Der See

Catweazle

Mitglied
Der See

Der Trainer lachte, als Bomo ihm die Anmeldung reichte.
"Das freut mich", sagte er. "Endlich fängt unser Verein wieder an zu wachsen. In den letzten Monaten hatten wir einen ziemlichen Mitgliederschwund."
Seine Miene verfinsterte sich etwas, als er darüber nachzudenken schien.
"Die sind einfach alle abgetaucht", lachte er plötzlich und amüsierte sich sichtbar über seinen eigenen Witz.
Schließlich hatte Bomo sich gerade bei einem Tauchverein angemeldet.

Nach dem Training wartete Bomo vor der Schwimmhalle auf den Trainer, weil er noch ein paar Fragen zum gemeinsamen Tauchgang am kommenden Wochenende hatte.
Er setzte sich auf die Stufen vor der Türe und beobachtete die anderen wartenden Personen um sich herum.
Eine Frau ging immer wieder den Weg vor der Halle hinauf und hinunter. Dann blieb sie stehen, nuschelte etwas und blickte zur Türe.
Anschließend blickte sie ins Leere und wartete reglos. Ein kurzes Kopfschütteln folgte, so als ob sie den Kopf von schlechten Gedanken freibekommen wolle.
Überrascht blickte sie sich um. Plötzlich wirkte sie, als sei sie gerade aufgewacht oder zu sich gekommen. Ihre Gesichtszüge entspannten sich und ihr Gesicht bekam einen neuen traurigen Ausdruck. Mit schnellen Schritten verließ sie dann den Platz vor der Schwimmhalle.
"Arme Melanie", sagte der Trainer. Bomo hatte nicht bemerkt, daß er neben ihn getreten war.
"Wer ist das? Und was hat sie?", fragte Bomo neugierig. Irgendwie tat ihm die Frau leid. Obwohl sie offensichtlich verrückt war.
"Melanie ist die Frau von Bernd. Früher hat sie ihn immer vom Training abgeholt. Bernd war bis vor kurzem Mitglied bei uns. Er ist auch einer von denen, die plötzlich nicht mehr zu uns kamen. Hat von heute auf morgen seine Frau verlassen. Und den Verein. Trotzdem steht sie weiterhin manchmal nach dem Training vor unserer Türe und wartet. Als ob er dadurch zurückkäme"
Er zuckte die Schultern und sie vertieften sich in ein Gespräch über den Tauchausflug zum See am Wochenende.

Die Sonne schien, als die Mitglieder des Vereins am darauf folgenden Sonntag am See ankamen. Bomo saß auf dem Beifahrersitz im Wagen seines Trainers und schaute sich die Gegend an. Der Frühling war bereits weit fortgeschritten. Die Bäume waren grün, Vögel zwitscherten in der Luft und die leicht hügelige Umgebung wirkte erfrischend und mystisch zugleich.
Alte Burgen, kleine Dörfer und weite Felder zogen auf dem Weg an ihnen vorbei. Die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres ließen die Schatten unter den Bäumen nur noch tiefer und dunkler erscheinen. Der See lag weit außerhalb der bewohnten Gebiete. Das letzte Dorf war bereits eine halbe Stunde hinter ihnen. Sie fuhren nun schon eine Weile durch einen Wald. Hier drang noch kein Sonnenstrahl durch die Bäume. Zwischen den Stämmen hing noch winterlicher Nebel. Plötzlich teilte sich die Finsternis und der See lag vor ihnen.
Der Trainer fuhr den Van auf den Schotterparkplatz. Bomo zog überrascht die Augenbrauen hoch. Der Parkplatz wirkte zu weiten Teilen wie ein Autofriedhof. Hier mitten im Wald standen dutzende von Wracks. Die Scheiben der Wagen waren blind vom Blütenstaub, der Lack wirkte stumpf und rostig, die Reifen waren platt. Teilweise waren die Autos bereits knietief in Gras und Gestrüpp eingewachsen. Andere wirkten, als seien sie erst vor kurzem verlassen worden.
"Hier wird es auch immer voller", brummte der Trainer.
Bomo blickte ihn an.
"Warum tut man nichts dagegen?" und zeigte auf die Autos.
"Was soll man denn tun? Der Tauchplatz ist nun mal sehr beliebt."
Bomo fraget sich, was diese Antwort mit den Autos zu tun habe.
Ein Gedanke schien den Trainer zu verwirren.
"Komisch, eigentlich. Jedes Jahr wird der Parkplatz voller, aber es wirkt nicht so als, ob es mehr Taucher hier gibt als früher. Man hat immer noch jede Menge Platz und gute Sicht."
Bomo schwieg.

Eine gute Stunde später standen sie in einer kleinen Gruppe auf der Plattform, von der aus sie in den See steigen würden.
Alle hatten sich komplett umgezogen und die Taucherausrüstung angelegt. Bomo hielt seine Flossen noch in der Hand. Es würde noch etwas dauern, bis sie an der Reihe waren. Mehrere andere Grüppchen waren bereits unter Wasser, ein Pärchen sprang gerade in den See. Dort dümpelten sie noch ein wenig vor sich hin und überprüften ein letztes Mal ihre Ausrüstung.
Bomo lies seinen Blick über den See schweifen. Eingebettet in einen alten Steinbruch lag der See geschützt im auslaufenden Hang des Hügels. Das Wasser war tief grün, fast schwarz in der noch schwachen Nachmittagssonne. Langsam wurde es auch kalt.
Plötzlich kräuselte sich in der Nähe des anderen Ufers das bisher so glatte Wasser. Dann war es wieder verschwunden. Bomo blickte gespannt hinüber. Nur ein paar kleine Wellen zeugten noch von der Bewegung. Waren das die aufsteigenden Luftblasen der anderen Taucher? Die anderen schienen nichts bemerkt zu haben. Das Wasser war wieder glatt und still.
Dann blitze etwas im Wasser auf, näher diesmal und etwas durchbrach die Oberfläche.
Ein riesiger, glatter Rücken, wie von einem Aal, oder einer Schlange glitt durch das Gewässer. Nur schien diese Schlange die Größe eines kleinen Wals zu haben. Alleine das Stück, das Bono gesehen hatte, war so groß wie ein Kleinwagen gewesen.
Bomo griff seinen Trainer am Arm.
"Hast Du das gesehen?" schrie er?
Der Trainer schaute in die Richtung, in die Bomo zeigte.
"Was denn?"
"Dort im Wasser ist etwas!", fuhr Bomo ihn an.
Doch das Wasser war bereits wieder glatt.
"Ich seh nichts." Der Trainer drehte sich wieder zu den anderen.
In diesem Moment erhob sich krachend neben den zwei schwimmenden Tauchern der Kopf des riesigen Monsters aus dem Wasser. Der Kopf und der Körper glichen dem einer Schlange, die Augen jedoch blieben ausdruckslos und kalt wie bei einem Fisch. Und sie sahen ihn an. Bemerkten ihn. Erkannten ihn.
Er öffnete sein Maul und eine Reihe breiter und scharfer Reißzähne kamen zum Vorschein.
Bomo legte den Kopf in den Nacken, um das Ungeheuer richtig sehen zu können.
Erstaunlicherweise schienen die anderen Taucher immer noch nichts zu bemerken. Bomo konnte es nicht glauben.
Das Ungeheuer riss sein Maul weiter auf. Es folgte ein kurzer und hoher Schrei und es stieß hinab auf beide Taucher. Die Kreatur biss sich fest und zog die Taucher mit in die Tiefe.
Bomo lief zum Rand der Plattform.
Das Wasser brodelte und schien zu kochen. Dann beruhigte es sich langsam und lag kurz darauf wieder so glatt wie zuvor. Die Sonne spiegelte sich auf der schwarzen Oberfläche.
Bomo drehte sich zu den anderen um.
"Habt ihr nichts gesehen? Wisst ihr was das war?" fuhr er die anderen an. Doch anstatt des erwarteten Aufschreis, der Panik und der Furcht in ihren Augen, sah er nur Verständnislosigkeit. Offensichtlich fragten sie sich, ob es eine so gute Idee gewesen war, ihn in ihren Verein aufzunehmen.
Es reicht, dachte Bono.
Er hatte genug gesehen. Und er verstand.
Das Monster betörte sie, lockte sie immer wieder in den Wald, in den See. Es verhexte ihren Geist und sicherte sich so die Ernte.
Und seine Macht reichte weit. Sogar so weit, dass die Angehörigen nicht sahen, wenn ihre Lieben vom Tauchen nicht zurückkamen. Sie mussten verzweifelt versuchten, diese Lücke zu übersehen, dieses Loch in der Realität zu überbrücken. Dabei spürten sie, dass etwas fehlte, doch ihr geblendeter Verstand ließ nicht zu, dass sie es sahen. Traurig dachte er Melanie, wie sie vor der Schwimmhalle stand.

Bomo sah die Schlange. Er war der Erste nach langer Zeit gewesen, bei dem ihre Magie nicht wirkte.
Das Verhalten der Taucher um ihn herum veränderte sich. Er konnte geradezu spüren, wie sie von ihr beeinflusst wurden. Langsam gingen sie auf ihn zu. Ihr Blick war trübe, doch auf ihn gerichtet. Das Wesen hatte ihn gesehen und ihn erkannt. Jetzt gab es keinen anderen Ausweg.
Bomo hatte lange gesucht. Er hatte einen Auftrag. Er hatte die Zeichen gelesen. Und nun war er hier um seine Aufgabe zu erfüllen.
Die Tauchausrüstung fiel klirrend von ihm ab, als wäre sie ihm vom Leib geschnitten worden.
Er zog sein Tauchermesser aus der Scheide und ließ es in der Sonne glitzern. Dann entfaltete er seine Flügel.
Die Taucher, die eben noch auf ihn zugegangen waren, blieben stehen und schienen durch ihn hindurch zu sehen. Für sie schien er sich nicht nur plötzlich in Luft aufgelöst zu haben. Sie hatten ebenfalls vergessen, dass er jemals existierte. Auch er hatte seine Tricks.
Bomo ging zum Rande der Plattform. Nackt und nur bewaffnet mit dem Messer sprang er in den See.
 



 
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