Der Sommerwind

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Der Sommerwind

Es war einmal ein kleiner Junge, der spielte in seinem Sandkasten im Garten seiner Eltern. Die Bienen flogen zwischen den Rosen und Brombeersträuchern. Die Sonnenblumen neigten ihre Köpfe der Sonne zu, und ein leichter Sommerwind trieb Wattebausch-Wolken am grenzenlos blauen Himmel entlang.

Der kleine Junge, der Leo hieß, lief mit seinem Eimer zum Wasserhahn, das kühle Nass plätscherte in den Plastiktopf. Leo lief zurück, um mit den Förmchen Sandkuchen zu backen. Er goss die Blumen, die seine Mutter gepflanzt hatte. Er kletterte auf die Birke, die die breiten Äste besaß. Dort setzte er sich gerne hin.

Lange, den ganzen Nachmittag über, spielte er alleine, weil seine Freunde in Ferienwaren. Einmal schaute der dicke graue Kater vorbei. Leo spritzte ihm einige Wassertropfen auf das Fell, und der gemütliche Geselle miaute und verzog sich rasch. Leo lachte. Doch eigentlich war er traurig.

Irgendwann hörte der Junge auf zu spielen, kletterte wieder in die starke Birke und starrte lange in den Himmel, den Wolken nach.
Der Sommerwind sah das und versuchte, Leo die Sorgenfalten aus dem Gesicht zu blasen. Ganz sachte blies er ihm kühle Luft um die Wangen, aber der Junge bliebe ernst.
Der Sommerwind kitzelte ihn an den Mundwinkeln, um ihn zum Lachen zu bringen. Aber der Junge kratzte sich unwillig die Lippen.

Schließlich rauschte der Sommerwind in einer Böe heran und fragte den Kleinen: „Was hast du denn? Hast du keinen schönen Nachmittag verbracht?“
„Nein.“
„Fehlt dir etwas.“
Leo nickte.
„Wartest du auf jemanden?“
„Ja.“
„Auf deine Mama?“
„Die ist doch da.“
„Auf deine Freunde?“
„Nein, die kommen wieder.“
„Auf deinen Papa?“
Da sagte Leo nichts mehr.
Eine kleine Pause trat ein. Der Sommerwind räusperte sich und flüsterte dann: „Kommt er heute nicht mehr?“
„Nein, er ist auf Dienstreise.“
„Kommt er morgen?“, hauchte der Besucher.
Der Junge schaute in den Himmel: „Vielleicht.“
Noch bevor der Sommerwind mehr erfahren konnte, rief Leos Mutter ihren Sohn ins Haus.
Nachdenklich zog die sommerliche Brise weiter.

Am nächsten Tag spielte der kleine Junge wieder alleine.
Er ärgerte den Kater, goss die Blumen, buk Sandkuchen.
Die Sonne wanderte über das Himmelszelt.
Leo seufzte.
Plötzlich fuhr ein Taxi die Strasse hinab.
Der Junge rannte zum Gartenzaun.
Die Tür klappte auf.
Ein bleicher Mann mit müdem Gesicht stieg aus.
„Papa!“
„Na, mein Kleiner.“
Leos V ater bezahlte den Taxifahrer und nahm den Jungen in die Arme.
„Spielst du mit mir?“
Doch sein Papa schüttelte mit dem Kopf: „Ich bin müde von der Dienstreise.“ Und ging ins Haus.
Leo hätte weinen können.

Am nächsten Morgen war sein Vater schon im Büro, bevor er wach wurde.
„Kommt Papa spielen?“
Seine Mutter schüttelte mit dem Kopf: „Er ist doch im Büro und muss viel arbeiten.“
Der Tag neigte sich seinem Ende zu, da kam wieder ein Auto an. Leos Vater kam aus dem Büro zurück.
„Papa, Papa, spielst du mit mir?“
„Siehst du denn nicht, dass ich müde bin“, knurrte der Angesprochene.
„Aber du spielst nie mit mir.“
„Leo, meine Arbeit macht auch kein anderer, wenn ich sie nicht selbst mache“, belehrte ihn sein Vater.
„Aber…“
„Nichts aber, vielleicht morgen…“
Leos Vater legte seine Arbeitstasche ab, wusch sich die Hände, nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und legte sich unter die Birke.
Die goldenen Sonnenstrahlen blinkten durch die grünen Blätter. Der Mann schaute in den blauen Himmel.

Da ergriff der Sommerwind die Gelegenheit und fegte heran. Er kühlte dem müden Mann das Gesicht, kitzelte ihm die Mundwinkel und summte seine leise Melodie, die man nur dann hört, wenn eine leichte Sommerbrise durch das Land zieht.
Leos Papa hörte das Summen, spürte die kühle Brise und fühlte sich mit einem Mal nicht mehr müde und mürrisch, sondern frisch und frei.
Er richtete sich auf und sah auf Leo: „Also, Leo, was spielen wir an diesem schönen Nachmittag?“
Leo strahlte.
Und der Sommerwind zog fröhlich weiter.
 



 
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