Der Penner

Mariko

Mitglied
Hallo,

ich arbeite gerade an folgendem Text und könnte ein paar Verbesserungstipps gebrauchen.

Danke!


Der Penner

Bis zur Abfahrt der S-Bahn ist noch viel Zeit. Paula stempelt ihre Fahrkarte und steigt in den fast leeren wartenden Zug. Sie wählt einen Fensterplatz in Fahrtrichtung. Auf dem Bahnsteig sind nur wenige Menschen unterwegs. Eine junge Mutter mit Kinderwagen studiert den Fahrplan, ein älteres Paar kämpft mit dem Fahrkartenautomaten, drei Teenies unterhalten sich kichernd auf der grünen Bank.

Ein Mann um die dreißig kommt gerade mit der Rolltreppe zum Bahnsteig hinunter. Er ist groß und schlank, hat einen Dreitagebart und trägt eine braune Hornbrille. Seine dunklen fettigen Haare hängen strähnig im Gesicht und über den Ohren. Die ausgewaschene beigefarbene Cordhose ist an den Knien ausgebeult, der Hosenbund sitzt unter dem Bauchnabel und die Hosentaschen in Kniehöhe. Die Hosenbeine hängen viel zu lang über seinen schwarzen schmutzigen Schuhen. Unter der rostroten Lederjacke sieht der offene Kragen eines braun karierten Flanellhemdes hervor. Ein prall gefüllter Leinenbeutel mit Werbung eines Drogeriemarktes hängt ihm über der Schulter und in der Hand hält er eine Dose Bier. „Wie ungepflegt,“ denkt Paula, „bestimmt wieder einer dieser arbeitslosen Penner, die schon am frühen Morgen in den Abfallbehältern nach Pfandflaschen wühlen, um das Geld für den Tag zusammen zu suchen und ansonsten auf unsere Kosten leben. So wie der aussieht, findet er auch keine Arbeit!“

Der Penner bleibt auf dem Bahnsteig kurz stehen und drückt seine Zigarette mit dem Fuß am Boden aus. Er röchelt laut, hustet und spuckt auf den Bahnsteig. Dann schlurft er scheinbar völlig teilnahmslos nach vorn gebeugt geradewegs auf die noch offene Tür zu Paulas Wagen zu. „Ob der wohl eine Fahrkarte hat? Hoffentlich setzt der sich jetzt nicht zu mir“, denkt Paula, „ich habe keine Lust auf eine Alkoholfahne und plumpe Anmache am frühen Morgen.

Der Penner besteigt den Wagen, sieht nach rechts und links und kommt tatsächlich „Oh nein, bitte nicht!“ auf Paula zu. Er stellt die Bierdose auf das kleine Tischchen am Fenster und setzt sich genau auf den gegenüberliegenden Platz. Ein muffiges Gemisch aus kaltem Rauch und Alkohol dringt zu Paula herüber. Sie ist entsetzt. Aus der Nähe sieht der Typ noch ungepflegter aus. Der Hemdkragen hat einen deutlichen Schmutzrand und auch die Hose könnte mal gewaschen werden. Der Penner trägt einen kleinen Brillianten in der Nase. „Ob der echt ist? Wo hat er den wohl her. Der war doch bestimmt teuer.“ Angeekelt dreht Paula den Kopf und schaut aus dem Fenster, als gäbe es dort draußen einen spannenden Film zu sehen. Sie vermeidet angespannt jeden weiteren Blickkontakt zu ihrem Gegenüber, der sie ungeniert mustert. „Am besten suche ich mir einen anderen Platz“, denkt Paula, “hier bleibe ich nicht“.

Bevor Paula sich tatsächlich dazu entschließt, einen anderen Platz zu suchen, werden nach mehrmaligem Piepsen die Türen geschlossen und der Zug fährt an. Da steht der Penner plötzlich auf und hält ihr einen Dienstausweis der Bundesbahn unter die Nase. „Guten Tag“, sagt er freundlich lächelnd, „Fahrkartenkontrolle, Ihren Fahrausweis bitte!“
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Mariko,

also erst einmal: Das ist gut und flüssig geschrieben.
Natürlich erwartet man, dass diese Konstellation sich auflöst und aus dem 'Penner' etwas anderes wird als 'vorgezeichnet'.
Der Überraschungseffekt selbst ist Dir gut gelungen, ob das auch glaubwürdig ist, entscheidet individuell der Leser. Mir war es etwas zu überraschend, aber ich bin ja nicht das Maß aller Dinge ;)
Mir gefällt an Deiner Sprache das gute Verhältnis von Üppigkeit an Information und klarer Struktur, und diese Stärke kann sich bei einem größer angelegten Plot sicher noch besser entfalten.
Ich bin schon gespannt auf Deine nächsten Texte.

Liebe Grüße
Petra
 

Mariko

Mitglied
Liebe Petra,

vielen Dank für Deine schnelle und so positive Antwort. Wenn die Überraschung etwas zu hart ausgefallen ist und dadurch nicht glaubwürdig erscheint, gibt es aus Deiner Sicht eine Möglichkeit, das zu ändern? Vielleicht könnte Paula darauf noch reagieren?
 

Inu

Mitglied
Liebe Mariko

Das ist gut und anschaulich geschrieben. Ein zusätzlicher Clou könnte sein, wenn Du ( aber nur so ganz nebenbei und am Anfang) hättest durchblicken lassen, dass sie gar keine Fahrkarte hat ;)


Lg
Inu
 

Mariko

Mitglied
Liebe Inu,

vielen Dank für Deine Rückmeldung. Deine Idee mit der Fahrkarte finde ich gut. Ich überlege mir, wo ich das einbaue.
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Mariko,

ich hatte nicht das Gefühl, dass an dieser Geschichte etwas geändert werden musste - auch wenn ich Inus Idee sehr gut finde.

Ich glaube sogar, dass diese Geschichte in seiner Kürze sehr rund ist. Wenn man jetzt anfangen würde, großartig Erweiterungen zu stricken für eine angenommene Plausibilität, dann leidet die Geschichte.

Nicht durch Inus Idee, das ließe sich ja leicht machen: Sie starrt ihn an, fühlt sich wie in heißes/kaltes Wasser getaucht, weil ihr einfällt, a) sie hat den Fahrschein vergessen, abzustempeln, b) sie hat ihre Monatskarte in der anderen Tasche vergessen, c) sie hat verschlafen, dass ein neuer Monat angefangen hat und ihre Monatskarte nicht mehr gülig ist - und irgendwie hat sich die Geschichte um 180 Grad gedreht :) Klasse!

Liebe Grüße
Petra
 

Mariko

Mitglied
Liebe Petra,

genau das ist es: sie hat vergessen, die Fahrkarte abzustempeln! Den Satz würde ich dann aber lieber ans Ende der Geschichte stellen und nicht an den Anfang.
 

petrasmiles

Mitglied
... genau! Das ist der twist. Sie fühlt sich so großartig überlegen und in dem Moment, wo er sich zu erkennen gibt, fällt ihr siedendheiß ein, dass sie gar keinen gültigen Fahrausweis hat, und sauste von 'überlegen' zu 'unterlegen' in der Situation (wobei ich der Ansicht bin, dass dieses sich überlegen fühlen immer daneben ist! Getreu der Maxime: Hochmut kommt vor dem Fall ;))

Liebe Grüße
Petra
 



 
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