Der Stürmer - Eine Fußballer-Karriere (R.I.P.)

Aus einer Laune heraus gebe ich seinen Namen bei Google ein und stelle verblüfft fest: Es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel über ihn. Das hat, glaube ich, von uns allen er allein geschafft. Aber dann erschrecke ich: Er ist ja schon tot, im Sommer zehn Jahre tot! Und wie bei vielen älteren Semestern regt sich jetzt auch in mir jenes hässliche Gefühl von Befriedigung darüber, dass es ihn erwischt hat und mich noch nicht. Umso mehr Grund, es rasch mit Empathie zu versuchen: Ach Gott, warum so früh? Er war so sportlich, ein stabiler, kräftiger Kerl! Da stirbt man doch nicht mit fünfundfünfzig … Aber wie stabil war er wirklich?

Ich habe ihn ja kaum gekannt, nur wenig mit ihm geredet. Damals am Gymnasium ging er in die Parallelklasse, mein bester Schulfreund kam aus derselben Straße wie er und sprach oft von ihm. Es war eine Stadtrandsiedlung, sozialer Wohnungsbau. Da wohnten sie zu fünft im vierten Stock, er mit zwei Schwestern und den Eltern. Er spielte schon in der Jugendmannschaft des Bundesligavereins seiner Stadt, alle wussten es, er genoss den Nimbus, den ihm das verschaffte; blieb aber insgesamt zugeknöpft, besonders mir gegenüber. In den Zeitungen war vom schussfesten Mittelstürmer die Rede. Er habe das Zeug, einmal ein richtiger Torjäger zu werden.

Mit siebzehn gab er die Schule auf – und kickte im Jahr darauf in der Bundesliga. Am Gymnasium hatte es nicht geklappt, aber nun vor Zehntausenden auf dem Rasen! Doch nach einer Saison musste die Mannschaft absteigen und er lief noch zwei Jahre eine Etage tiefer für sie auf … und ging dann, Anfang zwanzig jetzt, als Profi ins Ausland … und kam schon nach einem Jahr zurück, war nun jahrelang bei einem Zweitligisten in der Nähe unter Vertrag.

Mitte zwanzig war er, als er seine Trainerlaufbahn begann, zuerst im Verein des Vorortes, in den er gezogen war. Verheiratet war er wohl schon. Er brachte den Verein in die Höhe und sein alter Club, seit Jahren in der Krise, kaufte ihn daraufhin ein, um ein neues Team aufzubauen. Zwei Jahre ging es gut, dann verließ er den Verein mit dem großen Namen von heute auf morgen. Ich krame in alten Zeitungsausschnitten, die ich mir aufgehoben habe … Geld scheint bei dem Bruch eine Rolle gespielt zu haben. Der Trainer klagt über zu wenig Unterstützung beim Aufbau einer Existenz jenseits des Fußballs. Und da gibt es jetzt einen Mäzen, einen Unternehmer aus der Gegend, mit dem hat er gerade verhandelt …

Zwischenfrage: Wovon lebt einer, der für den Fußball lebt, aber nicht wirklich von ihm leben kann? Ich weiß nichts darüber, nichts von einer Berufsausbildung oder von Stellen, die er sonst gehabt hat. Irgendwie wird er sich durchgeschlagen haben.

Zehn Jahre lang taucht er noch mal bei diesem, mal bei jenem Amateurverein als Trainer auf, wird zur „Trainerlegende“, wie es posthum an einer Stelle von ihm heißen wird. Ein Dutzend Jahre vor seinem Tod hört die Internet-Chronologie auf. So viel ich auch recherchiere, diese letzte Zeit bleibt im Dunkeln, war vielleicht wirklich finster für ihn. Und ich stoße auf keinen einzigen Nachruf! Ich forsche und forsche, will wissen, wie er tatsächlich gelebt hat und woran er so früh gestorben ist - vergeblich. Er hat zwar seinen Wikipedia-Artikel bekommen, aber der Privatmensch ist kein Thema. Dafür erfahre ich an vielen anderen Stellen, wann er vor vierzig oder mehr Jahren bei welchem Spiel in welcher Minute ein- oder ausgewechselt wurde – nur ob er Kinder hatte und wo er begraben liegt, das sagt mir das Netz nicht. Er war also nur Fußballer, sonst nichts?

Fotografien? Auf einem Schwarzweißbild, an seiner Seite ein Vereinsfunktionär, ist er Mitte dreißig, für mich leicht wiederzuerkennen. (Ich habe ihn nach der Schule nie mehr gesehen.) Er sieht, wie früher schon, ein bisschen muffelig aus, als fröre ihn am Rand des Spielfelds. Und ähnlich wirkt er auch auf den wenigen anderen Fotos, mal als skeptisch dreinblickender blutjunger Bundesligastürmer, mal als sorgenvoller Trainer neben seinen Buben – immer, so scheint es, seltsam bedrückt.

Mögest du einen sanften Tod gehabt haben.
 



 
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