Der Sprung ins Leere

Der Sprung ins Leere

Wenn man das Leben als Folge von Möglichkeiten betrachtet, so denke ich, war mein Weg nicht der schlechteste. Die Kette an möglichen Entscheidungen, entweder vorteilhaft oder zerstörerisch für das eigene Wesen, habe ich oft zu meinen Gunsten erkennen und wählen können. Wichtigster Kompass war und ist auf dieser Reise mit vielen Unbekannten meine innere Stimme. So kann man es zumindest in verständliche Worte fassen. Tatsächlich ist diese vermeintliche Stimme jedoch irgendetwas zwischen Intuition und Zufall. Den berühmten „steinernen Weg”, den das Leben angeblich darstellt, kann man in meinem Fall zutreffender als bemoosten Waldweg bezeichnen mit einer mannigfaltiger Möglichkeit abzubiegen und sich in jede nur denkliche Richtung zu orientieren, wobei ich durch richtiges Wählen meist auf dem weichen Boden blieb. Sobald der Weg sich dann doch als steinig erwies, habe ich ihn entgegen protestantischer Durchhalteethik, sofort verlassen, notfalls indem ich mich allen Widerständen zum Trotz seitwärts durch Buschwerk gekämpft habe, um dann mit einer umso größeren Befriedigung den weichen Pfad erneut zu betreten.
Die Devise „Alles oder Nichts” gilt also meiner Meinung nach tatsächlich sofern man den strengen Willen und die Hilfe des Zufalls hat, um das Möglichste zu erreichen. Denn trotz aller Anstrengungen braucht man dennoch die Hilfe der vielbeschrieenen Macht aus hohen Sphären, wie auch immer man sie bezeichnen mag. Meine Wahl fiel hier auf Zufall, in manchen Fällen auch von mir als Schicksal bezeichnet.
Und so glaube ich auch, dass selbst in diesem Moment, in dem mir der Wind schrill um die Ohren pfeift, mein Urteilsvermögen über die richtige Entscheidung nicht getrübt ist durch innere Qualen, die ich erleide. Denn in diesem Moment sehe ich eine Gabelung vor mir, von der die eine Möglichkeit in eine Höllenlandschaft voller Fratzen und spuckender Lava führt, während die andere…ja, wie soll man sagen?
Der andere Weg führt in das Nichts, in die Stille, in den sternenklaren Äther, der alle Gefühle und die Glut des Lebens durch seine Eisenskälte betäubt und erstarren lässt, in dem das Nichts zur ewigen Stille verurteilt, zu Schweigen bis in die Unendlichkeit. Und Schweigen will ich. Mit dem kalten Stuhl der ewigen Finsternis will ich meine wunde Seele befreien, auflösen und durch mein Ende auch das Ende meiner Marter erreichen - mag es auch pathetisch klingen - es entspricht den Fakten. Nicht mehr und nicht weniger. Sofern man bei Empfindungen überhaupt von Faktischem sprechen kann.
Doch bevor das Schweigen mich umschließt, will ich noch einen Eintrag in das Protokoll meines Lebens machen:
Es ist das Wissen darum, dass uns das Netz aller Wege, die wir wählen können, trotzdem zu einem bestimmten Platz führen kann. Dass das Schicksal uns betrügen kann. Dass es egal ist, wohin wir gehen, denn wir werden immer in den feurigen Abgrund sehen, wenn dieser für uns bestimmt ist. Und - am Schlimmsten von Allem - dass es Dinge gibt, die uns auf dem sonnigsten Pfad und ohne das geringste Vorzeichen wie ein Blitz aus blauem Himmel heimsuchen und unser Leben in Sekunden in Stücke reißen kann.
Und dieser Schlag mit der Schicksalskeule habe auch ich zu spüren bekommen. Perfiderweise gerade in einem solchen Moment als sich kein Wölkchen am Himmel meines Daseins zeigte. Als grausame Ironie empfinde ich es zurückblickend, dass ausgerechnet zu der meinem Empfinden nach schönsten Zeit, die ich jemals hatte, plötzlich ein knochiges Pochen aus der Tiefe an mein Ohr drang. Und es wurde sehr schnell lauter und lauter.
Doch sowohl von den sonnigen Tagen als auch von der stürmischen Zeit wollte ich hier Zeugnis abgeben, meinen Weg noch einmal nachgehen und mir klar machen, dass alles so kommen musste und das jetzt, mit der schwarzen Tiefe unter meinen Fußspitzen, das unweigerliche Finale, die Katharsis als blutiges Ausrufezeichen die einzige und letzte Konsequenz darstellt. Und als wäre es ein Beweis der Richtigkeit meines Tuns, fühle ich mich jetzt hier mit dem Regen, der mir ins Gesicht peitscht und den kalten Händen am Geländer, zum ersten Mal seit langem wieder lebendig. Das Feuer brennt durch meine Adern bei dem Gedanken, es braucht nur einen Schritt! Und ich alleine entscheide über Leben und Tod, über mein ganzes Dasein, ich bin das Subjekt aller Handlungen, bin Herrin meines Schicksals.
Und so löse ich denn meine Finger langsam von dem kalten, nassen Blechbalken.
Die Finsternis lächelt mich an … und ich lächle zurück


(C) g-ps-d 2004
 
Aha, da ist ein Mensch, der sich selbst entleiben will. Hoffentlich sind seine Berechnungen richtig. Wenn nicht, wird er mit einem derartigen Leib verbunden sein, der querschnittsgelähmt ist. Aber vielleicht ergeben sich gerade dadurch für ihn neue Möglichkeiten. So gibt es keinen Schritt, der ins Leere geht.

Eine starke Geschichte - wie übrigens auch die von bookwriter ("Das Leben ist eine Brücke"), die sich mit demselben Thema beschäftigt...

Best regards,
Alexander
 

Nina H.

Mitglied
Das ist echt gut geschrieben. Als ewiger Tippfehlersucher werde ich nicht mal in der Hinsicht fündig, kann also nicht über mangelnde Qualität des Textes klagen. Sollte ihn nur nicht in depressiven Stunden lesen.
 



 
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