Der Sohn des Gouverneurs, Teil 1

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Der Sohn des Gouverneurs, Teil 1
von Märchentante

Vor langer Zeit strandete eine wilde Horde Piraten auf der Insel Sumatra. Sie waren einer königlichen Fregatte unterlegen gewesen, mit der sie sich angelegt hatten. Nach furchtbarem Kampf konnten sie nur ihr nacktes Leben retten. Mit ihrem von Kanonen zerschossenen Schiff erreichten die Piraten noch so eben das Eiland, ehe die Brigg auf Grund lief. Nach einem kurzen Gemetzel unterwarfen sie die kleine Hafenstadt Medan, an der Straße von Malakka. Von nun an waren Raufen, Saufen, Morden und Überfälle an der Tagesordnung. Dies waren die schlimmsten Freibeuter, mit denen die Einwohner es je zu tun hatten. Anfangs wollten die Halunken nur solange bleiben, bis sie ihr Schiff wieder klar hatten, doch dann gefiel ihnen das faule Leben in der Stadt. Nun lag das Piratenschiff schon wochenlang abfahrbereit im Hafen vor Anker, jedoch warteten die Leute vergebens darauf, dass die Räuberbande die Segel hissten und sie verließen. Es war eine schlimme Zeit für die geplagten Menschen, niemand wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Niemand - außer Tom, dem Sohn des Gouverneurs Sir James Latimer. Tag und Nacht grübelte er, wie man diese Bande loswerden könnte, bis ihm endlich eine Idee kam. Mit einem Trick wollte er sie von der Insel weg locken.

Eines Abends ging Tom zu seinem Vater und erzählte ihm von dem Plan. Der war entsetzt, als er erfuhr, was sein Sohn vorhatte. „Soll ich dich denn auch noch verlieren? Reicht es nicht, dass diese Unmenschen deinen Bruder William verschleppt haben? Vielleicht ist er schon tot, oder sie haben ihn auf dem Sklavenmarkt verkauft.“ Vergrämt saß der alte Herr in seinem Sessel und schlug die Hände vors Gesicht: „Denke auch an deine Mutter, sie würde es gewiss nicht überleben, wenn dir auch noch etwas zustieße.“ „Aber ich muss es tun, Vater“, rief Tom erregt, „wie sollen wir hier weiterleben? Sieh dich doch mal um, was ist nur aus unserer schönen Stadt geworden, seit dieses Gesindel überall herumlungert. Außerdem spüre ich, dass mein Bruder noch lebt. Ich werde nach ihm suchen und ihn euch zurückbringen, ich verspreche es.“
„Nun gut“, sagte Sir Latimer resigniert, „versuche dein Glück, mein Junge.“ Er erhob sich, umarmte innig seinen Sohn und verließ schnellen Schrittes das Zimmer. Tom sollte nicht die Tränen sehen, die ihm über die Wangen liefen. Der junge Mann schaute seinem Vater nach, als er das Zimmer verließ, und der Abschiedsschmerz zerriss ihm fast sein junges Herz. Er atmete tief durch und schritt zur Tat.

Vor der üblen Spelunke, in der sich die Piraten Abend für Abend trafen, hielt Tom noch mal kurz inne, öffnete dann resolut die schief in den Angeln hängende Tür und betrat den halbdunklen Schankraum, in dem es nach Schweiß, Schnaps und Tabak roch. Augenblicklich wurde es still in der schäbigen Kneipe. Tom`s Herz klopfte laut, doch mit fester Stimme rief er: „Wer ist hier der Boss? Ich habe ihm ein Geschäft vorzuschlagen.“ Die Räuberbande starrte ihn an wie einen Geist. Dann lichteten sich die Reihen und eine kleine, krumme Gestalt trat hervor.
„Wer will das wissen?“, schnarrte sie mit dünner Pipsstimme. „Ah, bist du nicht der älteste Sohn des Gouverneurs? Du willst mir also ein Geschäft vorschlagen? Du musst größenwahnsinnig sein, dich hier her zu trauen. Wir werden dich jetzt gefangen nehmen und dich an den meistbietenden verkaufen, wie deinen Bruder.“ Die dunklen Augen in dem bärtigen Gesicht funkelten gefährlich.
„William lebt also“, dachte Tom erleichtert, „sicher hat ihn eines der berüchtigten Sklavenschiffe die hin und wieder hier anlegen mitgenommen.“ Erstaunt sah er auf die mickrige Gestalt herab, die vor ihm stand. So hatte er sich den berüchtigten Piraten Diego Santos nicht vorgestellt. Doch er wusste, dass man diesen Menschen trotz dessen kleiner Größe nicht unterschätzen durfte. Der Halunke war gefährlich wie eine Klapperschlange. Ein Lachen unterdrückend, denn dass wäre sein sofortiger Tod gewesen, zog Tom ein Blatt Papier aus seiner Jacke hervor.
„Sieh dir diese Karte an“, sagte der junge Mann und reichte Santos den Zettel. Neugierig schauten ihm seine Kumpane über die Schulter, um auch einen Blick darauf werfen zu können.
„Weg, Lumpenpack“, schrie der Bösewicht aufgebracht mit seiner piepsigen Stimme, worauf der wilde Haufen erschrocken zurückwich. Es war besser für sie, sich zu fügen.
„Sieht aus wie der Lageplan einer Insel“, murmelte der Anführer kaum hörbar, „jedoch sehe ich nirgendwo den Seeweg dorthin verzeichnet, was soll das also?“ Lauernd sah er Tom Latimer an.
„Diese Insel ist auf keiner Seekarte verzeichnet, der Weg ist hier drin“, entgegnete Tom und tippte sich an den Kopf, „Nur mit meiner Hilfe wirst du sie finden, glaube es mir.“
„Was soll ich auf diesem Eiland, wo es mir und meinen Leuten bei euch doch so gut gefällt?“, zischte der Pirat.
„Bei uns ist nichts mehr für euch zu holen, ihr habt uns fast unserer ganzen Habe beraubt. Auf dieser geheimnisvollen Insel aber soll es einen sagenhaften Schatz geben. Ein sterbender Seemann hat es mir erzählt und mir dann die Karte geschenkt. Warum sollte er mich belügen, er hatte nichts mehr zu verlieren. Den Weg allerdings zeichnete er nicht auf, aus Sicherheitsgründen, wie du dir ja denken kannst.“

„Aber wieso kommst du zu mir und begibst dich nicht allein auf die Suche?“, fragte Santos und kratzte seinen kahlen Schädel.
„Du hast ein Schiff und eine Besatzung“, entgegnete Tom, „ich den Seeweg im Kopf. Haben wir den Schatz gefunden, so werden wir ihn gerecht aufteilen.“ Nun wurde die wilde Horde immer unruhiger. „Wir sollten es versuchen“, riefen einige von ihnen. „Viel zu lange schon sitzen wir hier in diesem Nest, zu holen gibt’s auch nichts mehr. Also lass es uns wagen, Käpt`n, endlich mal wieder ein Abenteuer.“
„Ruhe“, brüllte der Anführer, „ihr habt ja Recht, auch mir geht die Langeweile auf die Nerven. Vielleicht können wir unterwegs zusätzlich ein Handelsschiff entern, mir wäre mal wieder so richtig nach einer Schlacht. Also gut, Tom Latimer, wir legen morgen mit der ersten Brise hier ab und du kommst mit uns. Hoffentlich stimmt das auch mit dem Schatz, Bengel, sonst hängen wir dich an den höchsten Mast, das kannst du mir glauben.“ Unter dem Gejohle seiner Leute bestellte der Pirat Branntwein für alle. Da Tom den Genuss von Alkohol nicht gewohnt war, fiel er nach dem dritten Becher besinnungslos von der Bank.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, befand er sich bereits an Bord des Piratenschiffes. Die Flagge mit dem Totenkopf war gehisst und gerade gab der Kapitän das Kommando zum Anker einholen. Langsam glitt das Schiff aus dem Hafen. Tom sah mit brennenden Augen und schwerem Kopf zurück. Die Häuser wurden kleiner und kleiner, bald war seine Heimat nur noch als schmaler Strich zu erkennen. Der Wind frischte auf und unter vollen Segeln lief das Schiff aufs offene Meer hinaus.
„Los, hoch mit dir“, rief der erste Steuermann Hassan und lachte dröhnend, „genug geschlafen. Du sollst zum Käptn kommen und ihm den Kurs mitteilen.“ Tom erhob sich taumelnd und folgte ihm in die Kajüte.
Der Pirat stand gerade vor einem reich verzierten Spiegel und band sich ein buntes Tuch um seinen Kopf. „Komm her“, keifte er schlecht gelaunt. Auf dem Tisch lag eine große Seekarte. „Zeige mir nun den Weg zu der geheimnisvollen Insel.“
„Sie ist viele Seemeilen von hier entfernt, und wir werden wahrscheinlich lange Wochen unterwegs sein“, sagte Tom. Dann zeigte er mit dem Finger auf die Karte und meinte: „Wir fahren durch die Straße von Malakka nach Singapur. Es wäre gut, wenn wir dort noch frisches Wasser und Verpflegung an Bord nehmen. Ehe wir dann wieder in See stechen, verrate ich dir die nächste Etappe.“
„Bursche, wenn du mich hintergehst, wird es das letzte sein, das du in deinem armseligen Leben getan hast“, drohte der Schurke.

Die nächsten Tage war Tom damit beschäftigt, die Deckplanken blank zu schrubben und der Mannschaft bei allen anderen anfallenden Arbeiten zu helfen. Ansonsten mied er ihre Gesellschaft. Sein Essen nahm er stets auf dem Deck ein und am Abend legte er sich auch dort zum Schlafen nieder. In den Hängematten im Schiffsbauch hielt er es nicht aus. Es stank dort wie in einer Pumahöhle. Der Fahrtwind zerrte an seinen Haaren und über ihm leuchteten die Sterne am nächtlichen Himmel. Tom dachte an sein Zuhause, das Heimweh trieb ihm die Tränen in die Augen. Wie mag es nur seinem Bruder William ergehen, wo sollte er anfangen nach ihm zu suchen? Konnte er sein Versprechen einlösen und ihn lebend zu den Eltern zurück bringen? Fragen über Fragen. Er seufzte leise. „Hoffentlich geht alles gut und man kommt mir nicht auf die Schliche, denn sonst… Nur nicht darüber nachdenken.“

Die Piraten, ein wild zusammen gewürfelter Haufen gestrandeter Männer aus allen Teilen der Welt, beobachteten ihn argwöhnisch, sie trauten ihm nicht recht. Als Singapur in der Ferne auftauchte, schlug der Bootsmann die Schiffsglocke. Kapitän Santos gab der versammelten Mannschaft klare Anweisungen und fuchtelte dabei wild mit seinem Entermesser herum: „Hört zu, Leute, ein paar von euch werden an Land gehen und soviel Proviant besorgen, wie es geht“, er grinste breit, „natürlich auch ein paar Fässer mit Branntwein. Auf dem schnellsten Weg wollen wir weiter. Untersteht euch also nicht, in irgendeiner Kaschemme abzusteigen. Und noch eines, bezahlt dieses Mal die Waren, wir sind in Eile und können uns deshalb kein Kämpfchen leisten. Das Kommando hat Bootsmann Haduma.“
„Ey, ey, Käptn“, rief die Horde johlend.

Als sie ankerten, wurden flugs die Beiboote mit den ausgesuchten Männern zu Wasser gelassen. Unter ihnen befand sich auch der Sohn des Gouverneurs von Sumatra. Mit kräftigen Schlägen ruderten sie auf die Kaimauer zu, machten die Boote fest und eilten in die Läden, um ihre Besorgungen zu machen. Auf dem Marktplatz fand gerade eine Versteigerung von Gefangenen statt, die als Sklaven verkauft werden sollten. Ein junges Mädchen von schlankem Wuchs erregte die Aufmerksamkeit der Piraten. Sie stand aufrecht, in Männerkleidern, mit hocherhobenem Haupt vor dem Sklavenhändler und schrie ihn an: „Wie kannst du es wagen, mich meinem Volk zu rauben? Nun willst du mich auch noch an den meistbietenden verkaufen. Ich bin die Tochter des Schamanen vom Volk der Badjo. Bring mich auf der Stelle zurück oder sie werden dich jagen, bis ans Ende der Welt.“ Wütend warf sie ihren Kopf mit den langen, dunklen Haaren in den Nacken. Ihr zartes Gesicht mit den meergrünen Augen, war gerötet vor Zorn. Der Händler lachte schallend: „Na so eine Kratzbürste. Du bist also die Tochter eines Schamanen, ja? Umso besser, mein Täubchen, dann bekomme ich sicher einige Goldstücke mehr für dich.“
„Du verschlagender Hund“, tobte das Mädchen weiter und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Augenblicklich wurde es mucksmäuschenstill auf dem Platz. Trotz seiner Leibesfülle riss der Sklavenjäger blitzschnell einen Dolch aus seinem Gürtel.

„Halte ein“, rief Tom, „ihm gefiel dieses mutige Wesen dort auf dem Podest, „ich kaufe sie euch ab.“
„An der wirst du keine Freude haben“, brüllte der Dicke und verzog sein bärtiges Gesicht zu einem hässlichen Grinsen. „Ich werde sie dir schenken, du kannst mit ihr machen was du willst.“ Nach diesen Worten zerrte er das Mädchen grob von dem erhöhten Platz und widmete sich dem Verkauf der anderen Gefangenen.
„Wie heißt du?“, fragte Tom „Ich bewundere dich für deinen Mut.“
„Mein Name ist Maja“, antwortete sie, immer noch aufgebracht. „Was willst du jetzt mit deinem zweibeinigen Geschenk anfangen?“
„Beruhige dich doch“, redete er besänftigend auf das junge Mädchen ein, „bei mir wird dir kein Leid geschehen.“
„Hört, hört“, mischte sich Bootsmann Haduma ein und die Piraten grölten:„Mal sehen, was der Käptn zu dem Vögelchen sagt.“ Mit gierigen Augen kam die Bande ihr bedrohlich nahe.
„Bleibt wo ihr seid“, rief Tom und stellte sich vor das Mädchen, „sie steht unter meinem Schutz.“ Lachend schulterten die Piraten wieder die Säcke mit dem Proviant und schlurften Richtung Hafen.
„Ihr seid Seeräuber?“, fragte Maja fassungslos.
„Hab keine Angst“, sagte Tom leise, „ich gehöre nicht zu ihnen.“ Hastig stellte er sich vor und erzählte ihr unterwegs von seinem Plan. Maja starrte ihn an: „Du bist Tom Latimer, der Sohn des Gouverneurs von Sumatra? Du kamst mir gleich so bekannt vor, die Ähnlichkeit mit deinem Bruder ist frappierend. Tom blieb auf der Stelle stehen und hielt sie an der Schulter fest. „Du kennst William?“
„Ja“, antwortete Maja, „ich lernte ihn an Bord eines Sklavenschiffes kennen. Er hat mir viel von dir und deiner Familie erzählt. Leider haben wir uns schon nach kurzer Zeit wieder aus den Augen verloren. Er wurde im Hafen von Brunei an einen reichen Sultan verkauft. Aber nun komm schnell weiter, die Halunken werden schon aufmerksam.“
 



 
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