Der Schmetterlingsbaum

Georgetta

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Der Schmetterlingsbaum

Die kleine Wildkirsche war ganz zufällig, so wie ein „Findelkind“, in den Wald geraten. Als eine der letzten, runzligen Früchte hatte sie ein Star vom Boden aufgepickt, um sie dann im Wald genüsslich zu verzehren. Nur den kleinen, bloßen Kern ließ er übrig.
Die Erde nahm den erbsgroßen Kirschkern in sich auf und nach einer Weile gruben sich feine Haarwurzeln durch die geborstene Schale in den lockeren Boden. Der junge Spross war anfangs dünner noch als die Halme der Waldgräser. Doch ähnelte er bald einer biegsamen Gerte, erreichte dann schnell die Stärke eines Besenstiels, ja eines Kinderarmes. Schlank und rank war sein Wuchs, doch das war auch schon alles.
Im mannshohen Dickicht fiel das Bäumchen keinem auf mit seinem schmächtigen Stamm und den wilden braunen Trieben. Und als es ergrünte, verschmolz es geradezu mit seiner Umgebung und dafür schämte es sich nicht wenig.
Ein kümmerliches Nichts war es, eins, das die Großen gerade mal so dulden. Und es fürchtete, womöglich immer so klein zu bleiben. Vielleicht kann es sich ja nie und durch nichts aus dem undurchdringlichen, grünen Pflanzenmeer hervortun, dieser Gedankte bedrückte es sehr. Leise und ohne sonderliche Vorkommnisse verging Tag um Tag, die Zeit verflog schnell wie der Wind. Rings um das Bäumchen veränderte sich wenig. Doch als sich der Frühling wieder einmal ankündigte, überkam es ein eigenartiges, unbekanntes Gefühl. Die ersten Sonnenstrahlen wärmten wohlig seine Zweige, neben den länglichen Blattsprossen wuchsen nun aber plötzlich auch kleine Knöllchen. Zuerst glaubte der kleine Baum krank zu sein, doch er verspürte keinerlei Schmerzen. Dann eines lauen Morgens – es war nunmehr richtig Frühling geworden – kam es ihm vor, als wäre wieder Schnee gefallen. „Aber das kann doch nicht sein, jetzt schneit es doch nicht mehr, es kann höchstens regnen! Das wird wohl ein Schwarm weißer Schmetterlinge sein, der sich auf mir niedergelassen hat“, dachte das Bäumchen. Jedoch regte sich kein Flügelchen, auch flatterte keiner der Falter davon, als es sich ein wenig schüttelte. Das Bäumchen beäugte die weiße Schar angestrengt und erkannte plötzlich die kleinen Knöllchen vom Vortag wieder. Die waren jetzt aber nicht einfach nur grün, auch ihnen entschlüpfte gerade ein Schmetterling. „Aber dann bin ich ja ein Schmetterlingsbaum!“
Während das Bäumchen noch grübelte, landete eine Biene auf einem der Falter. „Wirst du wohl“, herrschte es sie an, „lass meine Schmetterlinge in Ruhe!“ „Deine was?“, fragte die Biene verwundert. Doch dann wurde es ihr schlagartig klar: „Du kleiner dummer Kirschbaum. Das sind doch keine Schmetterlinge, du blühst einfach nur wunderschön! Bestimmt sind das deine ersten Blüten, deshalb hast du sie nicht erkannt. Du kannst stolz sein, du bist der Schönste hier!“
Diese Worte erfüllten den kleinen Baum mit unsagbarer Wonne. Man hatte ihn gelobt und für schön gehalten, vielleicht war er ja doch nicht so nutzlos.
Als der warme Sommer ins Land kam, zeigten sich anstelle der weißen Blüten zuerst rote, später fast schwarze, kleine Kirschen. Dem Herbst folgte der Winter, alsbald kam wieder der Frühling. Und der kleine Baum konnte es kaum erwarten, von den ersten Sonnenstrahlen geküsst zu werden und seine Blütenpracht zu entfalten, dass es der Wind rings im Wald verkündet: „Schaut nur, der kleine Kirschbaum ist erblüht, und wieder ist er der Schönste von allen…“
 



 
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