Der Sphären-Taucher von New York

Der Auftrag war ätzend langweilig. Die Erde war untergegangen. New York und alle anderen Städte lagen unter Wasser. Ausgerechnet er musste runter und das Etwas suchen.

Vor der Panoramascheibe seines Taucherhelmes schwammen Fische. Bunte Schwärme. Es waren nicht die ersten Fischschwärme, die rLKE in seinem Leben sah. Immerhin war der Ausblick hier doch abwechslungsreicher als in dem Eismeer von Enceladus. Allerdings hatte die Enceladus Mission ihm mehr Geld eingebracht.
Seit fast zehn Jahren war rLKE als Taucher auf zahlreichen Planeten eingesetzt. Dieser Kunstname „rLKE“ war sein ureigenstes Kürzel. Der sechzehnstellige alphanumerische Standard-Code verursachte ihm Übelkeit, wenn er nur daran dachte. Er hatte gegen diese kryptischen Bezeichnungen einen inneren Widerwillen aufgebaut, der schon an eine Paranoia heranreichte. Wahrscheinlich war er deshalb in den letzten Jahren noch nicht im Rang befördert worden. Die Neuro-Squad beobachtete jeden Transhumanen gewissenhaft und periodisch. Alle vier Wochen musste man zum Check in die Maschine.
Allerdings war rLKE auch noch nicht so daneben, dass er ein Implantat der Klassifikation Eins eingepflanzt bekam. Er trug nur die Hiatus-Brücke im Hippocampus. Damit wurde die Kohärenz zwischen den Hirnhälften verstärkt. rLKE war also brauchbar. Und er wurde als intuitionsstark bezeichnet. Außerdem war er gerade einsatzbereit.
Dieser Auftrag kam von höchster Stelle. Der Taucher wurde zwar nicht von einem Eingeweihten aus dem Rat der Weisen direkt ausgewählt, aber immerhin hatte ihn ein Magós aufgesucht und speziell instruiert. Das war seltsam genug.
*​
Der Flug von der Weltraumstadt Eleusis zur Erde war leicht zu ertragen gewesen. Schnell waren die sieben Raumzeitschalen überbrückt. Beim Eintauchen in die Erdatmosphäre horchte rLKE, ob er einen veränderten Klang des Planeten wahrnehmen konnte. Der Magós hatte ihn darauf hingewiesen, dass die Erde mit einem harmonischen Bindu-Klang wieder in ihr Gleichgewicht kommen würde. rLKE lauschte noch einmal in die akustischen Wiedergabegeräte, aber hörte nichts Besonderes. Er wollte jetzt nur noch seinen Auftrag ausführen und wieder abfliegen.
Das Ding, also dieser Planet, sah nun schon sehr blau aus. Überall war Wasser. Die Spitzen des Himalaya und der Drachenberge über Afrika ragten noch heraus. Und ein paar Demeter Seetang-Farmen waren zu sehen. Ansonsten hatte man sich zur Züchtung von Grünzeug auf Fesselluftballons in der erdnahen Atmosphäre zurückgezogen. Die Gezeiten auf dem Planeten änderten sich immer noch in unvorhersehbaren Sprüngen. Dem Seetang macht das offenbar nicht so viel aus.
Mit der plötzlichen Erderwärmung waren die Eiskuppen abgeschmolzen. Allerdings ging das Ganze schneller ab als die damaligen Bewohner es sich vorgestellt hatten. In einer einzigen Nacht schlug die Erdachse um 28 Grad um, und das irdische „Paradies“ wurde überflutet. Durch die Schlagkraft der Wassermassen pendelte der Globus anschließend um seine Achse noch einmal in die Gegenrichtung. Die ganze Macht der Tsunamis entlud sich nun zur anderen Seite. Kein Mensch und keine Maus, wie man so sagte, überlebte das Fiasko.
rLKE hatte Glück mit seinen Genen gehabt. Seine Genträger lebten damals schon auf einer lebensfreundlichen Outstation im Oriongürtel. Und so konnte er sich auf dem gegebenen Level seines Bewusstseins fortentwickeln. Die armen Seelen, die unter den Fluten begraben waren, sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Die meisten jedenfalls. So eine Kataklysmus Erfahrung schlägt voll auf die Stammzellen durch. Die Angsterfahrungen hemmen den weiteren seelischen und emotionalen Fortschritt. Nicht wenige von denen dort unten hatten wieder als Einzeller oder auf ähnlichem Niveau ihr neues Bewusstsein entwickeln müssen.
rLKE erschauerte. Noch tiefer im Niveau, das stellte er sich grässlich vor. Die Taucherexistenz war schon langweilig genug. Gottseidank gab es Ablenkungen und Zerstreuungen genug dort oben. rLKE grinste gemein in sich hinein. Er war wirklich noch nicht „soweit“.
Da vorn erstreckte nun sich der Quadrant mit dem ehemaligen Gelände von New York.
*​
Die Nanobots hatten gute Arbeit geleistet. Die Erde war wieder einigermaßen sauber. Die Vertreter der Weltregierung hatten über 200 Arten von Roboterarbeitern in Form von Schwärmen auf die Erde geschickt, um den Unrat zu entsorgen. Nach der Katastrophe schwammen unzählige Plastikteile herum. Es hatten sich Milliarden von Tonnen an Abfall aus den zerstörten Gebäuden und aus der ehemaligen Infrastruktur gebildet. Biologische Reste mussten entsorgt werden, da es keine Fressfeinde mehr gab. Mit den überlebenden Mikroben allein hätte es Jahrmillionen gedauert. Die Radioaktivität hatte man überraschend schnell neutralisiert – mit Antimaterie. Wenn die Menschen dieses Wissen vor der Katastrophe gehabt hätten, dann wären sie wohl nicht untergegangen.
Aber das war jetzt nicht sein Problem. Jedenfalls hatten die Nanobots relativ klare Sicht für ihn geschaffen. Die Fifth Avenue war für ihn einige Meter unter Wasser noch gut zu erkennen. Zwar schlangen sich überall Seetang und Unterwasserfarne um die Gebäude, aber die typische Fluchtlinie mit den Hauptgebäuden stand noch deutlich heraus.
Die Bibliothek mit ihrem griechischen Portal beeindruckte ihn immer noch. Alte Darstellungen zeigten den Taxiverkehr vor dem Gebäude. rLKE erinnerte sich auch an die Figur eines Mannes auf dem Bild, der auf den Stufen des Bibliotheksgebäudes gegenüber dem Deli-Shop saß und einen Becher Kaffee trank.
Der Pilot aktivierte nun die Antigrav-Plättchen am Minigleiter. Sofort sank das Fahrzeug auf den Boden. Vier Ankerketten krallten sich in den Untergrund. rLKE flutete die Schleuse zum Cockpit und schwamm in seinem Aquasuit hinaus. Fauchend schloss sich die Kuppel. Hinter sich hörte er die Entwässerungsanlage anlaufen. Die seit über tausend Jahren bewährte Technologie vermittelte dem Taucher ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit.
Er brachte eine Sprengladung am Portal an und glitt zur Seite. Nachdem das aufgewühlte Wasser sich beruhigt hatte, schwamm er selbst in das Gebäude hinein. rLKE verzichtete auf weitere erbauliche Betrachtungen der Architektur sondern ließ sich direkt über sein Helmnavi zum Tresor leiten. Man konnte sich schon fragen, warum die Entscheider erst vor kurzer Zeit auf die Berichte zu diesem „Schatz“ in der Bibliothek gestoßen waren. Die Informationsfülle von Terra war offenbar derart dicht, dass Generationen von „ex-terra“ Kolonisten mit der Sichtung des Materials beschäftigt waren. Jetzt war diese ominöse Statue eben an der Reihe, und er, rLKE, war der Exlorer. Auch gut, dachte er sich.
*​
Der Vorraum des Bibliotheksgebäudes zeigte beachtliche Ausmaße. rLKE schätzt ihn auf gut einhundert Metern in der Höhe. Er maß zwar nur etwa knappe zwanzig Meter in der Breite. Aber dafür zog sich der Gesamtkomplex durch ein Labyrinth von Gängen hin. Irgendwelche Weisen der damaligen Zeit hatten die Schatzkammer unterirdisch, unterhalb des Bibliotheksgebäudes, angelegt. rLKE fragte sich, warum sie den rätselhaften Inhalt nicht in der Zeitkapsel in den Höhlen von Colorado mit hinein gepackt hatten. Es musste etwas Besonderes an dieser „Statue“ sein. War es vielleicht ein genius loci?
Mit kräftigen Schwimmstößen nahm er den Weg bis zur ersten Querstraße rechts, dann richtete er sich nach links aus. Konzentriert folgte er unter Wasser dem weiteren Verlauf der Gänge, so wie sie ihm das Navigationsgerät anzeigten. Schon das zweite Segment strahlte ein unwirkliches dunkelblaues Licht aus. Woher stammte diese plötzliche Änderung im Farbton? Die Sache wurde interessant, oder vielleicht sogar schon spannend.
Seltsamerweise veränderte sich dieses ominöse Licht wieder, sobald er eine Strecke vorbeigeschwommen war. Seitlich neben ihm und vor ihm erstrahlte eine blaue Unterwasserwelt, und hinter sich erblickte er wieder die milchige, grau-braune Meeresflüssigkeit, die überall in dem Gebäude vorherrschte. Hatten die Erbauer der Bibliothek bereits die Technologie der Bioreflektoren benutzt? Aber dies war unmöglich. Er selbst hatte als Kind noch nicht diese Beleuchtungsform gekannt. Wie konnten die Erdbewohner vor vielen tausend Jahren das Wissen verfügbar haben? Er redete sich seine eigene Hypothese über das blaue Licht aus, um eine aufkommende Angst zu beherrschen.
rLKE drehte den Kopf in seinem Taucheranzug von rechts nach links und umgekehrt, um eine entstehende Verspannung im Nackenbereich aufzulösen. Hier unten war etwas nicht in Ordnung. Eine unbekannte Macht schien in diesem Unterwasserkomplex zu herrschen. Er fühlte, dass dieser Einfluss nicht aus der Raumstation kam. Hier waren andere Kräfte als die der Magós am Werk.
*​
Der Zugang zum Tresorraum war mit einem Codeschloss geschützt. Der Code war über die Vorgängergeneration der jetzigen Quantencomputer schon remotely ausgelesen worden. Die Weisen dort oben hatten weit mehr Informationen über das alte Wissen auf der Erde als dem normalen Transmutanten bewusst war.
rLKE gab die mitgebrachten Ziffern und Buchstaben auf dem altmodischen Panel an der Seitenwand ein und trat zur Seite, so wie er an der Eingangspforte verfahren war. Nachdem sich das Wasser verquirlt hatte, tauchte er in den Innenraum des Tresors hinein. Dieser war leer. Nichts war zu sehen, außer den Boden-, Wand- und Deckenplatten. Jetzt brauchte er eine intuitive Lösung, oder er kam mit leeren Händen zurück in die Orbitalstation.
rLKE schaltete seine lebenserhaltenden Elemente auf Stand-by und begann seine Meditation. Zuerst absolvierte er die Atemübungen, dann folgten die Paramita Mantras. Schließlich memorierte er das goldene Chakra Sutra für sich. Nach genau fünfundvierzig Minuten der Versenkung war er eins mit dem Sein.
Er wachte auf und schaute auf seine Uhr. Er hatte nach seiner Meditation genau acht Stunden geruht. Die Ausbildung in der Elite-Scout Akademie war immer wieder Gold wert. rLKE kontrollierte seine Biowerte. Der Blutdruck hatte sich wieder normalisiert, ebenso seine Atemfrequenz. Dies waren für ihn die wichtigsten Indikatoren. Nur ein ausgeglichener Organismus kann höchste Leistungen in bedrängten Situationen abgeben.
Das Umfeld hatte sich nicht verändert. Der Tresorraum war nach wie vor voller Wasser. Nur kleine Wellen schwappten hin und her. Die Erdkugel hatte sich im Moment eingependelt.
OK, wo liegt das Geheimnis, fragte er sich. Die oben wussten es nicht, sonst hätten sie ihn nicht heruntergeschickt. Aber es gab ein Geheimnis, eine Information, die die Ratsmitglieder in höchstem Maß interessierte. Mit ihm, dem dummen tauchenden Transhumanen, hatte man die letzten top secret Hintergrundinformationen nicht ausgetauscht. Er musste sich vor Ort herumplacken und suchen.
Was suchen?
rLKE nahm den Myonen-Detektor aus seinem Arbeitsgürtel und leuchtet die Wände ab. Dann kam die Decke an die Reihe. Es traten keine Unebenheiten hervor. Die Holoscans zeigten auch keine verborgenen Kammern auf dem 3D Display. Alles rundum war und blieb grau-braun.
Taktil. Vielleicht reagieren die Wände auf eine Berührung. Er stöhnte. So ein langweiliger Prozess kam ihm gerade noch zur falschen Zeit. Rechtecke abzutasten, dies war eine Arbeit für Roboter, aber nicht für intelligente Halbmenschen wie ihn. Da kam rLKE eine Idee. Er zupfte die Explorer-Raupe aus dem Umhang und setzte sie unten auf den Boden. Dann gab er ihr eine paar programmierte Instruktionen über die bidirektionalen Gedankenwellenmodule ein – und der kleine Helfer zog los.
Als der Robot eine Steinreihe in rLKE`s Augenhöhe erreichte, wölbte sich aus der Wand ein menschenähnliches Gesicht hervor. rLKE zeigt sich relativ unbeeindruckt, und er war es auch. Jahrelange Expeditionen auf Planeten mit Wasser- und ähnlichen Wellen-Elementen hatten ihn psychisch stabil gemacht. Die vorangegangen Angstgefühle gehörten dazu. Wer keine Angst hat, der konnte keine neuen neuronalen Verbindungen in Extremsituationen heranbilden.
„Danke für Deinen Besuch“. Der Mund kommunizierte unhörbar. „Die Erde ist untergegangen. Aber sie wird sich wieder erholen. Der irdische Organismus ist gebenedeit.“
rLKE verstand den antik klingenden Ausdruck nicht sofort. Seine Assoziatoreinheit übersetzte den Ausdruck mit: heilig.
„Der Planet wird gewaschen. Jeder Planet muss gewaschen werden, entweder mit sanfter Vernunft oder mit Nachdruck. Die äußeren Planeten sind ebenfalls Lebensformen. Sie tauschen die Elemente und ihr Bewusstsein mit ihrer jeweiligen Umwelt aus. Auch sie müssen regelmäßig gereinigt werden. Jetzt ist die Zeit für den Wandel“.
Die Wand entwickelte nun zwei steinerne Hände, die rLKEs Helm überraschend zart umfassten. Ein Teil der Wand formte sich zu einem menschlichen Mund und küsste rLKE auf seinen Taucherhelm. Energie floss zwischen den beiden Erscheinungen. Es war ein tiefes Blau, das von vielfarbigen Fäden durchzogen wurde. Die plasmatische Energie hüllte den Taucher vollkommen ein. JFL verlor sein Bewusstsein.
*​
„Lest sein Gedächtnis aus. Was sagt es?“ Die Ratsmitglieder blickten auf den „Erfüllungstisch“ im klinischen Trakt der Orbitalstadt. Ein Rettungstrupp hatte den Taucher nach dem ausbleibenden Statusreport aus dem Gebäude herausgezogen und in die Station gebracht.
„Er trägt eine konkrete Botschaft in sich“, berichtet der Operator vom Scan-O-Graphen her. „Die Kraft Gaia befiehlt uns die Rückkehr zum Matriarchat. Das ist alles. Dies ist seine Botschaft“.
Die Ratsmitglieder sahen sich gegenseitig an. Intuitiv sprach der Oberste Ratsherr: „Dann müssen wir den Befehl befolgen. Wir rufen unverzüglich die große Ratsversammlung ein. Wir informieren alle weiblichen Mitglieder der Kolonien, dass sie in Kürze neue und erweiterte Aufgaben übernehmen werden.“
Die Gruppe trat ab. Alle warfen noch einen letzten Blick auf den Körper von rLKE. „Ein guter Mann“, meinte der Vorsitzende. Er wendete sich noch einmal an die Ratsmitglieder und fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Dieser Sphärentaucher brachte uns die Nachricht von dem bevorstehenden Wandel in unserer Gemeinschaft. Lasst uns ein Fest verkünden Ihm zur Feier. Wir können ihm dankbar dafür sein, dass er uns diesmal die Botschaft rechtzeitig und eindeutig überbracht hat. Es ist besser so, als wenn wir es wieder „the hard way“ gelernt hätten“.
„Es ist schon seltsam, dass wir wieder nicht von selbst auf diese Idee gekommen sind“, meinte abschließend ein Mitglied aus der Gruppe.
*​
Der Ratsobere blieb urplötzlich mitten im Gehen stehen. Die Mitglieder seiner Gruppe mussten alles unternehmen, um ihrerseits nicht auf das Oberhaupt aufzulaufen.
Der Oberrat baute sich nun vor dem letzten Rufer auf und fragt ihn „Wie meinst du das, nRHO? Was hätten wir vorher wissen sollen?“
„Nun“, entgegnet der Angesprochene unbeeindruckt,“ wir machen doch seit Jahrtausenden einen Fehler nach dem anderen. Seitdem wir das Patriarchat eingeführt haben, seitdem geht es mit Terra bergab. Und nun schauen wir uns diese Wassereinöde an und begreifen, dass wir die Frauen verstärkt einbinden sollten.“
„Die Menschenfrauen, meinst du?“, entgegnete der Oberste mit einem gefährlichen Unterton.
nRHO erschrak und trat einen Schritt zurück. „Natürlich die Menschenfrauen, mein Herr. Wen denn sonst?“
Der Oberste gab einen schrillen Laut von sich, der in eine heiseres Zischen übergeht. Auf seinem Kopf wuchsen zwei Hörner. Die bisher menschlichen Augen mutieren zu gelben Augäpfeln mit gräßlichen grünen Schlitzen. Der gesamte Kopf nahm die Form einer Schlange an.
„Wir, du schwacher Zwerg, entgegnete er. "Wir, das galaktische Geschlecht der Wasserreptilien“. Mit diesen Worten öffnete er seinen schrecklichen Rachen und verschlang nRHO.
 
Es ist sicherlich einige Lesern aufgefallen, dass die Geschichte am Ende etwas in der Luft hing.
Man konnte sich fragen: Was ist eigentlich das Rätsel mit dem Taucher in der Wasserwelt?
Hier ist die Auflösung ...
 
Der Auftrag war ätzend langweilig. Die Erde war untergegangen. New York und alle anderen Städte lagen unter Wasser. Ausgerechnet er musste runter und das Etwas suchen.

Vor der Panoramascheibe seines Taucherhelmes schwammen Fische. Bunte Schwärme. Es waren nicht die ersten Fischschwärme, die rLKE in seinem Leben sah. Immerhin war der Ausblick hier doch abwechslungsreicher als in dem Eismeer von Enceladus. Allerdings hatte die Enceladus Mission ihm mehr Geld eingebracht.
Seit fast zehn Jahren war rLKE als Taucher auf zahlreichen Planeten eingesetzt. Dieser Kunstname „rLKE“ war sein ureigenstes Kürzel. Der sechzehnstellige alphanumerische Standard-Code verursachte ihm Übelkeit, wenn er nur daran dachte. Er hatte gegen diese kryptischen Bezeichnungen einen inneren Widerwillen aufgebaut, der schon an eine Paranoia heranreichte. Wahrscheinlich war er deshalb in den letzten Jahren noch nicht im Rang befördert worden. Die Neuro-Squad beobachtete jeden Transhumanen gewissenhaft und periodisch. Alle vier Wochen musste man zum Check in die Maschine.
Allerdings war rLKE auch noch nicht so daneben, dass er ein Implantat der Klassifikation Eins eingepflanzt bekam. Er trug nur die Hiatus-Brücke im Hippocampus. Damit wurde die Kohärenz zwischen den Hirnhälften verstärkt. rLKE war also brauchbar. Und er wurde als intuitionsstark bezeichnet. Außerdem war er gerade einsatzbereit.
Dieser Auftrag kam von höchster Stelle. Der Taucher wurde zwar nicht von einem Eingeweihten aus dem Rat der Weisen direkt ausgewählt, aber immerhin hatte ihn ein Magós aufgesucht und speziell instruiert. Das war seltsam genug.
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Der Flug von der Weltraumstadt Eleusis zur Erde war leicht zu ertragen gewesen. Schnell waren die sieben Raumzeitschalen überbrückt. Beim Eintauchen in die Erdatmosphäre horchte rLKE, ob er einen veränderten Klang des Planeten wahrnehmen konnte. Der Magós hatte ihn darauf hingewiesen, dass die Erde mit einem harmonischen Bindu-Klang wieder in ihr Gleichgewicht kommen würde. rLKE lauschte noch einmal in die akustischen Wiedergabegeräte, aber hörte nichts Besonderes. Er wollte jetzt nur noch seinen Auftrag ausführen und wieder abfliegen.
Das Ding, also dieser Planet, sah nun schon sehr blau aus. Überall war Wasser. Die Spitzen des Himalaya und der Drachenberge über Afrika ragten noch heraus. Und ein paar Demeter Seetang-Farmen waren zu sehen. Ansonsten hatte man sich zur Züchtung von Grünzeug auf Fesselluftballons in der erdnahen Atmosphäre zurückgezogen. Die Gezeiten auf dem Planeten änderten sich immer noch in unvorhersehbaren Sprüngen. Dem Seetang macht das offenbar nicht so viel aus.
Mit der plötzlichen Erderwärmung waren die Eiskuppen abgeschmolzen. Allerdings ging das Ganze schneller ab als die damaligen Bewohner es sich vorgestellt hatten. In einer einzigen Nacht schlug die Erdachse um 28 Grad um, und das irdische „Paradies“ wurde überflutet. Durch die Schlagkraft der Wassermassen pendelte der Globus anschließend um seine Achse noch einmal in die Gegenrichtung. Die ganze Macht der Tsunamis entlud sich nun zur anderen Seite. Kein Mensch und keine Maus, wie man so sagte, überlebte das Fiasko.
rLKE hatte Glück mit seinen Genen gehabt. Seine Genträger lebten damals schon auf einer lebensfreundlichen Outstation im Oriongürtel. Und so konnte er sich auf dem gegebenen Level seines Bewusstseins fortentwickeln. Die armen Seelen, die unter den Fluten begraben waren, sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Die meisten jedenfalls. So eine Kataklysmus Erfahrung schlägt voll auf die Stammzellen durch. Die Angsterfahrungen hemmen den weiteren seelischen und emotionalen Fortschritt. Nicht wenige von denen dort unten hatten wieder als Einzeller oder auf ähnlichem Niveau ihr neues Bewusstsein entwickeln müssen.
rLKE erschauerte. Noch tiefer im Niveau, das stellte er sich grässlich vor. Die Taucherexistenz war schon langweilig genug. Gottseidank gab es Ablenkungen und Zerstreuungen genug dort oben. rLKE grinste gemein in sich hinein. Er war wirklich noch nicht „soweit“.
Da vorn erstreckte nun sich der Quadrant mit dem ehemaligen Gelände von New York.
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Die Nanobots hatten gute Arbeit geleistet. Die Erde war wieder einigermaßen sauber. Die Vertreter der Weltregierung hatten über 200 Arten von Roboterarbeitern in Form von Schwärmen auf die Erde geschickt, um den Unrat zu entsorgen. Nach der Katastrophe schwammen unzählige Plastikteile herum. Es hatten sich Milliarden von Tonnen an Abfall aus den zerstörten Gebäuden und aus der ehemaligen Infrastruktur gebildet. Biologische Reste mussten entsorgt werden, da es keine Fressfeinde mehr gab. Mit den überlebenden Mikroben allein hätte es Jahrmillionen gedauert. Die Radioaktivität hatte man überraschend schnell neutralisiert – mit Antimaterie. Wenn die Menschen dieses Wissen vor der Katastrophe gehabt hätten, dann wären sie wohl nicht untergegangen.
Aber das war jetzt nicht sein Problem. Jedenfalls hatten die Nanobots relativ klare Sicht für ihn geschaffen. Die Fifth Avenue war für ihn einige Meter unter Wasser noch gut zu erkennen. Zwar schlangen sich überall Seetang und Unterwasserfarne um die Gebäude, aber die typische Fluchtlinie mit den Hauptgebäuden stand noch deutlich heraus.
Die Bibliothek mit ihrem griechischen Portal beeindruckte ihn immer noch. Alte Darstellungen zeigten den Taxiverkehr vor dem Gebäude. rLKE erinnerte sich auch an die Figur eines Mannes auf dem Bild, der auf den Stufen des Bibliotheksgebäudes gegenüber dem Deli-Shop saß und einen Becher Kaffee trank.
Der Pilot aktivierte nun die Antigrav-Plättchen am Minigleiter. Sofort sank das Fahrzeug auf den Boden. Vier Ankerketten krallten sich in den Untergrund. rLKE flutete die Schleuse zum Cockpit und schwamm in seinem Aquasuit hinaus. Fauchend schloss sich die Kuppel. Hinter sich hörte er die Entwässerungsanlage anlaufen. Die seit über tausend Jahren bewährte Technologie vermittelte dem Taucher ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit.
Er brachte eine Sprengladung am Portal an und glitt zur Seite. Nachdem das aufgewühlte Wasser sich beruhigt hatte, schwamm er selbst in das Gebäude hinein. rLKE verzichtete auf weitere erbauliche Betrachtungen der Architektur sondern ließ sich direkt über sein Helmnavi zum Tresor leiten. Man konnte sich schon fragen, warum die Entscheider erst vor kurzer Zeit auf die Berichte zu diesem „Schatz“ in der Bibliothek gestoßen waren. Die Informationsfülle von Terra war offenbar derart dicht, dass Generationen von „ex-terra“ Kolonisten mit der Sichtung des Materials beschäftigt waren. Jetzt war diese ominöse Statue eben an der Reihe, und er, rLKE, war der Exlorer. Auch gut, dachte er sich.
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Der Vorraum des Bibliotheksgebäudes zeigte beachtliche Ausmaße. rLKE schätzt ihn auf gut einhundert Metern in der Höhe. Er maß zwar nur etwa knappe zwanzig Meter in der Breite. Aber dafür zog sich der Gesamtkomplex durch ein Labyrinth von Gängen hin. Irgendwelche Weisen der damaligen Zeit hatten die Schatzkammer unterirdisch, unterhalb des Bibliotheksgebäudes, angelegt. rLKE fragte sich, warum sie den rätselhaften Inhalt nicht in der Zeitkapsel in den Höhlen von Colorado mit hinein gepackt hatten. Es musste etwas Besonderes an dieser „Statue“ sein. War es vielleicht ein genius loci?
Mit kräftigen Schwimmstößen nahm er den Weg bis zur ersten Querstraße rechts, dann richtete er sich nach links aus. Konzentriert folgte er unter Wasser dem weiteren Verlauf der Gänge, so wie sie ihm das Navigationsgerät anzeigten. Schon das zweite Segment strahlte ein unwirkliches dunkelblaues Licht aus. Woher stammte diese plötzliche Änderung im Farbton? Die Sache wurde interessant, oder vielleicht sogar schon spannend.
Seltsamerweise veränderte sich dieses ominöse Licht wieder, sobald er eine Strecke vorbeigeschwommen war. Seitlich neben ihm und vor ihm erstrahlte eine blaue Unterwasserwelt, und hinter sich erblickte er wieder die milchige, grau-braune Meeresflüssigkeit, die überall in dem Gebäude vorherrschte. Hatten die Erbauer der Bibliothek bereits die Technologie der Bioreflektoren benutzt? Aber dies war unmöglich. Er selbst hatte als Kind noch nicht diese Beleuchtungsform gekannt. Wie konnten die Erdbewohner vor vielen tausend Jahren das Wissen verfügbar haben? Er redete sich seine eigene Hypothese über das blaue Licht aus, um eine aufkommende Angst zu beherrschen.
rLKE drehte den Kopf in seinem Taucheranzug von rechts nach links und umgekehrt, um eine entstehende Verspannung im Nackenbereich aufzulösen. Hier unten war etwas nicht in Ordnung. Eine unbekannte Macht schien in diesem Unterwasserkomplex zu herrschen. Er fühlte, dass dieser Einfluss nicht aus der Raumstation kam. Hier waren andere Kräfte als die der Magós am Werk.
*​
Der Zugang zum Tresorraum war mit einem Codeschloss geschützt. Der Code war über die Vorgängergeneration der jetzigen Quantencomputer schon remotely ausgelesen worden. Die Weisen dort oben hatten weit mehr Informationen über das alte Wissen auf der Erde als dem normalen Transmutanten bewusst war.
rLKE gab die mitgebrachten Ziffern und Buchstaben auf dem altmodischen Panel an der Seitenwand ein und trat zur Seite, so wie er an der Eingangspforte verfahren war. Nachdem sich das Wasser verquirlt hatte, tauchte er in den Innenraum des Tresors hinein. Dieser war leer. Nichts war zu sehen, außer den Boden-, Wand- und Deckenplatten. Jetzt brauchte er eine intuitive Lösung, oder er kam mit leeren Händen zurück in die Orbitalstation.
rLKE schaltete seine lebenserhaltenden Elemente auf Stand-by und begann seine Meditation. Zuerst absolvierte er die Atemübungen, dann folgten die Paramita Mantras. Schließlich memorierte er das goldene Chakra Sutra für sich. Nach genau fünfundvierzig Minuten der Versenkung war er eins mit dem Sein.
Er wachte auf und schaute auf seine Uhr. Er hatte nach seiner Meditation genau acht Stunden geruht. Die Ausbildung in der Elite-Scout Akademie war immer wieder Gold wert. rLKE kontrollierte seine Biowerte. Der Blutdruck hatte sich wieder normalisiert, ebenso seine Atemfrequenz. Dies waren für ihn die wichtigsten Indikatoren. Nur ein ausgeglichener Organismus kann höchste Leistungen in bedrängten Situationen abgeben.
Das Umfeld hatte sich nicht verändert. Der Tresorraum war nach wie vor voller Wasser. Nur kleine Wellen schwappten hin und her. Die Erdkugel hatte sich im Moment eingependelt.
OK, wo liegt das Geheimnis, fragte er sich. Die oben wussten es nicht, sonst hätten sie ihn nicht heruntergeschickt. Aber es gab ein Geheimnis, eine Information, die die Ratsmitglieder in höchstem Maß interessierte. Mit ihm, dem dummen tauchenden Transhumanen, hatte man die letzten top secret Hintergrundinformationen nicht ausgetauscht. Er musste sich vor Ort herumplacken und suchen.
Was suchen?
rLKE nahm den Myonen-Detektor aus seinem Arbeitsgürtel und leuchtet die Wände ab. Dann kam die Decke an die Reihe. Es traten keine Unebenheiten hervor. Die Holoscans zeigten auch keine verborgenen Kammern auf dem 3D Display. Alles rundum war und blieb grau-braun.
Taktil. Vielleicht reagieren die Wände auf eine Berührung. Er stöhnte. So ein langweiliger Prozess kam ihm gerade noch zur falschen Zeit. Rechtecke abzutasten, dies war eine Arbeit für Roboter, aber nicht für intelligente Halbmenschen wie ihn. Da kam rLKE eine Idee. Er zupfte die Explorer-Raupe aus dem Umhang und setzte sie unten auf den Boden. Dann gab er ihr eine paar programmierte Instruktionen über die bidirektionalen Gedankenwellenmodule ein – und der kleine Helfer zog los.
Als der Robot eine Steinreihe in rLKE`s Augenhöhe erreichte, wölbte sich aus der Wand ein menschenähnliches Gesicht hervor. rLKE zeigt sich relativ unbeeindruckt, und er war es auch. Jahrelange Expeditionen auf Planeten mit Wasser- und ähnlichen Wellen-Elementen hatten ihn psychisch stabil gemacht. Die vorangegangen Angstgefühle gehörten dazu. Wer keine Angst hat, der konnte keine neuen neuronalen Verbindungen in Extremsituationen heranbilden.
„Danke für Deinen Besuch“. Der Mund kommunizierte unhörbar. „Die Erde ist untergegangen. Aber sie wird sich wieder erholen. Der irdische Organismus ist gebenedeit.“
rLKE verstand den antik klingenden Ausdruck nicht sofort. Seine Assoziatoreinheit übersetzte den Ausdruck mit: heilig.
„Der Planet wird gewaschen. Jeder Planet muss gewaschen werden, entweder mit sanfter Vernunft oder mit Nachdruck. Die äußeren Planeten sind ebenfalls Lebensformen. Sie tauschen die Elemente und ihr Bewusstsein mit ihrer jeweiligen Umwelt aus. Auch sie müssen regelmäßig gereinigt werden. Jetzt ist die Zeit für den Wandel“.
Die Wand entwickelte nun zwei steinerne Hände, die rLKEs Helm überraschend zart umfassten. Ein Teil der Wand formte sich zu einem menschlichen Mund und küsste rLKE auf seinen Taucherhelm. Energie floss zwischen den beiden Erscheinungen. Es war ein tiefes Blau, das von vielfarbigen Fäden durchzogen wurde. Die plasmatische Energie hüllte den Taucher vollkommen ein. JFL verlor sein Bewusstsein.
*​
„Lest sein Gedächtnis aus. Was sagt es?“ Die Ratsmitglieder blickten auf den „Erfüllungstisch“ im klinischen Trakt der Orbitalstadt. Ein Rettungstrupp hatte den Taucher nach dem ausbleibenden Statusreport aus dem Gebäude herausgezogen und in die Station gebracht.
„Er trägt eine konkrete Botschaft in sich“, berichtet der Operator vom Scan-O-Graphen her. „Die Kraft Gaia befiehlt uns die Rückkehr zum Matriarchat. Das ist alles. Dies ist seine Botschaft“.
Die Ratsmitglieder sahen sich gegenseitig an. Intuitiv sprach der Oberste Ratsherr: „Dann müssen wir den Befehl befolgen. Wir rufen unverzüglich die große Ratsversammlung ein. Wir informieren alle weiblichen Mitglieder der Kolonien, dass sie in Kürze neue und erweiterte Aufgaben übernehmen werden.“
Die Gruppe trat ab. Alle warfen noch einen letzten Blick auf den Körper von rLKE. „Ein guter Mann“, meinte der Vorsitzende. Er wendete sich noch einmal an die Ratsmitglieder und fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Dieser Sphärentaucher brachte uns die Nachricht von dem bevorstehenden Wandel in unserer Gemeinschaft. Lasst uns ein Fest verkünden Ihm zur Feier. Wir können ihm dankbar dafür sein, dass er uns diesmal die Botschaft rechtzeitig und eindeutig überbracht hat. Es ist besser so, als wenn wir es wieder „the hard way“ gelernt hätten“.
„Es ist schon seltsam, dass wir wieder nicht von selbst auf diese Idee gekommen sind“, meinte abschließend ein Mitglied aus der Gruppe.
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Der Ratsobere blieb urplötzlich mitten im Gehen stehen. Die Mitglieder seiner Gruppe mussten alles unternehmen, um ihrerseits nicht auf das Oberhaupt aufzulaufen.
Der Oberrat baute sich nun vor dem letzten Rufer auf und fragt ihn „Wie meinst du das, nRHO? Was hätten wir vorher wissen sollen?“
„Nun“, entgegnet der Angesprochene unbeeindruckt,“ wir machen doch seit Jahrtausenden einen Fehler nach dem anderen. Seitdem wir das Patriarchat eingeführt haben, seitdem geht es mit Terra bergab. Und nun schauen wir uns diese Wassereinöde an und begreifen, dass wir die Frauen verstärkt einbinden sollten.“
„Die Menschenfrauen, meinst du?“, entgegnete der Oberste mit einem gefährlichen Unterton.
nRHO erschrak und trat einen Schritt zurück. „Natürlich die Menschenfrauen, mein Herr. Wen denn sonst?“
Der Oberste gab einen schrillen Laut von sich, der in ein heiseres Zischen übergeht. Auf seinem Kopf wuchsen zwei Hörner. Die bisher menschlichen Augen mutieren zu gelben Augäpfeln mit gräßlichen grünen Schlitzen. Der gesamte Kopf nahm die Form einer Schlange an.
„Wir, du schwacher Zwerg, entgegnete er. "Wir, das galaktische Geschlecht der Wasserreptilien“. Mit diesen Worten öffnete er seinen schrecklichen Rachen und verschlang nRHO.
 
Der Auftrag war ätzend langweilig. Die Erde war untergegangen. New York und alle anderen Städte lagen unter Wasser. Ausgerechnet er musste runter und das Etwas suchen.

Vor der Panoramascheibe seines Taucherhelmes schwammen Fische. Bunte Schwärme. Es waren nicht die ersten Fischschwärme, die rLKE in seinem Leben sah. Immerhin war der Ausblick hier doch abwechslungsreicher als in dem Eismeer von Enceladus. Allerdings hatte die Enceladus Mission ihm mehr Geld eingebracht.
Seit fast zehn Jahren war rLKE als Taucher auf zahlreichen Planeten eingesetzt. Dieser Kunstname „rLKE“ war sein ureigenstes Kürzel. Der sechzehnstellige alphanumerische Standard-Code verursachte ihm Übelkeit, wenn er nur daran dachte. Er hatte gegen diese kryptischen Bezeichnungen einen inneren Widerwillen aufgebaut, der schon an eine Paranoia heranreichte. Wahrscheinlich war er deshalb in den letzten Jahren noch nicht im Rang befördert worden. Die Neuro-Squad beobachtete jeden Transhumanen gewissenhaft und periodisch. Alle vier Wochen musste man zum Check in die Maschine.
Allerdings war rLKE auch noch nicht so daneben, dass er ein Implantat der Klassifikation Eins eingepflanzt bekam. Er trug nur die Hiatus-Brücke im Hippocampus. Damit wurde die Kohärenz zwischen den Hirnhälften verstärkt. rLKE war also brauchbar. Und er wurde als intuitionsstark bezeichnet. Außerdem war er gerade einsatzbereit.
Dieser Auftrag kam von höchster Stelle. Der Taucher wurde zwar nicht von einem Eingeweihten aus dem Rat der Weisen direkt ausgewählt, aber immerhin hatte ihn ein Magós aufgesucht und speziell instruiert. Das war seltsam genug.
*​
Der Flug von der Weltraumstadt Eleusis zur Erde war leicht zu ertragen gewesen. Schnell waren die sieben Raumzeitschalen überbrückt. Beim Eintauchen in die Erdatmosphäre horchte rLKE, ob er einen veränderten Klang des Planeten wahrnehmen konnte. Der Magós hatte ihn darauf hingewiesen, dass die Erde mit einem harmonischen Bindu-Klang wieder in ihr Gleichgewicht kommen würde. rLKE lauschte noch einmal in die akustischen Wiedergabegeräte, aber hörte nichts Besonderes. Er wollte jetzt nur noch seinen Auftrag ausführen und wieder abfliegen.
Das Ding, also dieser Planet, sah nun schon sehr blau aus. Überall war Wasser. Die Spitzen des Himalaya und der Drachenberge über Afrika ragten noch heraus. Und ein paar Demeter Seetang-Farmen waren zu sehen. Ansonsten hatte man sich zur Züchtung von Grünzeug auf Fesselluftballons in der erdnahen Atmosphäre zurückgezogen. Die Gezeiten auf dem Planeten änderten sich immer noch in unvorhersehbaren Sprüngen. Dem Seetang macht das offenbar nicht so viel aus.
Mit der plötzlichen Erderwärmung waren die Eiskuppen abgeschmolzen. Allerdings ging das Ganze schneller ab als die damaligen Bewohner es sich vorgestellt hatten. In einer einzigen Nacht schlug die Erdachse um 28 Grad um, und das irdische „Paradies“ wurde überflutet. Durch die Schlagkraft der Wassermassen pendelte der Globus anschließend um seine Achse noch einmal in die Gegenrichtung. Die ganze Macht der Tsunamis entlud sich nun zur anderen Seite. Kein Mensch und keine Maus, wie man so sagte, überlebte das Fiasko.
rLKE hatte Glück mit seinen Genen gehabt. Seine Genträger lebten damals schon auf einer lebensfreundlichen Outstation im Oriongürtel. Und so konnte er sich auf dem gegebenen Level seines Bewusstseins fortentwickeln. Die armen Seelen, die unter den Fluten begraben waren, sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Die meisten jedenfalls. So eine Kataklysmus Erfahrung schlägt voll auf die Stammzellen durch. Die Angsterfahrungen hemmen den weiteren seelischen und emotionalen Fortschritt. Nicht wenige von denen dort unten hatten wieder als Einzeller oder auf ähnlichem Niveau ihr neues Bewusstsein entwickeln müssen.
rLKE erschauerte. Noch tiefer im Niveau, das stellte er sich grässlich vor. Die Taucherexistenz war schon langweilig genug. Gottseidank gab es Ablenkungen und Zerstreuungen genug dort oben. rLKE grinste gemein in sich hinein. Er war wirklich noch nicht „soweit“.
Da vorn erstreckte nun sich der Quadrant mit dem ehemaligen Gelände von New York.
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Die Nanobots hatten gute Arbeit geleistet. Die Erde war wieder einigermaßen sauber. Die Vertreter der Weltregierung hatten über 200 Arten von Roboterarbeitern in Form von Schwärmen auf die Erde geschickt, um den Unrat zu entsorgen. Nach der Katastrophe schwammen unzählige Plastikteile herum. Es hatten sich Milliarden von Tonnen an Abfall aus den zerstörten Gebäuden und aus der ehemaligen Infrastruktur gebildet. Biologische Reste mussten entsorgt werden, da es keine Fressfeinde mehr gab. Mit den überlebenden Mikroben allein hätte es Jahrmillionen gedauert. Die Radioaktivität hatte man überraschend schnell neutralisiert – mit Antimaterie. Wenn die Menschen dieses Wissen vor der Katastrophe gehabt hätten, dann wären sie wohl nicht untergegangen.
Aber das war jetzt nicht sein Problem. Jedenfalls hatten die Nanobots relativ klare Sicht für ihn geschaffen. Die Fifth Avenue war für ihn einige Meter unter Wasser noch gut zu erkennen. Zwar schlangen sich überall Seetang und Unterwasserfarne um die Gebäude, aber die typische Fluchtlinie mit den Hauptgebäuden stand noch deutlich heraus.
Die Bibliothek mit ihrem griechischen Portal beeindruckte ihn immer noch. Alte Darstellungen zeigten den Taxiverkehr vor dem Gebäude. rLKE erinnerte sich auch an die Figur eines Mannes auf dem Bild, der auf den Stufen des Bibliotheksgebäudes gegenüber dem Deli-Shop saß und einen Becher Kaffee trank.
Der Pilot aktivierte nun die Antigrav-Plättchen am Minigleiter. Sofort sank das Fahrzeug auf den Boden. Vier Ankerketten krallten sich in den Untergrund. rLKE flutete die Schleuse zum Cockpit und schwamm in seinem Aquasuit hinaus. Fauchend schloss sich die Kuppel. Hinter sich hörte er die Entwässerungsanlage anlaufen. Die seit über tausend Jahren bewährte Technologie vermittelte dem Taucher ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit.
Er brachte eine Sprengladung am Portal an und glitt zur Seite. Nachdem das aufgewühlte Wasser sich beruhigt hatte, schwamm er selbst in das Gebäude hinein. rLKE verzichtete auf weitere erbauliche Betrachtungen der Architektur sondern ließ sich direkt über sein Helmnavi zum Tresor leiten. Man konnte sich schon fragen, warum die Entscheider erst vor kurzer Zeit auf die Berichte zu diesem „Schatz“ in der Bibliothek gestoßen waren. Die Informationsfülle von Terra war offenbar derart dicht, dass Generationen von „ex-terra“ Kolonisten mit der Sichtung des Materials beschäftigt waren. Jetzt war diese ominöse Statue eben an der Reihe, und er, rLKE, war der Exlorer. Auch gut, dachte er sich.
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Der Vorraum des Bibliotheksgebäudes zeigte beachtliche Ausmaße. rLKE schätzt ihn auf gut einhundert Metern in der Höhe. Er maß zwar nur etwa knappe zwanzig Meter in der Breite. Aber dafür zog sich der Gesamtkomplex durch ein Labyrinth von Gängen hin. Irgendwelche Weisen der damaligen Zeit hatten die Schatzkammer unterirdisch, unterhalb des Bibliotheksgebäudes, angelegt. rLKE fragte sich, warum sie den rätselhaften Inhalt nicht in der Zeitkapsel in den Höhlen von Colorado mit hinein gepackt hatten. Es musste etwas Besonderes an dieser „Statue“ sein. War es vielleicht ein genius loci?
Mit kräftigen Schwimmstößen nahm er den Weg bis zur ersten Querstraße rechts, dann richtete er sich nach links aus. Konzentriert folgte er unter Wasser dem weiteren Verlauf der Gänge, so wie sie ihm das Navigationsgerät anzeigten. Schon das zweite Segment strahlte ein unwirkliches dunkelblaues Licht aus. Woher stammte diese plötzliche Änderung im Farbton? Die Sache wurde interessant, oder vielleicht sogar schon spannend.
Seltsamerweise veränderte sich dieses ominöse Licht wieder, sobald er eine Strecke vorbeigeschwommen war. Seitlich neben ihm und vor ihm erstrahlte eine blaue Unterwasserwelt, und hinter sich erblickte er wieder die milchige, grau-braune Meeresflüssigkeit, die überall in dem Gebäude vorherrschte. Hatten die Erbauer der Bibliothek bereits die Technologie der Bioreflektoren benutzt? Aber dies war unmöglich. Er selbst hatte als Kind noch nicht diese Beleuchtungsform gekannt. Wie konnten die Erdbewohner vor vielen tausend Jahren das Wissen verfügbar haben? Er redete sich seine eigene Hypothese über das blaue Licht aus, um eine aufkommende Angst zu beherrschen.
rLKE drehte den Kopf in seinem Taucheranzug von rechts nach links und umgekehrt, um eine entstehende Verspannung im Nackenbereich aufzulösen. Hier unten war etwas nicht in Ordnung. Eine unbekannte Macht schien in diesem Unterwasserkomplex zu herrschen. Er fühlte, dass dieser Einfluss nicht aus der Raumstation kam. Hier waren andere Kräfte als die der Magós am Werk.
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Der Zugang zum Tresorraum war mit einem Codeschloss geschützt. Der Code war über die Vorgängergeneration der jetzigen Quantencomputer schon remotely ausgelesen worden. Die Weisen dort oben hatten weit mehr Informationen über das alte Wissen auf der Erde als dem normalen Transmutanten bewusst war.
rLKE gab die mitgebrachten Ziffern und Buchstaben auf dem altmodischen Panel an der Seitenwand ein und trat zur Seite, so wie er an der Eingangspforte verfahren war. Nachdem sich das Wasser verquirlt hatte, tauchte er in den Innenraum des Tresors hinein. Dieser war leer. Nichts war zu sehen, außer den Boden-, Wand- und Deckenplatten. Jetzt brauchte er eine intuitive Lösung, oder er kam mit leeren Händen zurück in die Orbitalstation.
rLKE schaltete seine lebenserhaltenden Elemente auf Stand-by und begann seine Meditation. Zuerst absolvierte er die Atemübungen, dann folgten die Paramita Mantras. Schließlich memorierte er das goldene Chakra Sutra für sich. Nach genau fünfundvierzig Minuten der Versenkung war er eins mit dem Sein.
Er wachte auf und schaute auf seine Uhr. Er hatte nach seiner Meditation genau acht Stunden geruht. Die Ausbildung in der Elite-Scout Akademie war immer wieder Gold wert. rLKE kontrollierte seine Biowerte. Der Blutdruck hatte sich wieder normalisiert, ebenso seine Atemfrequenz. Dies waren für ihn die wichtigsten Indikatoren. Nur ein ausgeglichener Organismus kann höchste Leistungen in bedrängten Situationen abgeben.
Das Umfeld hatte sich nicht verändert. Der Tresorraum war nach wie vor voller Wasser. Nur kleine Wellen schwappten hin und her. Die Erdkugel hatte sich im Moment eingependelt.
OK, wo liegt das Geheimnis, fragte er sich. Die oben wussten es nicht, sonst hätten sie ihn nicht heruntergeschickt. Aber es gab ein Geheimnis, eine Information, die die Ratsmitglieder in höchstem Maß interessierte. Mit ihm, dem dummen tauchenden Transhumanen, hatte man die letzten top secret Hintergrundinformationen nicht ausgetauscht. Er musste sich vor Ort herumplacken und suchen.
Was suchen?
rLKE nahm den Myonen-Detektor aus seinem Arbeitsgürtel und leuchtet die Wände ab. Dann kam die Decke an die Reihe. Es traten keine Unebenheiten hervor. Die Holoscans zeigten auch keine verborgenen Kammern auf dem 3D Display. Alles rundum war und blieb grau-braun.
Taktil. Vielleicht reagieren die Wände auf eine Berührung. Er stöhnte. So ein langweiliger Prozess kam ihm gerade noch zur falschen Zeit. Rechtecke abzutasten, dies war eine Arbeit für Roboter, aber nicht für intelligente Halbmenschen wie ihn. Da kam rLKE eine Idee. Er zupfte die Explorer-Raupe aus dem Umhang und setzte sie unten auf den Boden. Dann gab er ihr eine paar programmierte Instruktionen über die bidirektionalen Gedankenwellenmodule ein – und der kleine Helfer zog los.
Als der Robot eine Steinreihe in rLKE`s Augenhöhe erreichte, wölbte sich aus der Wand ein menschenähnliches Gesicht hervor. rLKE zeigt sich relativ unbeeindruckt, und er war es auch. Jahrelange Expeditionen auf Planeten mit Wasser- und ähnlichen Wellen-Elementen hatten ihn psychisch stabil gemacht. Die vorangegangen Angstgefühle gehörten dazu. Wer keine Angst hat, der konnte keine neuen neuronalen Verbindungen in Extremsituationen heranbilden.
„Danke für Deinen Besuch“. Der Mund kommunizierte unhörbar. „Die Erde ist untergegangen. Aber sie wird sich wieder erholen. Der irdische Organismus ist gebenedeit.“
rLKE verstand den antik klingenden Ausdruck nicht sofort. Seine Assoziatoreinheit übersetzte den Ausdruck mit: heilig.
„Der Planet wird gewaschen. Jeder Planet muss gewaschen werden, entweder mit sanfter Vernunft oder mit Nachdruck. Die äußeren Planeten sind ebenfalls Lebensformen. Sie tauschen die Elemente und ihr Bewusstsein mit ihrer jeweiligen Umwelt aus. Auch sie müssen regelmäßig gereinigt werden. Jetzt ist die Zeit für den Wandel“.
Die Wand entwickelte nun zwei steinerne Hände, die rLKEs Helm überraschend zart umfassten. Ein Teil der Wand formte sich zu einem menschlichen Mund und küsste rLKE auf seinen Taucherhelm. Energie floss zwischen den beiden Erscheinungen. Es war ein tiefes Blau, das von vielfarbigen Fäden durchzogen wurde. Die plasmatische Energie hüllte den Taucher vollkommen ein. JFL verlor sein Bewusstsein.
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„Lest sein Gedächtnis aus. Was sagt es?“ Die Ratsmitglieder blickten auf den „Erfüllungstisch“ im klinischen Trakt der Orbitalstadt. Ein Rettungstrupp hatte den Taucher nach dem ausbleibenden Statusreport aus dem Gebäude herausgezogen und in die Station gebracht.
„Er trägt eine konkrete Botschaft in sich“, berichtet der Operator vom Scan-O-Graphen her. „Die Kraft Gaia befiehlt uns die Rückkehr zum Matriarchat. Das ist alles. Dies ist seine Botschaft“.
Die Ratsmitglieder sahen sich gegenseitig an. Intuitiv sprach der Oberste Ratsherr: „Dann müssen wir den Befehl befolgen. Wir rufen unverzüglich die große Ratsversammlung ein. Wir informieren alle weiblichen Mitglieder der Kolonien, dass sie in Kürze neue und erweiterte Aufgaben übernehmen werden.“
Die Gruppe trat ab. Alle warfen noch einen letzten Blick auf den Körper von rLKE. „Ein guter Mann“, meinte der Vorsitzende. Er wendete sich noch einmal an die Ratsmitglieder und fuhr er mit erhobener Stimme fort: „Dieser Sphärentaucher brachte uns die Nachricht von dem bevorstehenden Wandel in unserer Gemeinschaft. Lasst uns ein Fest verkünden Ihm zur Feier. Wir können ihm dankbar dafür sein, dass er uns diesmal die Botschaft rechtzeitig und eindeutig überbracht hat. Es ist besser so, als wenn wir es wieder „the hard way“ gelernt hätten“.
„Es ist schon seltsam, dass wir wieder nicht von selbst auf diese Idee gekommen sind“, meinte abschließend ein Mitglied aus der Gruppe.
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Der Ratsobere blieb urplötzlich mitten im Gehen stehen. Die Mitglieder seiner Gruppe mussten alles unternehmen, um ihrerseits nicht auf das Oberhaupt aufzulaufen.
Der Oberrat baute sich nun vor dem letzten Rufer auf und fragt ihn „Wie meinst du das, nRHO? Was hätten wir vorher wissen sollen?“
„Nun“, entgegnet der Angesprochene unbeeindruckt,“ wir machen doch seit Jahrtausenden einen Fehler nach dem anderen. Seitdem wir das Patriarchat eingeführt haben, seitdem geht es mit Terra bergab. Und nun schauen wir uns diese Wassereinöde an und begreifen, dass wir die Frauen verstärkt einbinden sollten.“
„Die Menschenfrauen, meinst du?“, entgegnete der Oberste mit einem gefährlichen Unterton.
nRHO erschrak und trat einen Schritt zurück. „Natürlich die Menschenfrauen, mein Herr. Wen denn sonst?“
Der Oberste gab einen schrillen Laut von sich, der in ein heiseres Zischen übergeht. Auf seinem Kopf wuchsen zwei Hörner. Die bisher menschlichen Augen mutieren zu gelben Augäpfeln mit gräßlichen grünen Schlitzen. Der gesamte Kopf nahm die Form einer Schlange an.
„Wir, du schwacher Zwerg, entgegnete er. "Wir, das galaktische Geschlecht der Wasserreptilien“. Mit diesen Worten öffnete er seinen schrecklichen Rachen und verschlang nRHO.

In diesem Moment löst sich ein Mann aus der Gruppe ...
 



 
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