglich war.
Marlene hatte eine Fehlgeburt gehabt und konnte nicht mehr schwanger werden. Ihr Glück zerbrach nicht daran, im Gegenteil, die Beiden rückten noch enger zusammen und schafften es, diesen unglaublichen Schlag zu bewältigen.
Jede freie Minute verbrachten sie gemeinsam und jeden Samstag, bis in den goldenen Herbst hinein, sah man sie mit einem Picknickkorb an den See wandern, der sehr romantisch und versteckt hinter der Ortsgrenze auf einer Waldlichtung lag.
Maria kannte keinen Neid, aber immer wenn sie daran dachte, kam eine traurige Sehnsucht in ihr hoch.


Das Dorfleben hatte sich wieder normalisiert. Das Nachbarmädchen war mit Prellungen und Schürfwunden davon gekommen. Sie hatte wohl die Hauptschuld, ist, ohne zu schauen, über die Strasse gefahren und mit dem Auto kollidiert.
Schuld hin, Schuld her, den Schaden hat man trotzdem, von den seelischen Folgen ganz zu schweigen. Die Fahrerin hat sich immer noch nicht erholt, denkt Maria und schaut erschrocken auf die Uhr.
Eilig verlässt sie das Gemeindeamt. Sie arbeitet da als Bibliothekarin, eigentlich als Mädchen für alles, und gerade freitags bekommt sie nie pünktlich Feierabend. Das Einkaufen muss sie wieder einmal auf den Samstag verlegen, aber bei ihren Nachbarn Peter wird sie jetzt noch reinschauen.

Etwas verloren und mit einem eigenartigen Gefühl, wie die Tage vorher auch, steht sie in der fremden und doch so vertrauten Küche. Die Pflanzen sind schnell versorgt.
Wo könnte er wohl gerade sein, und wie wird es ihm wohl gehen, grübelt sie. Dabei schweift ihr Blick durch den gemütlichen Raum und bleibt an Marlenes Bild hängen.
Marias Augen werden feucht und erst heute bemerkt sie, dass der Trauerflor entfernt wurde.
Seltsame Gedanken berühren sie und lassen sie total die Zeit vergessen. Nicht einmal den vorfahrenden Wagen hört sie.
Erst beim Klacken der Tür schreckt sie hoch und die Röte schießt ihr ins Gesicht, als plötzlich Peter vor ihr steht. Sie fühlt sich wie ein ertapptes Schulmädchen und bringt kein Wort heraus. Peter registriert es mit einem Schmunzeln.
„Vielleicht unternehmen wir mal was, irgendetwas, außer Picknick“, sagt er mit ernster Stimme, schiebt den Henkelkorb in die Ecke und schaut Maria lange in die Augen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Ich weiß nicht ob du eher am Handwerk oder an der Idee Feedback benötigst, daher gebe ich dir einfach mal ein bisschen zu beidem. Ich hoffe du nimmst meinen kritischen Ton nicht übel - ich möchte lediglich pragmatisch sein.

Zur Idee und ganz allgemein:

Die Idee ist natürlich nicht allzu neu oder außergewöhnlich, da es sich "bloß" um die Liebesgeschichte einer verwitweten Frau handelt, die noch dazu genau in einen verwitweten Mann verliebt ist. Ich persönlich halte nicht viel von dieser Idee, eine reine Liebesgeschichte ist meistens etwas uninteressant für mich, was nicht heißt das ich mich nicht darauf einlassen kann. Die Sache mit den Unfällen erscheint mir auch etwas ausgepresst. Für mich ist aber genau dies das schöne an der Literatur: interessante Einfälle. Nichtsdestotrotz kann aber auch aus konventionellen Ideen etwas schönes geschafft werden - das sieht man ja an diesem Beispiel.
Mit Flashbacks und der Präsens-Zeitform schaffst du es ein recht lebendiges und filmartiges Bild in meinen Kopf zu setzen. Auch sind die beiden Hauptpersonen durch Informationen über ihre Vergangenheit relativ tief umrissen, wobei ein wenig mehr Individualität und Einzigartigkeit nicht schadet, denke ich. Man erfährt kaum mehr über die beiden Figuren Peter und Maria, als: Mann - Frau, jeweils verwitwet, aufblühende Liebe (natürlich übertreibe ich!). Das Ende finde ich schön, ich habe mich freuen können. Nach dieser langen Beschäftigung mit diesem Text habe ich aber schon genug von diesem Thema. Ich möchte neue Nervenbahnen in meinem Gehirn kennenlernen.


Zum Handwerklichen habe ich hier noch ein paar Anmerkungen:

Das Kind bewegt sich langsam wieder und die Nachbarn diskutieren lautstark, wie das wohl passieren konnte.
Worauf hier das "das" bezogen wird ist evtl. unklar - im ersten Moment dachte ich noch, die Nachbarn diskutieren, wie es passieren konnte, dass das Mädchen sich plötzlich wieder bewegt.

Marias Nachbar Peter und die Frau des Unfallwagens werden auch medizinisch versorgt.
Dass Peter Marias Nachbar ist, sollte dem Leser an dieser Stelle schon bewusst sein. Vielleicht können die beiden Worte also gestrichen werden.

Alle beruhigen sich langsam und keiner der Anwesenden muss sich fragen, was sich da gerade abgespielt hatte.
Das finde ich etwas steif ausgedrückt, bzw. fast schon übertrieben: wieso genau "alle" und "keiner"? Ist das nicht zu viel? Obwohl auf der anderen Seite vielleicht tatsächlich alle im Dorf über das vor zwei Jahren Geschehene bescheid wissen ... Was hälst du vom Folgenden? "Man beruhigt sich langsam, in Gedanken Peters Reaktion auf die Verletzung des ihm doch nur beiläufig bekannten Mädchens verarbeitend. Was sich hier gerade abgespielt hatte ergab für die meisten Sinn: Fast auf den Tag, zwei Jahre zurückliegend, war Peters Frau Marlene genau in der Kurve von einem viel zu schnell fahrenden PKW erfasst worden und verstarb noch am Unfallort an inneren Blutungen."

Bleierne Müdigkeit, die man eigentlich nur an dunklen, kurzen Tagen kennt, hängt über den Dächern.
Das gefällt mir.

Tatenlos sitzt sie am nicht abgeräumten Frühstückstisch und Erinnerungen der letzten Jahre geistern sehr deutlich durch ihren Kopf.
Ich persönlich würde hier ein Punkt statt dem "und" verwenden, weil das zwei getrennte Aussagen sind. Auch ein "während" könnte die beiden Aussagen schön verbinden. Ist außerdem das "sehr deutlich" für die gesteigerte Einsicht des Lesers nötig?

Nach der Tragödie war Marlenes Mann wie ein Roboter durch die Gegend gelaufen und hatte alle notwendigen Angelegenheiten rein mechanisch mit versteinerter Miene erledigt. Und genauso hat er am Grab gestanden.
Das finde ich sehr realistisch, ich denke, genau so würden manche Menschen tatsächlich reagieren.

Plötzlich hatte sich eine Träne aus seinem Auge gequetscht [...]
Wieso genau eine einzige Träne? Das hat in mir ein Klischeebild erweckt. Wann sieht man schon in Wirklichkeit jemanden eine einzige Träne weinen? Statdessen hätte er doch für einen kurzen Moment ein schmerzerfülltes Gesicht zeigen können oder eine trübe Grimasse, in der seine inneren Trümmer widergespiegelt wurden, wobei in der nächsten Sekunde aber wieder nur die maschinenhaft Miene zu sehen war. Der weiche Kern war dann wieder verschlossen, von metallenen Toren beschützt. Auf der anderen Seite spielt die Träne dann noch eine große Rolle ...

Schweigend schauen sie sich eine Weile an und er legt seinen Schlüssel auf den Tisch.
Hier könnte man auch am Ausdruck feilen.

„Na klar, mach ich. Alles in Ordnung mit dir?“, will Maria noch wissen. „Geht so, ich war bei der Kleinen, sie hat Glück gehabt; und Danke“.
Vielleicht könnte man hier dem Leser das Bild verstärken, indem man betont, wie behutsam und vorsichtig Maria frägt. Ich nehme an sie ist recht empathisch und Peter tut ihr Leid, was man an ihren Worten (mehr helfenwollen, sich aufopfernd), ihrem Ton (z.B. höher und liebevoller o.ä.), vielleicht auch an der Körpersprache (etwa blickt sie ihm ständig in die Augen, um seine Reaktionen unmittelbar zu sehen und um das zu sagen, was Peter gut tut) anmerken kann. Dadurch entsteht dann der klare Kontrast zwischen Maria (sich aufopfernd, vorsichtig usw.) und Peter (nach außen roboterhaft, maschinell, sachlich, pragmatisch).

Die Ehe blubberte schon lange wie ein müder Bach dahin.
Das fand ich lustig. Wieso blubbert ein müder Bach? Vorschlag: "Die Ehe floss träge wie ein seichter Bach dahin."

Schuld hin, Schuld her, den Schaden hat man trotzdem, von den seelischen Folgen ganz zu schweigen.
Diesen Gedanken finde ich sehr schön! Es hilft tatsächlich auch uns kaum weiter den Schuldigen zu suchen, irgendwelche Taten zu rechtfertigen und herausfinden zu wollen wer nach irgendeinem willkürlichen Prinzip was "verdient" hat. Viel pragmatischer ist es Probleme zu erkennen und diese zu lösen und sich von der Denkweise loszulösen, in der Gerechtigkeit gewaltet werden soll und Menschen aufgrund von Taten bestimmte Konsequenzen "verdienen".

Seltsame Gedanken berühren sie und lassen sie total die Zeit vergessen.
Für mich etwas umgangssprachlich.

Aufgrund deiner Ausdrucksweise oder deinem Stil war nicht immer auf ersten Anhieb verständlich, was gemeint ist.
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
P.S.: Wenn schon Liebesgeschichte, dann würde ich persönlich auch gerne erfahren, was es genau ist, was Maria an Peter so schön findet und umgekehrt, ein wenig analysieren, wieso Gefühle entstanden sind.

Hier wieder: mein persönlicher Geschmack!
 

LUPESIWA

Mitglied
Der Nachbar

Maria genießt das Frühstückchen in ihrer gemütlichen Küche. Erste Sonnenstrahlen tanzen auf ihrem Teller herum und wieder mal drehen sich die Gedanken um ihren Nachbarn Peter.
Mit einem Lächeln erinnert sie sich daran, dass er der erste Dorfbewohner war, mit dem sie ein persönliches Wort gewechselt hatte, als sie sich vor über 20 Jahren in dem kleinen hessischen Ort niederließ.

Der Einzug in das Siedlungshäuschen, sie hatte es von ihrer Oma geerbt, war fast geschafft und sie holte die bestellten Brote für ihre Helfer in der Dorfbäckerei ab.
Mit einer Hand balancierte sie das Blech, versuchte mit der anderen Hand die Kofferklappe zu öffnen und in Zeitlupe drohte die Ladung zu kippen. Zwei Arme griffen an ihre vorbei und brachten alles wieder in Waage.
Erstaunt drehte sie sich in der unfreiwilligen Umarmung und bedankte sich. „Es sei ja noch mal gut gegangen“, meinte der Retter lachend und der Schalk in seinen blauen Augen machte ihn sehr sympathisch. Er stellte sich als direkter Nachbar vor und wünschte ihr alles Gute im neuen Zuhause.


Die Geräusche quietschender Reifen, lauten Schepperns und Kratzens von Metall auf Pflastersteinen dringen schmerzhaft in ihre Ohren und sie schnellt vom Stuhl hoch.
Für Sekunden ist es totenstill. Dann zerreißt ein gellender Schrei die Idylle. Entsetzt starrt sie aus dem Fenster, sieht ein demoliertes Fahrrad auf der Fahrbahn liegen und wenige Meter weiter liegt ein Mädchen aus der Nachbarschaft; bewegungslos.
Maria rennt aus dem Haus und gerät in den Pulk aufgeregter Menschen, die von allen Seiten heraneilen. Am Kopf des verunglückten Mädchens kniet laut weinend die Mutter.
Aus der Ferne klingt das Martinshorn. Das Kind bewegt sich langsam wieder und die Nachbarn diskutieren darüber, wie es wohl zu dem Unfall kommen konnte. Die Fahrerin des Unfallwagens, eine Frau aus dem nächsten Dorf, steht völlig unter Schock und sackt an ihrem Auto, das an der leichten Rechtskurve zum Stehen kam, zusammen.
Plötzlich verstummen alle Gespräche und die Dorfbewohner schauen wie hypnotisiert auf Peter, der sich durch die Reihen gedrängt hatte und laut aufschreiend über dem Mädchen zusammenbricht. Er drückt seinen Kopf auf ihre Beine, umklammert mit beiden Armen ihren kleinen Körper und heult; aus tiefstem Inneren heraus.
Die eintreffende Notärztin und die Sanitäter haben Mühe, ihn von der Gestalt zu lösen.
Das Mädchen ist ansprechbar. Im Krankenwagen wird es gründlich untersucht und ins nächste Krankenhaus abtransportiert. Peter und die Fahrerin des Autos werden auch medizinisch versorgt.
Langsam kehrt wieder Ruhe ein und die meisten anwesenden Dorfbewohner können sich Peters Verhalten gut erklären:
Fast auf den Tag, zwei jahre zurückliegend, war Peters Frau Marlene genau in der Kurve von einem viel zu schnell fahrenden PKW erfasst worden und verstarb noch am Unfallort an ihren Verletzungen.
Bleierne Müdigkeit, die man eigentlich nur an dunklen, kurzen Tagen kennt, hängt über den Dächern. Hier und da stehen Grüppchen Leute, unterhalten sich gedämpft über das eben Geschehene und wahrscheinlich auch darüber, was vor zwei Jahren passiert war.
Maria verschwindet sehr betroffen in ihrem Haus. Ihr ist nicht nach Reden zumute, obwohl sie den engsten Kontakt zu Peter und Marlene hatte. Tatenlos sitzt sie am nicht abgeräumten Frühstückstisch und Erinnerungen der letzten Jahre geistern durch ihren Kopf.

Am tiefsten hatte sich Marlenes Beerdigung eingegraben. Das ganze Dorf war dabei gewesen, um Beileid zu bekunden.
Nach der Tragödie war Marlenes Mann wie ein Roboter durch die Gegend gelaufen und hatte alle notwendigen Angelegenheiten rein mechanisch mit versteinerter Miene erledigt. Und genauso hat er am Grab gestanden. Unendlich traurig hatte Maria ihn angeschaut, als der Sarg hinab gelassen worden war. Plötzlich hatte sich eine Träne aus seinem Auge gequetscht, war über die Wange gerollt und wie ein Eiskügelchen am Nasenflügel liegen geblieben.
Ein Sonnenstrahl hatte sich darin verfangen und es in eine glitzernde Perle verwandelt.
Sie hatte sich nicht abwenden können, außer ihr hatte es wohl niemand bemerkt. Er hatte den Blick gespürt und sich kurz geschüttelt. Manchmal träumte sie heute noch davon und fragte sich am nächsten Morgen, ob es vielleicht Einbildung gewesen war.


Die Dämmerung bricht schon herein und durch ein leises Klopfen an der Tür schreckt Maria hoch. Sehr blass steht Peter mitten im Raum. Tagsüber schließt niemand die Haustür ab.
Schweigend schauen sie sich eine Weile an, dann legt er seinen Schlüssel auf den Tisch.
„Würdest du ab und zu mal nach dem Rechten schauen, ich muss ein paar Tage weg hier“,sagt er mit leiser Stimme, dreht sich um und geht zur Tür.
Maria versuchte in seinem Blick zu lesen; vergebens.
„Alles in Ordnung mit dir?“, ruft sie zaghaft hinter ihm her. „Geht so, ich war bei der Kleinen, sie hat Glück gehabt; und Danke“.
Ziemlich verwirrt bleibt Maria zurück und denkt über den seltsamen Besuch nach. Irgendetwas hatte sich verändert bei Peter und sie hofft, zum Positiven.
Sie bereitet sich ein kleines Abendbrot und ihre Gedanken schweifen in unendlichen Kreisen wieder zurück in die Vergangenheit.

Damals, ein halbes Jahr nach ihrem Umzug, war Wolfgang nachgekommen. Sie waren fünf Jahre vorher zusammen gewesen. Er wollte niemals mit aufs Land ziehen. Heute denkt sie manchmal darüber nach, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn er den Schritt nicht getan hätte.
Die Männer verstanden sich gut und spontan hockte man oft zusammen, Grillabende, Ausflüge und so weiter.
Bei Marlene und Peter war Nachwuchs in Sicht. Maria freute sich sehr mit ihnen und ihr eigener Wunsch nach Kindern kam mit aller Macht wieder hoch. Wolfgang vertröstete sie von Jahr zu Jahr und vor fünf Jahren eröffnete er ihr, dass er sich scheiden lassen wolle und eine andere Frau liebt. Sie war um etliches jünger und erwartete sein Kind.
Ihre heile Welt brach zusammen, obwohl sie es hätte ahnen müssen. Die Ehe blubberte schon lange wie ein müder Bach dahin. Dabei wollte sie doch nur zufrieden leben, etwas glücklich sein. Sie sah es jeden Tag, dass es auch ohne Kinder möglich war.
Marlene hatte eine Fehlgeburt gehabt und konnte nicht mehr schwanger werden. Ihr Glück zerbrach nicht daran, im Gegenteil, die Beiden rückten noch enger zusammen und schafften es, diesen unglaublichen Schlag zu bewältigen.
Jede freie Minute verbrachten sie gemeinsam und jeden Samstag, bis in den goldenen Herbst hinein, sah man sie mit einem Picknickkorb an den See wandern, der sehr romantisch und versteckt hinter der Ortsgrenze auf einer Waldlichtung lag.
Maria kannte keinen Neid, aber immer wenn sie daran dachte, kam eine traurige Sehnsucht in ihr hoch.


Das Dorfleben hatte sich wieder normalisiert. Das Nachbarmädchen war mit Prellungen und Schürfwunden davon gekommen. Sie hatte wohl die Hauptschuld, ist, ohne zu schauen, über die Strasse gefahren und mit dem Auto kollidiert.
Schuld hin, Schuld her, den Schaden hat man trotzdem, von den seelischen Folgen ganz zu schweigen. Die Fahrerin hat sich immer noch nicht erholt, denkt Maria und schaut erschrocken auf die Uhr.
Eilig verlässt sie das Gemeindeamt. Sie arbeitet da als Bibliothekarin, eigentlich als Mädchen für alles, und gerade freitags bekommt sie nie pünktlich Feierabend. Das Einkaufen muss sie wieder einmal auf den Samstag verlegen, aber bei ihren Nachbarn Peter wird sie jetzt noch reinschauen.

Etwas verloren und mit einem eigenartigen Gefühl, wie die Tage vorher auch, steht sie in der fremden und doch so vertrauten Küche. Die Pflanzen sind schnell versorgt.
Wo könnte er wohl gerade sein, und wie wird es ihm wohl gehen, grübelt sie. Dabei schweift ihr Blick durch den gemütlichen Raum und bleibt an Marlenes Bild hängen.
Marias Augen werden feucht und erst heute bemerkt sie, dass der Trauerflor entfernt wurde.
Seltsame Gedanken berühren sie und lassen sie die Zeit vergessen. Nicht einmal den vorfahrenden Wagen hört sie.
Erst beim Klacken der Tür schreckt sie hoch und die Röte schießt ihr ins Gesicht, als plötzlich Peter vor ihr steht. Sie fühlt sich wie ein ertapptes Schulmädchen und bringt kein Wort heraus. Peter registriert es mit einem Schmunzeln.
„Vielleicht unternehmen wir mal was, irgendetwas, außer Picknick“, sagt er mit ernster Stimme, schiebt den Henkelkorb in die Ecke und schaut Maria lange in die Augen.
 

LUPESIWA

Mitglied
Hallo Etma,
Danke dafür, dass Du dich mit meiner Geschichte beschäftigt hast. Einige Anregungen habe ich umgesetzt.
Es ist keine Liebesgeschichte. Eher eine Alltagsbegebenheit die sich so oder ähnlich im wahren Leben abspielen könnte.
Maria ist nicht verwidwet, sie wurde von ihrem Mann verlassen.
Die Sympathie zu ihren Nachbarn ist offensichtlich. Als Peters Frau tödlich verunglückte, verschloß er sich völlig.
Maria blieb im Hintergrund und hoffte wohl insgeheim, dass aus der Freundschaft mehr werden könne.
Der Unfall des Nachbarmädchens war der Auslöser, dass Peter endlich seine Trauer verarbeiten und lebensbejaend in die Zukunft schauen konnte. Ob Maria und Peter ein Paar geworden sind, lasse ich offen.
 

LUPESIWA

Mitglied
Ich war heute Mittag etwas in Eile und habe die Grüsse vergessen.
und - verwitwet - sollte es sein.
LG Lupesiwa
 



 
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