Der Ölbaum

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Garofius

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Der Ölbaum

In einem kleinen, alten Bauernhaus oberhalb des Dorfes Girasole, in der Provinz San Geronimo, lebte seit über fünfzig Jahren Ettore Zingarelli. Er war kein gebildeter Mann, sein Jahrgang hatte noch das Glück gehabt, nur fünf Jahre zur Schule gehen zu müssen, aber er hatte einen gesunden Menschenverstand und einen friedvollen Charakter. Der Ertrag seiner kleinen Landwirtschaft ‒ vierhundert Olivenbäume, ein kleiner Weinberg, ein paar Schafe und ein Dutzend Hühner ‒ reichte kaum, um davon leben zu können, obwohl er den ganzen Tag hart arbeitete. Seit dem allzu frühen Tod seiner Frau Simonetta führte er ein ruhiges und wenig aufregendes Dasein. Er nahm kaum mehr am gesellschaftlichen Leben des Dorfes teil. Nur noch selten spielte er in der Bar eine Partie Briscola mit seinen Jahrgängern, oder besuchte mit seinem Freund Giuseppe ein lokales Fußballspiel auf dem Campo sportivo. Einige Dorfbewohner nannten ihn den »Philosophen«. Das gefiel ihm, obwohl er nicht genau wusste, warum man ihn so hieß.
»Wieso nennen mich manche Leute den Philosophen?«, hatte er einmal Giuseppe gefragt. »Weil du eben einer bist!« hatte dieser geantwortet, und Ettore gab sich damit zufrieden. Es stimmte auch, er war auf seine Weise ein Philosoph; nicht etwa weil er gescheite, hochtrabende Dis-kussionen über Gott und die Welt führte, sondern weil er viel nach-dachte über die wichtigen Dinge im Leben und sich darüber Rechen-schaft ablegte.

Ettore liebte sein Grundstück, seine Reben und vor allem seine Olivenbäume. Er pflegte sie liebevoll und unermüdlich, was sie ihm mit reichen Erträgen dankten. Meistens erntete Ettore mehr und schönere Früchte als alle seine Nachbarn. Aber die reichere Ernte war nicht sein erster Beweggrund, um zu den Bäumen Sorge zu tragen. Er wusste, dass sein Olivenhain seit vielen Generationen existierte, un¬zählige Menschen hatten ihn von Anbeginn bis zum heutigen Tag ge¬hegt und gepflegt, hatten den Boden gepflügt und gedüngt, hatten die Bäume geschnitten, die Oliven geerntet. Er war der letzte in der langen Reihe, die andern waren längst unter dem Boden, aber die Bäume blühten weiter, trugen weiter Frucht, jeder einzelne hatte den Menschen schon zahllose Krüge dieses köstlichen, goldenen Öls ge¬schenkt. Ettore fühlte sich verpflichtet, die Bäume zu erhalten, das Erbe weiterzuführen ‒ ja mehr noch, er sah darin seine eigentliche raison d’être!

Am Ende eines Tagwerkes, pflegte er jeweils einen Rundgang durch den Olivenhain zu machen. Der Hain bestand aus zwei, durch ein schmales Wäldchen getrennten Parzellen. Auf der einen standen die Bäume wie Soldaten in geraden Reihen und gleichmäßigen Abständen. Auf der andern hingegen waren die Abstände unregelmäßig und die Reihen liefen krumm und quer zum Hang. Hier standen uralte, knorrige Bäume von einer Sorte, die man in der ganzen Gegend sonst nirgends mehr fand. Nicht einmal sein Freund Giuseppe, der ein Experte war, kannte sie. Dieses Stück Land gefiel Ettore besonders gut. Er stellte sich vor, dass die ältesten der Bäume, die hier standen, vor vielen Jahrhunderten, wenn nicht schon zur Zeit der alten Römer, gepflanzt worden waren. Es war ihm bekannt, dass Ölbäume tausend Jahre alt werden konnten, und hier auf diesem Grundstück stand ein Baum, bei dem der dicke Hauptstamm längst ausgetrocknet und schon fast völlig verwittert war. Aber aus dem Wurzelwerk rund um den Strunk waren drei neue Stämme ausgetrieben, die auch schon einige hundert Jahre alt sein mochten. Starb also ein Baum, konnte aus seinen Wurzeln wieder ein neuer heranwachsen. Das schien ihm die Möglichkeit einer fast unendlichen Lebensdauer von Olivenbäumen zu beweisen. Oft, wenn er an diesem majestätischen Greis vorbeikam, setzte er sich neben ihm auf die Erde und betrachtete seine knorrig gewachsenen Stämme und Äste. Er fragte sich, wer wohl diesen Baum gepflanzt, und wie wohl das Grundstück zu jener Zeit ausgesehen haben mochte. Zu gerne hätte er einen Augenblick lang in diese vergangene Zeit hineingeschaut.

Eines Abends ‒ es war Ende Mai und die Bäume standen prächtig in voller Blüte ‒ setzte er sich wieder einmal neben den alten Baum. Er saß nicht lange dort, als er plötzlich eine Stimme vernahm. Es war nicht eigentlich ein Hören, vielmehr ein Fühlen, ein Durchdrungensein von der Stimme. Sie schwang in seinem Körper und doch spürte er, dass sie vom alten Baum her kam.
»Es freut mich, dass du meine Stimme vernehmen kannst, es hat lange gedauert«, sagte der Baum. Ettore war so verblüfft, dass er glaubte zu träumen und kniff sich in den Arm.
»Bis heute hast du nie etwas zu mir gesagt,« erwiderte er.
»Doch! Immer ‒ aber du hast nicht zugehört.«
Ettore dachte darüber nach und musste sich eingestehen, dass er den Baum zwar stets bewundert, aber nie versucht hatte, tiefer in sein Wesen einzudringen.
Der Baum fuhr fort: »Ich danke dir, dass du mir deine Zuneigung schenkst und möchte dir dafür einen Gefallen erweisen. Ich weiß, dass du dich gerne in die Zeit versetzen würdest, in der ich gepflanzt worden bin. Wenn du bereit bist, will ich dir dabei helfen.«
»Ich bin bereit«, stotterte Ettore, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Langsam wurde es dunkel vor seinen Augen, doch dann erfüllte ihn ein lieblicher Wohlklang, der die Dunkelheit bald wieder auflöste und alles um ihn herum in mildes Sonnenlicht tauchte. Er saß auf einer saftigen Wiese, auf der eine Reihe frisch gepflanzter Olivenbäume standen. Er wusste, dass er sich noch immer an der gleichen Stelle befand, und er erkannte auch sein Grundstück wieder, nur dass es völlig anders aussah. Kleine Trockenmäuerchen terrassierten das Gelände. Unter dem Feld dehnte sich ein dichter Eichenwald aus, der auch den gegenüberliegenden Hügelzug bedeckte. Links von ihm stand eine bescheidene, aus groben Steinen gemauerte Hütte mit einem hölzernen Vordach. Ein paar Meter vor ihm kniete ein junger Mann in einem langen linnenen Oberhemd. Er pflanzte ein junges Olivenbäumchen in eine weite, mit Erde angefüllte Grube. In diesem Augenblick kam von der Hütte her eine junge Frau mit einem Wasserkessel in der Hand auf ihn zu und sprach ein paar Worte, die Ettore nur ahnungsweise verstand. Der Mann erhob sich und drehte sich um. Ettore erstarrte: Der junge Mann war er selbst, Ettore!
Jetzt vernahm er wieder die Stimme des alten Baumes:
»Du hast dich erkannt, das ist gut«.
»Bin ich es wirklich?«
»Ja, du bist es«.
»Was ist es für eine Zeit?«
»In deiner Vorstellung das frühe Mittelalter.«
»Ist es eine gute Zeit?«
»Zeit ist weder gut noch schlecht.«
»Wie meinst du das?«
»Zeit ist eine Illusion, alles ist immer, immer ist alles jetzt. Verstehst du?«
»Ja, ich glaube schon. Könnte ich hier bleiben ‒
ich meine, in dieser Zeit?«
»Du bist schon hier!« antwortete der Baum.

Ettore hatte am Vortag mit seinem Freund Giuseppe abgemacht, am nächsten Mittwoch nach San Geronimo zu fahren, um einen Balkenmäher zu kaufen. Giuseppe wartete vergebens in der Bar an der Via Roma auf ihn. Das beunruhigte ihn, denn er kannte Ettore als einen zuverlässigen Menschen. Er rief ihn von der Bar aus an, aber niemand meldete sich. Dann fuhr er hinauf zu Ettores Haus. Auch da fand er ihn nicht. Er rief und schrie: »Ettoreeee! Ettoreeee! « Nichts! Dann eilte er auf die kleine Anhöhe vor dem Haus und spähte in den Olivenhain hinunter. Sein Blick streifte über die krummen Reihen von Bäumen. Ettore war nirgends zu finden, aber Giuseppe gewahrte erstaunt, dass dort, wo immer der knorrige alte Baum gestanden hatte, nun ein kleines, frisch gepflanztes Olivenbäumchen aus der Erde ragte.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Willkommen in/auf/unter der Leselupe!

Ich hoffe, du bist nicht empfindlich, was Kritik angeht, denn obwohl ich im Detail (bis auf ein paar Fehler**) kaum Bemeckernswertes(*) gefunden habe, finde ich den Text nicht wirklich gut gelungen.

Der größte Teil (rein zeilenmäßig ca. die Hälfte) ist nur Setting und Kulisse (Infos über Ettore und die Umgebung), die Handlung (die Sache mit dem Baum-Dialog + die "Auffindung") macht zum einem nur die Hälfte des Textes aus und hat andererseits nur in wenigen Teilen mit den ausufernd aufgesagten Infos aus Setting/Kulisse zu tun.

(*) Beim ersten Lesen doch zu bemeckern:
Der letzte Abschnitt wirkt verkrampft: Statt dich auf die "Auffindung" (also die Pointe) zu konzentrieren, musstest du für dieses Auffinden erstmal noch eine neue "Handlung" (Ettore war verabredet gewesen) und neue Infos (Ettore war immer zuverlässig) erfinden. Und auch hier hat das Auffinden (der junge Baum) nur rudimentär mit dem Rest des Textes zu tun.

(**) Beim Detail-Lesen gefunden:
In einem kleinen, alten Bauernhaus oberhalb des Dorfes Girasole, in der Provinz San Geronimo, lebte seit über fünfzig Jahren Ettore Zingarelli. Er war kein gebildeter Mann, sein Jahrgang hatte noch das Glück gehabt, nur fünf Jahre zur Schule gehen zu müssen, aber er hatte einen gesunden Menschenverstand und einen friedvollen Charakter. Der Ertrag seiner kleinen Landwirtschaft – vierhundert Olivenbäume, ein kleiner Weinberg, ein paar Schafe und ein Dutzend Hühner ‒ reichte kaum, um davon leben zu können, obwohl er den ganzen Tag hart arbeitete. Seit dem allzu frühen Tod seiner Frau Simonetta führte er ein ruhiges und wenig aufregendes Dasein. Er nahm kaum mehr am gesellschaftlichen Leben des Dorfes teil. Nur noch selten spielte er in der Bar eine Partie Briscola mit seinen Jahrgängern, oder besuchte mit seinem Freund Giuseppe ein lokales Fußballspiel auf dem Campo sportivo. Einige Dorfbewohner nannten ihn den »Philosophen«. Das gefiel ihm, obwohl er nicht genau wusste, warum man ihn so hieß.
Hier passen die Stile nicht. Zum einen benutzt du modernen Berichtsstil (Landwirtschaft als Synonym für den landwirtschaftlichen Betrieb, Ertrag nicht wie ursprünglich nur das Geerntete sondern das gesamtwirtschaftliche Ergebnis, teilnehmen am gesellschaftlichen Leben), andererseits greifst du zu der alten Formulierung "jemanden xy heißen" für "jemanden xy nennen"
Inhalt: Was zum Teufel ist "Glück" daran, nur 5 Jahre zur Schule gehen zu müssen? Zumal du später mitteilst, dass er sich kaum über Wasser halten kann – hätte er mehr gelernt, könnte er womöglich jetzt ertragreicher wirtschaften.

»Wieso nennen mich manche Leute den Philosophen?«, hatte er einmal Giuseppe gefragt. »Weil du eben einer bist!«[red]KOMMA[/red] hatte dieser geantwortet, und Ettore gab sich damit zufrieden. Es stimmte auch, er war auf seine Weise ein Philosoph; nicht etwa weil er gescheite, hochtrabende Dis-kussionen über Gott und die Welt führte, sondern weil er viel nach-dachte über die wichtigen Dinge im Leben und sich darüber Rechen-schaft ablegte.
Übriggebliebene Trennstriche
Schlecht konstruiert: Dieser ganze Absatz wiederholt nur, was die letzten beiden Sätze des vorherigen Absatzes auch schon sagten.
Seltsam: Wer zieht dieses Fazit, dass "es stimmte"?
Man kann (sich) nicht "über Dinge Rechenschaft ablegen", man legt Rechenschaft ab über Taten (eventuell auch Gedanken, Einstellungen und Absichten).

Die nun folgende Leerzeile ist nicht sinnvoll; es gibt keinen inhaltlichen Sprung zwischen den ersten beiden Absätzen und dem Kommenden, der diese "Quasi-Kapitel-Bildung" rechtfertigt.

Ettore liebte sein Grundstück, seine Reben und vor allem seine Olivenbäume. Er pflegte sie liebevoll und unermüdlich, was sie ihm mit reichen Erträgen dankten. Meistens erntete Ettore mehr und schönere Früchte als alle seine Nachbarn. Aber die reichere Ernte war nicht sein erster Beweggrund, um zu den Bäumen Sorge zu tragen. Er wusste, dass sein Olivenhain seit vielen Generationen existierte, un¬zählige Menschen hatten ihn von Anbeginn bis zum heutigen Tag ge¬hegt und gepflegt, hatten den Boden gepflügt und gedüngt, hatten die Bäume geschnitten, die Oliven geerntet. Er war der letzte in der langen Reihe, die andern waren längst unter dem Boden, aber die Bäume blühten weiter, trugen weiter Frucht, jeder einzelne hatte den Menschen schon zahllose Krüge dieses köstlichen, goldenen Öls ge¬schenkt. Ettore fühlte sich verpflichtet, die Bäume zu erhalten, das Erbe weiterzuführen ‒ ja mehr noch, er sah darin seine eigentliche raison d’être!
Es irritiert, dass er von seinen 400(!) Olivenbäumen "reiche Ernten" bekam, es trotzdem aber zusammen mit all dem anderen, was er so noch hat, "kaum reichte, um davon leben zu können".
"erster Beweggrund" suggierte eine zeitliche Reihenfolge
"um zu den Bäumen Sorge zu tragen" ist gründlich falsch. Du meinst "für sie Sorge zu tragen"
Es stecken noch Zeichenfehler (¬) drin.
Point-of-View-/Stil-Verletzung: Ein Italiener, der nur 5 Jahr die Schule besuchte und auch danach offenbar keine höhere Bildung genoss, mag in etwas seine Bestimmung oder sein Schicksal sehen, aber nicht seine raison d’être (eine Formulierung, die deutsche Normalleser nachschlagen müssten - nicht gut für den Lesefluss!).
Die Redewendung heißt nicht "unter dem Boden sein" sondern "unter der Erde".
Die Leerzeile nach diesem "Kapitel" stört mich; der "Sprung" ist nicht groß genug.

Am Ende eines Tagwerkes,[red]KEIN KOMMA[/red] pflegte er jeweils einen Rundgang durch den Olivenhain zu machen. Der Hain bestand aus zwei, durch ….


»Es freut mich, dass du meine Stimme vernehmen kannst, es hat lange gedauert«, sagte der Baum. Ettore war so verblüfft, dass er glaubte zu träumen[red]KOMMA[/red] und kniff sich in den Arm.
»Bis heute hast du nie etwas zu mir gesagt,« erwiderte er.
Die Absätze sind falsch gelegt: Nach "Arm" gehört keiner hin, dafür sollte einer nach "Baum" gemacht werden.
Nach gesagt kommt erst « und dann das Komma.

»Doch! Immer ‒ aber du hast nicht zugehört.«
Das ist sehr irritierend: Nach der mühsam gemalten Kulisse und den bisherigen Infos (die tiefe Verbundenheit und speziell, dass er sich oft zu diesem Baum setzt und sinniert), ist nicht nachvollziehbar, was ihn vom Zuhören abgehalten hat.

Ettore dachte darüber nach und musste sich eingestehen, dass er den Baum zwar stets bewundert, aber nie versucht hatte, tiefer in sein Wesen einzudringen.
… jemand, der oben bretterbreit als "Philosoph" verkauft wurde?? Warum hat so einer ausgerechnet bei dem Thema, das ihm sooo am Herzen liegt (die Bäume), ausgerechnet hier mal nicht philosophiert?

Der Baum fuhr fort: »Ich danke dir, dass du mir deine Zuneigung schenkst[red]KOMMA[/red] und möchte dir dafür einen Gefallen erweisen. Ich weiß, dass du dich gerne in die Zeit versetzen würdest, in der ich gepflanzt worden bin. Wenn du bereit bist, will ich dir dabei helfen.«
Hinweis: Natürlich kann der weise Olivenbaum "schlampig" reden, aber ich fände es sinnhafter, wenn er das korrekte Wort "gern" benutzen würde.

»Ich bin bereit«, stotterte Ettore, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Langsam wurde es dunkel vor seinen Augen, doch dann erfüllte ihn ein lieblicher Wohlklang, der die Dunkelheit bald wieder auflöste und alles um ihn herum in mildes Sonnenlicht tauchte. Er saß auf einer saftigen Wiese, auf der eine Reihe frisch gepflanzter Olivenbäume standen. Er wusste, dass er sich noch immer an der gleichen Stelle befand, und er erkannte auch sein Grundstück wieder, nur dass es völlig anders aussah. Kleine Trockenmäuerchen terrassierten das Gelände. Unter dem Feld dehnte sich ein dichter Eichenwald aus, der auch den gegenüberliegenden Hügelzug bedeckte. Links von ihm stand eine bescheidene, aus groben Steinen gemauerte Hütte mit einem hölzernen Vordach. Ein paar Meter vor ihm kniete ein junger Mann in einem langen linnenen Oberhemd. Er pflanzte ein junges Olivenbäumchen in eine weite, mit Erde angefüllte Grube. In diesem Augenblick kam von der Hütte her eine junge Frau mit einem Wasserkessel in der Hand auf ihn zu und sprach ein paar Worte, die Ettore nur ahnungsweise verstand. Der Mann erhob sich und drehte sich um. Ettore erstarrte: Der junge Mann war er selbst, Ettore!
Dass er sein "Grundstück" erkennt, obwohl es ganz anders aussieht, ist grenzwertig, ebenso das mit der "mit Erde angefüllten Grube". Jaja, natürlich kann er die Gegend an den der Struktur (Hügel etc.) erkennen (dann ist "völlig anders aussehen" aber eine fast unzulässige Maximimierung) und ja, der junge Ettore kann auch eine Grube ausgehoben und diese dann mit Erde gefüllt haben (dann ist es aber keine Grube mehr) – glücklich formuliert ist es nicht.
Seltsam, dass der schlichte Ettore ein Wort wie "terrassieren" benutzt, als der sich die Umgebung beguckt.

Jetzt vernahm er wieder die Stimme des alten Baumes: [red]KEIN ABSATZ[/red]
»Du hast dich erkannt, das ist gut«.
»Bin ich es wirklich?«
»Ja, du bist es«.
»Was ist es für eine Zeit?«
»In deiner Vorstellung das frühe Mittelalter.«
»Ist es eine gute Zeit?«
»Zeit ist weder gut noch schlecht.«
»Wie meinst du das?«
»Zeit ist eine Illusion, alles ist immer, immer ist alles jetzt. Verstehst du?«
»Ja, ich glaube schon. Könnte ich hier bleiben ‒ [red]KEIN ABSATZ[/red]
ich meine, in dieser Zeit?«
»Du bist schon hier!«[red]KOMMA[/red] antwortete der Baum.

Ettore hatte am Vortag mit seinem Freund Giuseppe abgemacht, am nächsten Mittwoch nach San Geronimo zu fahren, um einen Balkenmäher zu kaufen. Giuseppe wartete vergebens in der Bar an der Via Roma auf ihn. Das beunruhigte ihn, denn er kannte Ettore als einen zuverlässigen Menschen. Er rief ihn von der Bar aus an, aber niemand meldete sich. Dann fuhr er hinauf zu Ettores Haus. Auch da fand er ihn nicht. Er rief und schrie: »Ettoreeee! Ettoreeee! [red]LEERZEICHEN ZU VIEL[/red]« Nichts! Dann eilte er auf die kleine Anhöhe vor dem Haus und spähte in den Olivenhain hinunter. Sein Blick streifte über die krummen Reihen von Bäumen. Ettore war nirgends zu finden, aber Giuseppe gewahrte erstaunt, dass dort, wo immer der knorrige alte Baum gestanden hatte, nun ein kleines, frisch gepflanztes Olivenbäumchen aus der Erde ragte.
Die Angabe "nächster Mittwoch" ist merkwürdig leer, wenn zugleich völlig offen ist, an was für einem Wochentag diese Baum-Rede-Sache stattfindet. Ob es mit dieser Angabe sinnvoller ist (weil: Wofür ist das wichtig?), sei mal dahingestellt.
Das "Nichts!" ist ein Stilbruch – der ganze Text ist eher beobachtend-behäbig erzählt, das hier ist typische (modische) Action-Sprache.



Nachtrag: Das hier steht bei Fantasy, ok, aber dass ich weder verstehe, was passiert, noch was "der Künstler damit sagen wollte", hilft mir nicht eben dabei, den Text gut zu finden.
 

Happy End

Mitglied
Ich verstehe den Schluß nicht - ist Ettore zu einem Ölbäumchen geworden oder hat er eins gepflanzt und ist verschwunden?

Mein erster Eindruck ist, dass die Umstände für eine kleine Geschichte ausreichend recherchiert sind, obwohl es natürlich eine Fantasy- Story ist.

Ich finde sie überdurchschnittlich gut, angenehm und unaufdringlich erzählt und habe diese Geschichte ausgesprochen gern gelesen!

Hoffentlich gibt es hier bald mehr von Garofius?
 

Garofius

Mitglied
Vielen Dank, jon, für die ausführliche, konstruktive Kritik. Obwohl sie mir zum Teil recht streng erscheint, bin ich (fast) durchwegs damit einverstanden und werde den Text in diesem Sinne überarbeiten. Strenge Kritik befruchtet.
Gruß Garofius
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Nicht zu sehr ärgern, lieber Garofius, ich bin streng. Und am krümelkackerischsten bin ich da, wo ich nicht über Steine sondern eben nur über Krümel stolpere. ;)

Im Übrigen muss man (zumindest in Rahmen wie diesem hier) nicht alles, was ein Kommentator/Kritiker/Lektor von sich gibt, gleich in Textänderungen ummünzen. Manchmal hält man die eigene Lösung für besser/treffender, manchmal fällt einem auch nur keine bessere Lösung ein. Wichtig ist nur, nicht sofort pauschal abzuwinken.
 

Garofius

Mitglied
Der Ölbaum

In einem kleinen, alten Bauernhaus oberhalb des Dorfes Girasole, in der Provinz San Geronimo, lebte seit über fünfzig Jahren Ettore Zingarelli. Er war kein gebildeter Mann, aber er hatte einen gesunden Menschenverstand und einen friedvollen Charakter. Der Ertrag seines bescheidenen Hofes ‒ zweihundert Olivenbäume, ein kleiner Weinberg, ein paar Schafe und ein Dutzend Hühner ‒ reichte kaum, um davon leben zu können, obwohl er den ganzen Tag hart arbeitete. Seit dem allzu frühen Tod seiner Frau Simonetta führte er ein ruhiges und wenig aufregendes Dasein. Er nahm kaum mehr am gesellschaftlichen Leben des Dorfes teil. Nur noch selten spielte er in der Bar eine Partie Briscola mit seinen Jahrgängern, oder besuchte mit seinem Freund Giuseppe ein lokales Fußballspiel auf dem Campo sportivo. Einige Dorfbewohner nannten ihn den »Philosophen«. Das gefiel ihm, obwohl er nicht genau wusste, warum man ihn so hieß.
»Wieso nennen mich manche Leute den Philosophen?«, hatte er einmal Giuseppe gefragt. »Weil du eben einer bist!«, hatte dieser geantwortet, und Ettore gab sich damit zufrieden. Es stimmte auch, er war auf seine Weise ein Philosoph; nicht etwa weil er gescheite, hochtrabende Diskussionen über Gott und die Welt führte, sondern weil er viel nachdachte über die wichtigen Dinge im Leben.

Ettore liebte sein Grundstück, seine Reben und vor allem seine Olivenbäume. Er pflegte sie liebevoll und unermüdlich, was sie ihm mit reichen Erträgen dankten. Meistens erntete Ettore mehr und schönere Früchte als alle seine Nachbarn. Aber die reichere Ernte war nicht sein erster Beweggrund, um zu den Bäumen Sorge zu tragen. Er wusste, dass sein Olivenhain seit vielen Generationen existierte, unzählige Menschen hatten ihn von Anbeginn bis zum heutigen Tag gehegt und gepflegt, hatten den Boden gepflügt und gedüngt, hatten die Bäume geschnitten, die Oliven geerntet. Er war der letzte in der langen Reihe, die andern waren längst unter der Erde, aber die Bäume blühten weiter, trugen weiter Frucht, jeder einzelne hatte den Menschen schon zahllose Krüge dieses köstlichen, goldenen Öls geschenkt. Ettore fühlte sich verpflichtet, die Bäume zu erhalten, das Erbe weiterzuführen ‒ ja mehr noch, er sah darin seine eigentliche Bestimmung!
Am Ende eines Tagwerkes pflegte er jeweils einen Rundgang durch den Olivenhain zu machen. Der Hain bestand aus zwei, durch ein schmales Wäldchen getrennten Parzellen. Auf der einen standen die Bäume wie Soldaten in geraden Reihen und gleichmäßigen Abständen. Auf der andern hingegen waren die Abstände unregelmäßig und die Reihen liefen krumm und quer zum Hang. Hier standen uralte, knorrige Bäume von einer Sorte, die man in der ganzen Gegend sonst nirgends mehr fand. Nicht einmal sein Freund Giuseppe, der ein Experte war, kannte sie. Dieses Stück Land gefiel Ettore besonders gut. Er stellte sich vor, dass die ältesten der Bäume, die hier standen, vor vielen Jahrhunderten, wenn nicht schon zur Zeit der alten Römer, gepflanzt worden waren. Es war ihm bekannt, dass Ölbäume tausend Jahre alt werden konnten, und hier auf diesem Grundstück stand ein Baum, bei dem der dicke Hauptstamm längst ausgetrocknet und schon fast völlig verwittert war. Aber aus dem Wurzelwerk rund um den Strunk waren drei neue Stämme ausgetrieben, die auch schon einige hundert Jahre alt sein mochten. Starb also ein Baum, konnte aus seinen Wurzeln wieder ein neuer heranwachsen. Das schien ihm die Möglichkeit einer fast unendlichen Lebensdauer von Olivenbäumen zu beweisen. Oft, wenn er an diesem majestätischen Greis vorbeikam, setzte er sich neben ihm auf die Erde und betrachtete seine knorrig gewachsenen Stämme und Äste. Er fragte sich, wer wohl diesen Baum gepflanzt, und wie wohl das Grundstück zu jener Zeit ausgesehen haben mochte. Zu gerne hätte er einen Augenblick lang in diese vergangene Zeit hineingeschaut.

Eines Abends ‒ es war Ende Mai und die Bäume standen prächtig in voller Blüte ‒ setzte er sich wieder einmal neben den alten Baum. Er saß nicht lange dort, als er plötzlich eine Stimme vernahm. Es war nicht eigentlich ein Hören, vielmehr ein Fühlen, ein Durchdrungensein von der Stimme. Sie schwang in seinem Körper und doch spürte er, dass sie vom alten Baum her kam.
»Es freut mich, dass du meine Stimme vernehmen kannst, es hat lange gedauert«, sagte der Baum. Ettore war so verblüfft, dass er glaubte zu träumen, und kniff sich in den Arm. »Bis heute hast du nie etwas zu mir gesagt«, erwiderte er.
»Doch! Immer ‒ aber du hast nicht zugehört.«
Ettore dachte darüber nach und musste sich eingestehen, dass er den Baum zwar stets bewundert, aber nie versucht hatte, tiefer in sein Wesen einzudringen.
Der Baum fuhr fort: »Ich danke dir, dass du mir deine Zuneigung schenkst, und möchte dir dafür einen Gefallen erweisen. Ich weiß, dass du dich gerne in die Zeit versetzen würdest, in der ich gepflanzt worden bin. Wenn du bereit bist, will ich dir dabei helfen.«
»Ich bin bereit«, stotterte Ettore, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Langsam wurde es dunkel vor seinen Augen, doch dann erfüllte ihn ein lieblicher Wohlklang, der die Dunkelheit bald wieder auflöste und alles um ihn herum in mildes Sonnenlicht tauchte. Er saß auf einer saftigen Wiese, auf der eine Reihe frisch gepflanzter Olivenbäume standen. Er wusste, dass er sich noch immer an der gleichen Stelle befand, und er erkannte auch sein Grundstück wieder, nur dass es anders aussah. Kleine Trockenmäuerchen terrassierten das Gelände. Unter dem Feld dehnte sich ein dichter Eichenwald aus, der auch den gegenüberliegenden Hügelzug bedeckte. Links von ihm stand eine bescheidene, aus groben Steinen gemauerte Hütte mit einem hölzernen Vordach. Ein paar Meter vor ihm kniete ein junger Mann in einem langen linnenen Oberhemd. Er pflanzte ein junges Olivenbäumchen in eine weite, mit Erde angefüllte Grube. In diesem Augenblick kam von der Hütte her eine junge Frau mit einem Wasserkessel in der Hand auf ihn zu und sprach ein paar Worte, die Ettore nur ahnungsweise verstand. Der Mann erhob sich und drehte sich um. Ettore erstarrte: Der junge Mann war er selbst, Ettore!
Jetzt vernahm er wieder die Stimme des alten Baumes: »Du hast dich erkannt, das ist gut«.
»Bin ich es wirklich?«
»Ja, du bist es«.
»Was ist es für eine Zeit?«
»In deiner Vorstellung das frühe Mittelalter.«
»Ist es eine gute Zeit?«
»Zeit ist weder gut noch schlecht.«
»Wie meinst du das?«
»Zeit ist eine Illusion, alles ist immer, immer ist alles jetzt. Verstehst du?«
»Ja, ich glaube schon. Könnte ich hier bleiben ‒ ich meine, in dieser Zeit?«
»Du bist schon hier!«, antwortete der Baum.

Ettore hatte am Vortag mit seinem Freund Giuseppe abgemacht, tags darauf nach San Geronimo zu fahren, um einen Balkenmäher zu kaufen. Giuseppe wartete vergebens in der Bar an der Via Roma auf ihn. Das beunruhigte ihn, denn er kannte Ettore als einen zuverlässigen Menschen. Er rief ihn von der Bar aus an, aber niemand meldete sich. Dann fuhr er hinauf zu Ettores Haus. Auch da fand er ihn nicht. Er rief und schrie: »Ettoreeee! Ettoreeee!« Nichts rührte sich! Dann eilte er auf die kleine Anhöhe vor dem Haus und spähte in den Olivenhain hinunter. Sein Blick streifte über die krummen Reihen von Bäumen. Ettore war nirgends zu finden, aber Giuseppe gewahrte erstaunt, dass dort, wo immer der knorrige alte Baum gestanden hatte, nun ein kleines, frisch gepflanztes Olivenbäumchen aus der Erde ragte.
 

Garofius

Mitglied
Hallo Happy End
Danke für die lobenden Worte! Es freut mich, dass dir der Text gefallen hat. Ich denke Ettore ist in der Vergangenheit verschwunden, aber auch alles andere ist möglich, wer weiß das schon?
Saluti Garofius
 

Happy End

Mitglied
Hallo Garofius, inzwischen habe ich deinen Text verstanden und verbessert hast du ihn auch noch, wie schön!
Gruß,
Happy End
 



 
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