Der Stein

Isa

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Julia starrt auf die spielende Kinderschar, welche in einigen Metern Entfernung Sandburgen bauen, Tunnel in den feuchten Sand graben, oder kleine Kuchen aus Sand backen. Es ist gar nicht so lange her, dass sie sich selbst mit ihren Freunden im Sand getummelt hat, auf Entdeckungsreise gegangen ist, oder einfach nur die schönsten Sandkörner gesucht hat. Sie erinnert sich daran, dass die Flasche mit den verschiedenen, kleinen, bunten Steinchen immer noch auf einem Regal in ihrem Zimmer steht. Es ist schon seltsam, dass sie es beinahe schon vergessen hat. Sie geht auf den Sandkasten zu und das Gekreische und Geschrei der Kinder wird immer lauter und auf ihr Gesicht schleicht sich ein Lächeln, welches ihre Augen aber nicht erreicht. Diese blicken weiterhin mit einem traurigen, gequälten Ausdruck auf die spielenden Mädchen und Jungen.
In der Nähe des Sandkastens steht eine grüne Parkbank. Der Lack hat bereits an vielen Stellen Risse und man sieht darunter altes, dunkles Holz. Ebenfalls sind dort etliche Versuche Heranwachsender zu erkennen, sich auf der einfachen Bank zu verewigen. Es sind Namen eingeritzt, aber auch Herzen und Schimpfwörter, sogar ein verunglückter Totenschädel ist zu erkennen. Auf der Bank sitzt eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm. Sie lächelt Julia an, als diese sich neben sie auf die Bank setzt. Julia wirft einen kurzen Blick auf das kleine Kind und ungewollt steigen ihr Tränen in die Augen. Ihr Herz krampft sich zusammen und schnell wendet sie den Blick wieder ab, hofft, dass die Mutter ihre Tränen nicht gesehen hat. Sie will nicht schon wieder Fragen beantworten. Der Säugling gibt gurgelnde Laute von sich und die Mutter überschüttet ihn mit ähnlichen, liebevollen Geräuschen. Sie strahlen beide eine unglaubliche Glückseeligkeit aus und Julia hofft, dass sie bald gehen werden. Sie will hier allein sein, die Kinder betrachten und nachdenken. Nein, sie möchte nicht nachdenken, sondern lieber alles vergessen, was in den letzten Wochen passiert ist.
Als habe die Mutter mit dem Säugling Julias Gedanken gehört, setzt sie ihr Kind in den Kinderwagen und ruft einen Namen. Innerhalb kürzester Zeit kommt ein kleiner verschmutzter Junge angerannt. Er strahlt seine Mutter vor Begeisterung an und zieht eine Schnute, als ihm seine Mutter sagt, dass sie nun gehen müssten. Die Fröhlichkeit verschwindet schlagartig und Julia befürchtet schon, dass der Junge zu weinen beginnen wird. Doch die Mutter lächelt ihren Sohn nur an und verspricht ihm, am nächsten Tag werden sie länger bleiben. Das beruhigt den Jungen und mit einem Nicken verabschiedet sich die Mutter von Julia. Diese erwidert den Gruß nur schwach und die Mutter, der Kinderwagen und der kleine Junge gehen den Weg entlang in die Wohnsiedlung zurück.
Julias Hände legen sich, beinahe automatisch, auf ihren Bauch und diesmal fließen Tränen über ihre Wange. Verschwommen sieht sie die spielenden Kinder und weiß, dass ihr Kind in einigen Jahren auch dort gespielt hätte. Doch sie hat ihm nicht die Chance gegeben, diese fröhlichen Spiele der anderen Kinder mitzuspielen.
Sie hatte zum Glück noch rechtzeitig bemerkt, dass sie schwanger war. Dabei stand sie doch kurz davor, ihr Abitur zu machen und konnte sich ein Kind einfach nicht erlauben. Es war einfach noch viel zu früh. Zwar hatte sie bereits überlegt Kinder zu bekommen, sie wollte sogar mehr, als nur ein Kind, doch nicht zu diesem denkbar ungünstigem Zeitpunkt. Zuerst hatte sie ihrem Freund von ihrer Schwangerschaft erzählt. Er war fassungslos gewesen und hatte ihr sofort die Schuld daran gegeben und jede Verantwortung abgelehnt, denn schließlich hatte sie ihm gesagt, sie nähme die Pille und eine Schwangerschaft sei unmöglich. Sie war in Tränen ausgebrochen, doch war er einfach gegangen und hatte sie allein in ihrem Zimmer sitzen lassen. Kurz danach hatte sie gehört, wie er die Tür hinter sich zugeknallt hatte und dann setzt ihre Erinnerung erst wieder ein, als sie mit ihrer Mutter redete. Diese war genauso schockiert, wie ihr Freund, schimpfte sie jedoch nicht, wegen ihrer Unvorsichtigkeit, sondern hatte sofort eine Lösung bereit. Die Lösung von welcher Julia definitiv nichts hören wollte und dennoch schien eine Abtreibung der einzige Ausweg. Sie würde sich ihre Zukunft verbauen. Immerhin habe sie noch nicht einmal einen Schulabschluss und bis zu den Prüfungen würde sie es nicht mehr schaffen, das Kind zu bekommen. Und selbst wenn, würde sie in dieser Zeit so viel an Schulstoff verpassen, dass ein Bestehen des Abiturs unmöglich war. Sie hatte gesagt, sie wolle über diesen Schritt eine Nacht schlafen und am nächsten Tag versuchte sie vergeblich ihren Freund zu erreichten. Sie redete erneut mit ihrer Mutter und schließlich schaffte diese es, ihre Tochter davon zu überzeugen, dass eine Abtreibung das Beste war.
Die nächsten Tage vergingen für Julia, wie im Traum. Es war ein schrecklicher Albtraum und auch jetzt ist jeder neue Tag für sie die Hölle. Immer, wenn sie Kinder sieht, egal welches Alter und Aussehen, denkt sie an ihre Abtreibung. An das, was aus ihrem Kind hätte werden können, wenn sie ihm nur die Chance dazu gelassen hätte. Sie merkt gar nicht, dass immer weniger Kinder im Sandkasten spielen und die Parkbank schon lange nicht mehr von der Sonne gewärmt wird. Sie bekommt eine Gänsehaut, achtet aber nicht weiter darauf. In ihrem Inneren friert sie ständig, sie hat sich daran gewöhnt. Seit sie abgetrieben hat, lässt diese Kälte sie nicht mehr los und als sie ihrer Mutter davon erzählt hat, hat diese nur geantwortet, dass sie mit der Zeit vergehen würde. Die Zeit heilt alle Wunden, doch diese hier würde nicht einmal durch die Zeit geheilt werden. Sie hatte ein Leben ausgelöscht, für welches sie verantwortlich gewesen war und daran würde die Zeit auch nichts ändern.
Plötzlich bemerkt Julia, wie ihr am Ärmel gezupft wird und sie nimmt den kleinen Jungen neben der Bank erst jetzt wahr. Sie sieht ihn an, doch kann sie nicht mehr weinen, sie ist einfach zu erschöpft. Der Junge sieht sie aus seinen großen dunklen Augen an und sie kann ihr Spiegelbild in seinen Augen sehen.
„Du bist traurig, gell?“, fragt sie der Junge und Julia neigt ihren Kopf leicht, kaum merklich, doch der Junge bemerkt es trotzdem, „Wenn du willst, schenk ich dir meinen Zauberstein. Willst du?“
Julia sieht den Jungen verwundert an und sie reibt sich die Augen. Der Junge aber fixiert sie weiterhin mit seinen schönen Augen wartet geduldig.
„Warum solltest du mir deinen wertvollen Zauberstein überlassen?“, fragt Julia dann mit brüchiger Stimme und sie errötet leicht, als sie merkt, wie unhöflich ihre Frage klingen muss. Der Junge scheint ihre Frage aber nicht falsch zu verstehen und kramt in seiner Hosentasche und hält innerhalb weniger Sekunden einen flachen, grauen Stein in der Hand. Julia findet nichts Besonderes an ihm, hütet sich jedoch dies dem Jungen zu sagen.
„Mein Zauberstein hilft, wenn man traurig ist.“, erklärt das Kind. „Ich war oft traurig und hatte Angst, aber meine Mama hat mir gesagt, dass ich nicht alles dem Stein sagen soll, sondern ihr. Du siehst aber sehr traurig aus und ich will ihn dir schenken, dass er dir hilft.“
Julia ist sprachlos von der Aufmerksamkeit des Kindes und nimmt sein Angebot dankend an. Sie verspricht ihm, den Stein gut zu behandeln und ihm ihre Sorgen und ihre Traurigkeit anzuvertrauen. Er winkt ihr zum Abschied und nun wird sich Julia auch der äußeren Kälte bewusst und sie beeilt sich nach Hause zu kommen.

Julia legt den Stein auf ihr Regal, neben die Flasche mit den kleinen Sandkörnern. Ohne es recht zu verstehen, was der Junge in ihr bewirkt hat, hat sie auf dem Nachhauseweg ihren Kummer dem Stein mitgeteilt. Von ihm muss sie keine Widerworte fürchten, er schiebt ihr nicht die Schuld für alles Geschehene in die Schuhe. Sie ist immer noch traurig und voller Schuldgefühle, doch hat ihr der Stein geholfen, nach Vorne zu sehen und in dem ganzen Gespinst aus Selbsthass, Furcht und Verzweiflung eine Zukunft zu sehen.
 



 
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