Der Rentnerbus oder Falscher Ansatz bei der Gesundheitsreform?

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Der Rentnerbus oder Falscher Ansatz bei der Gesundheitsreform?

Der Bus hat vier Minuten Verspätung. Er neigt sich zur Seite, und so können die drei alten Männer bequem einsteigen. Zwei von ihnen nehmen es dankend zur Kenntnis. Einer schimpft: „In diesem Staat klappt auch nichts mehr! Früher…“
„…war` s auch nicht besser“, schneidet ihm der Älteste der drei das Wort ab, der Wetterfrosch. „Jetzt gibt es wenigstens diese Busse. Früher musste ich mir beim Einsteigen helfen lassen. Jetzt kann ich`s alleine.“

Der Wetterfrosch hat ein steifes Bein. Seit 43: Altona. Bomben. Dem dritten der alten Männer ist eins samt Knie abgenommen worden. Zu viel geraucht. Er hat eine gute Prothese, und es fällt nicht auf. Die beiden anderen hätten es auch nie erfahren, wenn er nicht immer wieder über Phantomschmerzen klagen würde: „Das Bein ist da und ist nicht da. Aber die Schmerzen sagen mir, es ist da.“ Er klopft sich ans Bein, und es klingt wie Metall.

Sie fahren jeden Montag mit dem 9 Uhr 35-Bus zum Arzt. Jeder zu einem anderen. An der nächsten Haltestellte steigen vier Fahrgäste hinzu, ältere Frauen. Die drei Männer beobachten diesen Vorgang sehr genau.

An der dritten Haltestelle wird ein Kinderwagen herein geschoben. Eine junge Frau und eine alte Frau nehmen Platz.

Bei dem alten Mann, der gemeckert hatte, erhellt sich das Gesicht. „Nächste Woche geh ich für drei Wochen ins Krankenhaus“, sagt er. Plötzlich ist da eine Freude, die von innen kommt.
Der Wetterfrosch, überrascht: „Und darauf freust du dich?“
„Ich lasse mich jedes Jahr für drei Wochen ins Krankenhaus überweisen. Zum Durchchecken. Nur Routine. Ich habe nichts. Aber dort kümmern sie sich um mich.“
„Die netten Krankenschwestern?“
„Ja, dort wirst du gut versorgt. Und ist billiger als Hotel.“
„Nicht mehr lange, dann wirst du ganz schön zuzahlen müssen. Die Krankenkassen wollen nicht wegen dir Pleite machen.“
„Ach, so ist das.“

Da greift der alte Mann mit der Beinprothese in eine Hosentasche und nimmt sein Taschentuch heraus. Es ist ein kleines Bündel. Er faltet es sorgfältig auseinander und enthüllt eine Zahnprothese. Er zeigt sie herum.
„Die passt nicht!“ sagt er. „Ich war schon drei Mal da. Wenn das jetzt nicht klappt, kann ich sie wegschmeißen.“
Der Wetterfrosch: „Mein lieber Franz, du musst Geduld haben. Es dauert ein paar Tage, bis der Gaumen sich angepasst hat.“
„Du weißt aber alles. Vielleicht hast du Recht. Das hat mir der Zahnarzt auch gesagt.“

Der Franz scheint jedenfalls überzeugt zu sein. Er wickelt seine Zahnprothese wieder ein und steckt sie in die Hosentasche.

Es steigen zwei weitere alte Frauen in den Bus und nehmen Platz. Jetzt erhebt sich der Wetterfrosch und fragt so laut, dass es alle hören können: „Wer fährt zum Arzt? Hand heben!“

Alle, bis auf zwei und das Baby. Er kennt fast alle Gesichter und merkt sich jedes, das neu hinzukommt.
„Dann will ich euch mal sagen, wie morgen das Wetter wird: Wind und Sonne. Übermorgen dasselbe. Es wird ein heißer Herbst.“

Die Fahrgäste, die bislang still vor sich hingestarrt haben, fangen an, miteinander zu reden. Jeder, jede hat etwas sehr Wichtiges zu erzählen. Eine Frau mit weißem Pudelkopf beklagt sich bei ihrer Platznachbarin: „Man ist ja bei den Ärzten nicht mehr aufgehoben. Ich habe sie alle aufgesucht, hier, im ganzen Kreis. Operieren will mich keiner mehr. Wegen der Narben, sagen sie. Ist ja auch schon so viel herausoperiert. »Wir können nichts mehr für Sie tun.« Das sagen sie zu mir. Und ein ganz junger Arzt schrieb mir eine Überweisung für den Pschsüchotärapeuten. Eine Unverschämtheit! Ich lass mich doch nicht in die Klappsmühle schicken! Jetzt fahre ich nach Münster. Zur Uniklinik.“

Ihre Platznachbarin hat aufmerksam zugehört. Sie hat ein freundliches Lächeln. „Sind Sie denn wirklich krank?“ fragt sie jetzt.
„Was denken Sie denn?! Glauben Sie, die hätten mich operiert, wenn sie nichts gefunden hätten?!“
„Sie gehen von einem Arzt zum andern und keiner sagt Ihnen, was Ihnen fehlt. Sind Sie verheiratet?“
„Ja, aber...“
„Kommen Sie zu mir! Ich werde Ihnen helfen – zu einem guten Preis. Ich muss hier raus!“

Der Bus hält und neigt sich zur Seite. Zurück bleibt eine Visitenkarte in der Hand der Frau mit dem Pudelkopf. Endstation ist am Hauptbahnhof.

© Dietrich Stahlbaum
 

GabiSils

Mitglied
Hallo Dietrich,

schön. Du beschreibst nur, was du (der Erzähler)beobachtest, und überläßt die Schlußfolgerung dem Leser, dein Anliegen kommt dennoch klar heraus.

Gruß,
Gabi
 



 
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