Der Tag danach

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philomena

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Wie jeden Morgen war er auch heute ins Cafe gegangen - Frühstück und Zeitung. Natürlich hätte er sich auch beides zuhause gönnen können, aber er liebte es nun einmal, an seinem Stammtisch in der hinteren rechten Ecke zu sitzen und hinter dem Schutz des Zeitungsblattes den Gesprächen der anderen Gäste zu lauschen.

Er kam schon seit Jahren hierher. Wenn er erschien, brauchte er seine Bestellung dem Kellner nicht mehr zu sagen. Jeder, der hier bediente, wußte, was er bekam. Das Brötchen mit Schinken und Käse, aber bitte jede Hälfte mit beidem belegt, die Spiegeleier so, dass auch das Gelbe fest war - er hasste diese gelbe Soße auf dem Teller, wenn das Ei nicht lange genug gebraten war - und der ersten Tasse Kaffee folgten zwei weitere nach. Auch ohne Aufforderung.

Gut, dass die Zeitung hier für die Gäste auslag. Sie interessierte ihn nämlich eigentlich überhaupt nicht. Seine Bild hatte er bereits viel früher am Küchentisch bei einer Tasse Instantkaffee gelesen. Damit begann er jeden seiner Tage. Bequem in Schlafanzughose und Unterhemd, die alten Schlappen an den Füßen, die eigentlich schon lange in den Müll gehörten. Einen Becher Kaffee von diesem praktischen Pulver und eben die Zeitung, die ihm alle Informationen gab, die er brauchte. Dabei rauchte er dann auch die Selbstgedrehten, die fertigen Filterzigaretten in seiner Dose mussten immer ein paar Tage halten. Taten sie auch, weil sie ihm nämlich eigentlich nicht schmeckten.

Gegen halb neun allerdings begann sein zweites Leben. Dann wusch und rasierte er sich - eine Dusche oder Badewanne hatte im Bad der kleinen Einzimmerwohnung keinen Platz mehr gefunden - zog seinen guten Anzug an, den einzigen, den er noch hatte, schlüpfte in die blank polierten Schuhe, nahm die leere Aktentasche und verließ durch den Hintereingang das Haus.
So konnte er sich dem Cafe von einer anderen Seite her nähern, und bis heute hatte keiner der Gäste oder Kellner erfahren, dass er von seinem Küchenfenster aus einen direkten Blick hinter die Scheiben des Cafes hatte.

Wie gesagt, die Zeitung interessierte ihn überhaupt nicht, sie diente ihm lediglich als Alibi, um ungestört den Gästen zu lauschen, ohne neugierig zu wirken.

Heute versprach es wieder, interessant zu werden. Denn es war der Freitag nach Altweiber. Bis in die frühen Morgenstunden hatten die Gäste im Cafe gefeiert. Der Geruch nach schalem Bier, nach Schweiß, nach kaltem Zigarettenrauch und zuviel Schminke und Parfüm lag immer noch in der Luft.

Die Bedienung sah übernächtigt aus und stöhnte auch leise vor sich hin. Die Nacht war wohl sehr erfüllend gewesen, vor allem mit viel harten Sachen.

Auch die Stammgäste, die bereits vor ihm da waren, sahen etwas mitgenommen und wesentlich älter aus als gestern abend, als sie aufgekratzt die Lieder mehr oder weniger laut mitgesungen haben.
Eine gedämpfte, leicht wehleidige Stimmung lag über dem Raum. Die einzelnen Worte, die gesprochen wurden, suchten sich einen mühevollen Weg durch geschundene Kehlen.

Aber wie immer und wie er es nicht anders erwartet hatte, begannen nach einiger Zeit die Erinnerungen an den vergangenen Abend hervor zu brechen aus den umnebelten Köpfen.

Er bezeichnete es allerdings nicht als Erinnerung, was da an den Tischen preisgegeben wurde. Für ihn waren es die Bemühungen von Menschen, die für sich und ihr Wohlbefinden mit dem sprachlichen Zeigefinger auf andere zeigen mussten. Sie mussten das Verhalten anderer verurteilen, um vor sich selbst nicht gestehen zu müssen, dass auch sie, oder gerade sie, die Grenzen ihrer Wohlanständigkeit bei weitem überschritten hatten.

Er gönnte sich hinter der Zeitung ein Lächeln, als er die befriedigende Entrüstung und das tugendhafte Unverständnis in den Stimmen der Gäste vernahm, die gestern als erste den Rahmen ihrer eigenen spießbürgerlichen Moral gesprengt hatten.
Sie wußten ja nicht, dass er sie alle kannte, sie alle gesehen hatte, als er hinter seinem dunklen Küchenfenster saß und ungehindert die wilden Szenen im Cafe beobachten konnte.
Er hatte auch ihre schwankenden Schritte gesehen, als sie schließlich doch den Heimweg antraten. Er hatte auch noch den schrillen Klang des Lachens in seinen Ohren behalten, mit denen die Frauen auf die derben Tätscheleien der Männer reagiert hatten.

O ja, er kannte sie alle so gut. Schließlich hatte er sie seit Jahren beobachtet, hatte ihren Gesprächen gelauscht und gelernt, zwischen ihren gesprochenen Worten die Wahrheit zu erkennen. Schließlich lebte er sein Leben durch sie.

Was hatte er denn sonst auch noch? Er kehrte nach den zwei Stunden, die er sich jeden Morgen hier in dem Cafe gönnte, in seine kleine, unordentliche, schlampige Wohnung zurück. Die Aktentasche, die leer sein ständiger Begleiter war, verschwand bis zum nächsten Morgen in dem alten miefigen Kleiderschrank zusammen mit dem guten Anzug und den frisch polierten Schuhen.

Für den Rest des Tages genügten ihm wieder Schlafanzughose, Unterhemd und Schlappen. Der Instantkaffee und die selbstgedrehten Zigaretten machten in dieser armseligen Behausung ebenso Sinn wie seine Einsamkeit.

Sein eigenes Leben hatte vor ein paar Jahren aufgehört, als seine Frau starb.
Jetzt lebte er nur durch das Leben der Gäste im Cafe, wenn er sich mittags hinsetzte und die Gespräche und seine Eindrücke in das alte Schulheft schrieb. Wenn es voll war, würde er es zu den anderen in die Ecke neben seinem Bett legen. Und sich ein neues holen. Um weiter aufzuschreiben. Solange die Gäste ins Cafe kamen und ihm Leben gaben.
 

HansSchnier

Mitglied
Hallo Philomena,

obwohl der Text sich aufgrund seiner sprachlichen Umsetzung gut liest, und man am Ende nicht das Gefühl hat, seine Zeit vertan zu haben, hat es bei mir lange gedauert, bis ich eine gewisse Bindung zum Charakter hatte. Zwischenzeitlich wollte ich sogar aufhören zu lesen. Grund ist, dass deiner Geschichte in meinen Augen ein wenig die Spannung oder eine Pointe fehlt - sie plätschert zu sehr.

Grüße

Hans Schnier
 

philomena

Mitglied
Danke für deinen Kommentar.

Es plätschert, richtig. So wie das Leben für diesen Mann dahin plätschert, spannungs- und pointenlos, ein Leben aus zweiter Hand. Ein Tag wie der andere.
So sollte es auch beim Leser ankommen.

Grüße
philomena
 



 
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