Der Rosengarten

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Medusa

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Langsam erhob er sich. Er wusste nicht, wo er sich befand. Sein linker Arm schmerzte – ein langer blutiger Streifen zog sich an seinem Bizeps entlang. Um ihn herum herrschte modrige Dunkelheit. Doch auch ohne es zu sehen spürte er, dass er sich in einer nicht allzu großen Höhle befand. Er hatte keine Ahnung, wie er hierher gelangt war. Seine letzte Erinnerung zeigte ihm einen Kampf auf Leben und Tod. Ein Messer, dass sich direkt auf sein Herz zu bewegte.
Tastend streckte er die rechte Hand aus und wagte einen vorsichtigen Schritt vorwärts. Sein Fuß verursachte ein leises, schmatzendes Geräusch, als er sich auf den leicht schlammigen Grund senkte. Eine Haarsträhne legte sich auf seine Wange und hinterließ eine feuchte Spur, als er sie beiseite strich. Er wagte einen weiteren Schritt. Mit den Fingerspitzen berührte er eine raue Felswand. Endlich eine Möglichkeit sich zu orientieren. Langsam tastete er sich Schritt für Schritt vor, bis sich die Textur der Wand plötzlich änderte. Hier hatte jemand den Fels bearbeitet. Er fuhr mit den Fingerspitzen über die glatte Fläche, bis er einen senkrechten feinen Riss erreichte. Kaum wahrnehmbar, doch für seine angespannten Sinne überdeutlich, drangen Licht und Luft durch diesen Spalt. Als er seine Hand nach oben gleiten ließ, ertönte ein schabendes Geräusch. Etwas unter seiner Hand hatte sich bewegt. Stein kratzte über Stein, als sich der Riss erstaunlich rasch verbreiterte. Ein hohes Tor schob sich auf und enthüllte den Blick auf eine blühende Landschaft.
Einige Sekunden lang war er geblendet von dem grellen Tageslicht. Sanfte Hügel in sattem Grün zogen sich hin, so weit er sehen konnte. Sie waren bedeckt von zarten Blumen, die in allen Regenbogenfarben leuchteten. Er hatte der Schönheit der Natur nur selten Aufmerksamkeit geschenkt, dennoch war er sich sicher, dass er Gewächse dieser filigranen Vollkommenheit nie zuvor gesehen hatte. Weder Bäume noch Büsche durchbrachen die klare Linie des Horizonts. Ein Weg, kaum mehr als ein Pfad, führte zwischen den sanften Hügeln hindurch und entschwand schließlich seinen Blicken. Das Blau des Himmels war makellos, weder gestört durch Wolken, noch durch die Sonne oder andere Himmelskörper. Vollkommene Stille lag über dem in einen Mantel aus warmer Luft gehüllten Panorama.
Wie von selbst setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er die Höhle verlassen hatte und sich auf dem Pfad befand. Als er sich umwandte, um einen Blick zurück zu werfen, sah er nichts weiter als grüne Hügel. Im selben Moment verschwand auch seine Erinnerung an das dunkle Felsenverlies. Es war, als hätte nie etwas anderes als diese Ebene existiert.

Er wusste nicht, wie lange er dem Weg schon gefolgt war. Die ewig gleichförmige Landschaft wirkte einlullend in ihrer Perfektion. Vielleicht waren Stunden vergangen, vielleicht Wochen, Monate oder nur Minuten. Hatte es in seinem Leben je etwas anderes als diesen Pfad gegeben? Seine Augen glitten über den Horizont, registrierten eine Unregelmäßigkeit. Eine winzige Erhebung, dort wo der Pfad den Himmel berührte. Er setzte seinen Weg fort, unfähig den Blick abzuwenden. Zunächst noch unförmig offenbarte sich das Gebilde aus größerer Nähe als ein von einem üppigen Garten umgebener Turm. Zunächst ein beschämender Makel der unendlichen Weite, jetzt eine Vision aus blendend weißem Marmor. Seine Augen begannen zu tränen, teils wegen des gleißenden, gespiegelten Lichtes, teils um die Vollkommenheit jenes Bauwerks zu leugnen. Den Fuß des Turms zierten Kletterrosen, rankten herauf bis zu einer Höhe von fast zwei Metern. Das dunkle Rot ihrer Blüten, das in den Schatten fast schwarz wirkte, fand sich in den Rosenbüschen und -bäumen des Gartens wieder. Wie in Trance schritt er weiter, den Pfad entlang, auf den Turm zu. Je näher er kam, desto mehr Einzelheiten des Gartens offenbarten sich ihm. Die Büsche bildeten lange Hecken, die sich zu einem regelrechten Labyrinth vereinten. Nicht ein Zweig war geknickt, nicht ein Blatt lag am Boden, nicht ein Grashalm durchdrang die dunkelbraune Erde. Wenige Meter vor dem Garten erreichte er das Ende des Pfades. Er zögerte einen Moment bevor er den nächsten Schritt wagte. Ihm war, als wäre er sein Leben lang dem schmalen Weg gefolgt und es ängstigte ihn nun diesen zu verlassen.
Um ihn herum erhoben sich die Rosenhecken. Lange Zeit irrte er umher. Wann immer er glaubte, einen Weg zum Turm gefunden zu haben, wurde ihm dieser von undurchdringlichen Büschen versperrt. Einige Male war er sicher, dass sich eine Lücke nur Sekunden zuvor geschlossen hatte. Lange, dornenbewehrte Ranken erschienen lebendiger als gewöhnlich und fanden sich von einem Augenblick zum anderen vor seinen Füßen wieder, wenn er nicht genau auf seinen Weg achtete. Obgleich der Garten nicht besonders groß war, lief er nun schon seit Stunden ohne dem Turm näher gekommen zu sein. Seit einiger Zeit hinterließ er abgerissene Blätter um seinen Weg zu kennzeichnen, war jedoch bisher keiner seiner Markierungen begegnet, trotz des sicheren Gefühls im Kreis zu laufen. Nur langsam stiegen Bedenken aus den Tiefen seines Unterbewusstseins auf. Ungeachtet der Fülle der Blüten war nicht ein Hauch von Duft wahrzunehmen. Die vollkommene Stille an diesem Ort. Kein Vogelgezwitscher, nicht einmal das Summen eines Insekts war zu hören. Kaum hatte er diese Gedanken formuliert, da erreichte er einen Durchgang in einer der Hecken, der ihn näher zum Turm zu führen schien. Er durchschritt eine Art Torbogen, über und über bedeckt mit Rosenblüten. Auf der anderen Seite öffneten sich die Hecken zu einem nahezu runden Platz, an dessen gegenüberliegendem Ende ein Weg direkt zu dem marmornen Turm führte. Der Boden war bedeckt von weißen Kieselsteinen, so sauber, als lägen sie erst seit einigen Minuten hier. Doch er bemerkte weder den Boden, noch den Weg zum Turm. Sein Blick wurde gefesselt von der Frau die in der Mitte des Platzes stand.
Sie war perfekt, wie alles in dieser Welt. Ihre Haut war makellos und so hell, dass sie fast durchscheinend wirkte. Ihre glatten, ebenholzfarbenen Haare reichten bis weit auf ihren Rücken. Sie trug ein dunkelrotes Kleid, bodenlang und mit schlichten Ornamenten Ton in Ton bestickt. Ihr Blick war nach unten gerichtet, auf eine Rose die sie in ihrer Hand hielt. Sein Fuß verursachte ein knirschendes Geräusch, als er sich auf die Steine des Platzes senkte. Sie verharrte vollkommen ruhig, nur die Lider ihrer Augen schnellten nach oben und gaben ihn ihrem Blick preis. Unfähig sich zu bewegen oder etwas zu sagen starrte er sie an. Minuten vergingen. Er versank in ihren Augen, die von einem so tiefen Braun waren, dass sie fast schwarz wirkten. Ohne ein Wort zu sagen kam sie langsam auf ihn zu. Ihre Schritte waren so leicht, dass sie nicht das geringste Geräusch verursachten. Langsam streckte sie ihre rechte Hand, in der sie noch immer die Rose hielt, nach ihm aus und strich mit den zarten Blütenblättern über seine Wange. Ein Schauer jagte ihm über den Rücken. Er schluckte trocken, unfähig sich zu rühren oder auch nur zu blinzeln. Sie kam näher, war nun nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt. Erneut strich sie mit der Rose über sein Gesicht, doch dieses Mal spürte er nicht die weichen Blätter der Blüte, sondern die Dornen, die unbarmherzig über seine Haut kratzten. Er spürte einen stechenden Schmerz, als einer von ihnen seine Haut durchdrang und ein Blutstropfen hervorquoll.

Augenblicklich kehrte der Schmerz in seinen linken Arm zurück. Er spürte das getrocknete Blut auf seinem Bizeps, das Brennen der immer noch offenen Wunde, welches bis in die Schulter hin ausstrahlte. Scharf sog er die Luft ein, überwältigt von den plötzlichen Qualen. Er würgte, als er sich des fauligen Verwesungsgeruchs bewusst wurde. Nur mühsam konnte er seinen Magen beruhigen und sich zwingen weiter zu atmen. Die plötzliche schwüle Hitze schien ihn zu Boden drücken zu wollen und in dem grauen Himmel strahlte eine erbarmungslose Sonne. Die weißen Kiesel unter seinen Füßen waren zu scharfkantigen, von graugrünen Algen überzogenen Steinen geworden, die sich schmerzhaft durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe bohrten. Wo zuvor Rosenbüsche standen ragten nun tote Bäume in mitten von Sumpf-Blutaugen und dreiblättrigem Fieberklee auf. Die meisten Pflanzen hatte er nie zuvor gesehen; monströse Zerrbilder der zuvor herrschenden Schönheit. Der Torfboden hatte sich zu einem tückischen Sumpf gewandelt und entließ seine üblen Gase in großen Blasen an die Oberfläche.
Sein Blick glitt zurück zu der Frau, die sich einen Schritt von ihm entfernt hatte. Ihre Schönheit war geblieben, doch wurde sie überschattet von der Grausamkeit, die sie ausstrahlte. Vollkommen ruhig und majestätisch stand sie inmitten der überwältigenden Abscheulichkeit. Ihre kalten Augen ruhten auf ihm und registrierten jede seiner Bewegungen, jeden Anflug von Schwäche. Plötzlicher Schmerz durchzuckte sein rechtes Bein. Er schaute an sich herab und erblickte eine dicke, dornenbewehrte Ranke, die sich um seinen rechten Knöchel wand. Weitere folgten ihr und umschlagen seine Beine und seinen Rumpf. Gepeinigt stöhnte er auf, als seine Kleidung zerriss und seine Haut durchbohrt wurde. Nacktes Entsetzen stand in seinen Augen. Sie warf den Kopf in den Nacken und ihr grausames Lachen erfüllte die Luft. Die Ranken legten sich enger um seinen Körper, fesselten seine Arme und gruben ihre Dornen unnachgiebig in sein Fleisch. Ob der Qualen schreiend wand er sich hin und her, versuchte vergeblich freizukommen. Doch all seine Mühen führten nur dazu, dass seine Wunden weiter aufrissen und das Blut über seinen Körper strömte. Überlegen blickte sie auf ihn herab und lächelte kalt. Sie trat einen Schritt näher und fuhr mit einem Fingernagel über seine Wange. Mit der anderen Hand ergriff sie eine der Ranken und riss sie ihm quer über die Brust. Für einen Moment glaubte er das Bewusstsein zu verlieren, doch diese Gnade wurde ihm nicht gewährt. Sie sah wie seine Augen sich trübten und ließ von ihm ab. „Nein, so schnell wirst du nicht sterben.“ flüsterte sie und beim Klang ihre Stimme schienen sich Eiskristalle in seinem Blut zu bilden. Die um ihn geschlungenen Ranken drückten noch einmal zu und zogen sich dann zurück. Er sackte stöhnend zu Boden und blieb liegen, kurz davor die Besinnung zu verlieren. Die Schmerzen verblassten zu einem dumpfen Pochen. Nur schemenhaft nahm er wahr, wie sie sich ihm erneut näherte. Mit der Spitze ihres Schuhs hob sie sein Gesicht so weit aus dem Dreck, dass er zu ihr aufsehen musste. Er blinzelte mehrfach um gegen die Sonne etwas erkennen zu können und erblasste, als er die Grausamkeit in ihrem Gesicht erblickte. Er begriff, dass er diesen Tag nicht überleben würde. Dann sank er in die erlösende Schwärze, die seinen Qualen ein Ende bereitete.

Mit dem Fuß rollte sie ihn auf den Rücken, die spitzen Steine bohrten sich schmerzhaft in seine geschundene Haut. Plötzlich traf ein Schwall eiskalten Wassers sein Gesicht. Als er sich prustend zwang die Augen zu öffnen und sie anzuschauen, erblickte er einen nunmehr leeren Krug in ihrer Hand - er wusste nicht, seit wann er sich schon dort befand. Durch die Kälte wieder voll bei Bewusstsein, kehrten augenblicklich auch die Schmerzen in ihrer ganzen Intensität zurück. Er beobachtete die Frau, wie sie bedächtig das tönerne Gefäß zu Boden stellte und hinter sich griff. Als sie sich wieder zu ihm umwandte, hielten ihre Hände einen langen Holzspeer, der in einer Eisenspitze mit einem Widerhaken endete. Sie richtete die Spitze auf sein Herz. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Ein letztes Mal sammelte er all seine Kraft, um dem tödlichen Stoß zu entgehen. In dem Moment, als die Spitze geradewegs auf seine Brust zuschoss, warf er sich zur Seite. Seine Schulter brannte wie Feuer, als seine Haut von dem Metall zerrissen wurde. Er sprang auf, ergriff eine der Ranken, die ihm zuvor so quälende Schmerzen bereitet hatten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sich die Dornen tief in seine Hände bohrten. Mit einem Schrei stürzte er sich auf die Frau und presste die Ranke mit seiner ganzen Kraft um ihren schlanken Hals. Verspätet begriff sie was geschah und sank mit einen Röcheln auf die Knie. Blut trat aus ihrem Mund und ihre Augen starrten blicklos in die Ferne, als sie zu Boden fiel. In dem Moment, als ihr Körper diesen berührte, zerfiel sie zu Staub und mir ihr die Pflanzen und alles andere um sie herum. An der Stelle, an der zuvor der Turm gestanden hatte, tat sich ein gleißendes Licht auf. Ohne zu zaudern ging er hinein und verschwand.
 



 
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