Der Termin

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Thomas Koppe

Mitglied
Der Termin

„Bringen sie bitte viel Zeit mit! Bei uns ist die Hölle los. Zwei, drei Stunden könne es schon dauern, vielleicht auch länger. Am besten, sie nehmen sich an diesem Tag nichts weiter vor. Und kommen sie früh!“
Mit diesen Worten hatte die völlig lustlos und genervt wirkende Dame, die ich vor 6 Wochen anrief, nicht untertrieben.
Als ich die Tür des Wartezimmers vor zwei Stunden in der Hoffnung öffnete, wenigstens einer der Ersten zu sein, schauten mir bereits vierzehn müde Gesichter entgegen. Vor lauter Schreck bekam ich kein grüßendes Wort heraus, setzte mich auf einen freien Plastikstuhl an der Wand und legte meine Jacke ab. Ziemlich deprimiert fragte ich mich, ob die anderen Leute hier wohl übernachtet hatten. Es war doch erst kurz nach sieben Uhr.
Der Tag hatte gerade begonnen und war also schon verloren. Das stand nun mit Sicherheit fest. Nachdem ich mich mit dieser Tatsache einigermaßen abgefunden hatte, erspähte ich einen Tisch am anderen Ende des Zimmers. Hier lag ein großer Haufen mit Zeitschriften und so erhob ich mich mühsam, setzte ein leichtes Lächeln auf und ging hinüber um nach Lesenswertem zu suchen.
Mode, Garten, Kochen, Tratsch. Alles von vorgestern und eklig vergriffen! Nein, für mich war hier nichts dabei und ich schichtete die speckigen Zeitschriften wieder übereinander, drehte mich um und hörte im nächsten Moment, wie der ganze Stapel mit flatterndem Geräusch zu Boden glitt. „Scheiße!“, entfuhr es mir und ich fühlte, wie meine Gesichtsfarbe von Kellerblass zu Tomatenrot wechselte. Es dauerte eine gefühlsmäßige Unendlichkeit, bis ich alles Altpapier wieder an seinen Platz gelegt hatte. Verlegen und nun mit der Gewissheit, von allen Anwesenden als absoluter Vollidiot abgestempelt zu sein, nahm ich schnell noch ein kleines Alibi-Faltblättchen aus einer Pappbox. Dann schlich ich zu meinem Stuhl zurück und sank erschöpft in mich zusammen. Mit letzter Kraft hob ich das Faltblatt vor meine Augen und las: Wenn’s im Bett einschläft. Sprechen Sie mit uns! Toll! Ein Volltreffer, dachte ich und bemerkte, wie mir ein ältere Frau mitleidige Blicke zuwarf, während ein Typ gegenüber sein schiefes Grienen nicht verbergen konnte. Am liebsten hätte ich laut: Es läuft gut! geschrieen, lies es natürlich und sah mir dafür hoch interessiert die vergilbten Wände des Zimmers an. Dabei fiel mein Blick auf ein Plakat, dass von dicken Klebestreifen an seinem Platz gehalten wurde. Darauf stand in roten Buchstaben: Werte Damen und Herren! Bitte haben Sie Verständnis, dass die Reihenfolge der Patienten alleine von medizinischen Aspekten bestimmt wird. Na also, dachte ich bei mir. Es geht doch! Vielleicht komme ich ja doch schon etwas eher dran. Schließlich ging es mir seit Wochen schlecht und meine Schmerzen waren oft nur in der Kneipe zu ertragen.
Im Wartezimmer wurde es während dessen langsam ungemütlich. Jede Luftbewegung fächerte neue, unbeschreibbare Duftnoten durch den Raum und meine Augen fingen aus irgendeinem Grund an zu brennen. Zwar waren bereits acht Leute aufgerufen worden, da aber immer neue Patienten in die Praxis kamen, waren nun auch alle Stühle besetzt. Einzig neben mir war noch ein freier Platz.
Gelangweilt machte ich es mir auf meinem Stuhl, der mir nun seit über zwei Stunden Stiche im Nierenbereich zufügte, so gut wie es ging bequem und schloss meine, nun auch tränenden, Augen. Noch sechs Leute, dann war ich an der Reihe. Es blieb mir also nichts weiter übrig als so wie alle Anwesenden darauf zu warten, dass die Schwester wie die Male zuvor den Kopf zur Tür herein steckte und einen Namen aufrief.
Schon öffnete sich die Tür und ich bemerkte plötzlich, wie meine Haltung eines Neandertalers relativ schnell in eine aufrecht sitzende Position wechselte. Alleine wohl durch genetische Veranlagung richtete ich meine Frisur und als mich dein suchender Blick streifte, fühlte ich mich plötzlich unbeschreiblich gut und vollkommen gesund.
Mit stetem Schritt kamst du auf mich zu und schon vernahm ich deine honigsamte Stimme: „Ist der Platz noch frei?“ „Ja! Ja, natürlich!“, antwortete ich rasch und bemerkte erst jetzt, dass auf dem Stuhl neben mir noch meine Jacke lag. Schnell zog ich sie auf meinen Schoß und du sahst mich mit deinen tiefblauen Meerwasseraugen an. „Dein Faltblatt liegt noch da.“
Nach kurzem Hirntod hörte ich mich flüstern: „Nein, nein, das ist nicht meins.“, nahm es dann aber doch und schob es schnell unter meinen Hintern.
War das toll! Wer hätte gedacht, dass dieser Tag noch so viel Gutes bringen würde. Ich hier. Meine Traumfrau nur zwanzig Zentimeter daneben sitzend und das Beste: Ich hatte alle Zeit der Welt die Sache ins Rollen zu bringen. Noch sechs Leute vor mir. Was, nur noch sechs Leute? Vielleicht anderthalb Stunden. So viel Zeit war ja nun doch nicht mehr. Ich musste Dich unbedingt ansprechen und nachdem ich mir einen klangvollen Satz zurechtgelegt hatte, tat ich dies auch. „Voll hier, hm?“
Na wunderbar, das war ja ein toller Auftritt, zischte es mir durch das Hirn und ohne Hoffnung darauf, eine Antwort zu bekommen, legte mein Mund nach. „Seit 3 Stunden hier, heiße Jacob.“ Nein, auch das war wohl kein Satz fürs Poesiealbum. Während ich mich über meine sprachlichen Unfähigkeiten ärgerte, erklang plötzlich deine Stimme: „Freut mich, ich bin Katrin.“
Das war’s. Ich hatte es geschafft! Das Eis war gebrochen. Nun lag mir die Welt zu Füßen. Ich würde dich einladen. Vielleicht zum Kaffee, besser zum Abendessen. Ich musste mich beeilen. Die Patienten sieben, acht und neun wurden nun recht zügig aufgerufen. Vielleicht noch 30 bis 40 Minuten, dann wäre meine Zeit abgelaufen und so nahm ich allen Mut zusammen, holte Luft und sagte: „Katrin.“
Weiter kam ich nicht, denn im selben Moment steckte die Schwester ihren Kopf in den Raum und rief: „Frau Schneider bitte. Mit einem „Ja.“ standst du auf und gingst zur Tür. Dann warst du fort.
Fünf Minuten später fand sich in meinem Hirn wohl so viel Sauerstoff, dass ich die Räumlichkeit in der ich mich befand erkannte. „Katrin!“, entglitt es mir und eine ältere Frau, die sich in der Zwischenzeit auf den freien Stuhl neben mir gesetzt hatte sagte: „Nein, ich heiße Ursula.“
Ursula erzählte mir in den nächsten 50 Minuten aus ihrem ganzen Leben. Zwischendurch schimpfte sie über die lange Wartezeit und beklagte, dass sie nicht privat versichert sei. Dann wäre sie schon längst wieder zu hause. So Ungerecht wäre das. Was ich dazu sagen würde, fragte sie. „Ja, ungerecht.“
Ich saß nun schon 4 Stunden auf einem Plastikstuhl. Der letzte der 14 Leute, die vor mir an der Reihe waren, war vor 30 Minuten aufgerufen worden. Inzwischen waren auch schon drei Patienten, die nach mir kamen, an der Reihe. Nein, es reichte. Ganz langsam erhob ich mich von meinem Platz und humpelte mit eingeschlafenem Fuß zur Tür. Als ich die Klinke in die Hand nahm, rief Ursula: „Junger Mann. Ihr Faltblatt! Junger Mann!“
Während ich die Tür der Arztpraxis schloss und auf der Straße tief Luft holte, sah ich dein Gesicht hinter der Scheibe eines Linienbusses.
„Ja!“, sagte ich leise. „Ungerecht!“
 

Retep

Mitglied
Morgen Thomas,

finde deinen Text flüssig geschrieben und habe mich amüsiert.
Besonders hat mir gefallen, dass das "Faltblatt" immer mal wieder erwähnt wurde.

Gruß

Retep
 

Thomas Koppe

Mitglied
Morgen Retep,

vielen Dank fürs Lesen und den Kommentar.
Freu ich mich drüber. Ist meine erste kurze Geschichte und will da gerne ansetzen.
Beste Grüße
Thomas
 

Thomas Koppe

Mitglied
Der Termin

„Bringen sie bitte viel Zeit mit! Bei uns ist die Hölle los. Zwei, drei Stunden könne es schon dauern, vielleicht auch länger. Am besten, sie nehmen sich an diesem Tag nichts weiter vor. Und kommen sie früh!“
Mit diesen Worten hatte die völlig lustlos und genervt wirkende Dame, die ich vor sechs Wochen anrief, nicht untertrieben.
Als ich die Tür des Wartezimmers vor zwei Stunden in der Hoffnung öffnete, wenigstens einer der Ersten zu sein, schauten mir bereits vierzehn müde Gesichter entgegen. Vor lauter Schreck bekam ich kein grüßendes Wort heraus, setzte mich auf einen freien Plastikstuhl an der Wand und legte meine Jacke ab. Ziemlich deprimiert fragte ich mich, ob die anderen Leute hier wohl übernachtet hatten. Es war doch erst kurz nach sieben Uhr.
Der Tag hatte gerade begonnen und war also schon verloren. Das stand nun mit Sicherheit fest. Nachdem ich mich mit dieser Tatsache einigermaßen abgefunden hatte, erspähte ich einen Tisch am anderen Ende des Zimmers. Hier lag ein großer Haufen mit Zeitschriften und so erhob ich mich mühsam, setzte ein leichtes Lächeln auf und ging hinüber um nach Lesenswertem zu suchen.
Mode, Garten, Kochen, Tratsch. Alles von vorgestern und eklig vergriffen! Nein, für mich war hier nichts dabei und so schichtete ich die speckigen Zeitschriften wieder übereinander, drehte mich um und hörte im nächsten Moment, wie der ganze Stapel mit flatterndem Geräusch zu Boden glitt. „Scheiße!“, entfuhr es mir und ich spürte, wie meine Gesichtsfarbe von Kellerblass zu Tomatenrot wechselte. Es dauerte eine gefühlsmäßige Unendlichkeit, bis ich alles Altpapier wieder an seinen Platz gelegt hatte. Verlegen und nun mit der Gewissheit, von allen Anwesenden als absoluter Vollidiot abgestempelt zu sein, nahm ich schnell noch ein kleines Alibi-Faltblättchen aus einer Pappbox. Dann schlich ich zu meinem Stuhl zurück und sank erschöpft in mich zusammen. Mit letzter Kraft hob ich das Faltblatt vor meine Augen und las: Wenn’s im Bett einschläft. Sprechen Sie mit uns! Toll! Ein Volltreffer, dachte ich und bemerkte, wie mir eine ältere Frau mitleidige Blicke zuwarf, während ein Typ gegenüber sein schiefes Grienen nicht verbergen konnte. Am liebsten hätte ich laut: Es läuft gut! geschrien, lies es natürlich und sah mir dafür hoch interessiert die vergilbten Wände des Zimmers an. Dabei fiel mein Blick auf ein Plakat, dass von dicken Klebestreifen an seinem Platz gehalten wurde. Darauf stand in roten Buchstaben: Werte Damen und Herren! Bitte haben Sie Verständnis, dass die Reihenfolge der Patienten alleine von medizinischen Aspekten bestimmt wird. Na also, dachte ich bei mir. Es geht doch! Vielleicht komme ich ja doch schon etwas eher dran. Schließlich ging es mir seit Wochen schlecht und meine Schmerzen waren oft nur in der Kneipe zu ertragen.
Im Wartezimmer wurde es während dessen langsam ungemütlich. Jede Luftbewegung fächerte neue, unbeschreibbare Duftnoten durch den Raum und meine Augen fingen aus irgendeinem Grund an zu brennen. Zwar waren bereits acht Leute aufgerufen worden, da aber immer neue Patienten in die Praxis kamen, waren nun auch alle Stühle besetzt. Einzig neben mir war noch ein freier Platz.
Gelangweilt machte ich es mir auf meinem Stuhl, der mir nun seit über zwei Stunden Stiche im Nierenbereich zufügte, so gut wie es ging bequem und schloss meine, nun auch tränenden, Augen. Noch sechs Leute, dann war ich an der Reihe. Es blieb mir also nichts weiter übrig, als so wie alle Anwesenden darauf zu warten, dass die Schwester wie die Male zuvor den Kopf zur Tür herein steckte und einen Namen aufrief.
Schon öffnete sich die Tür und ich bemerkte plötzlich, wie meine Haltung eines Neandertalers relativ schnell in eine aufrecht sitzende Position wechselte. Alleine wohl durch genetische Veranlagung richtete ich meine Frisur und als mich dein suchender Blick streifte, fühlte ich mich plötzlich unbeschreiblich gut und vollkommen gesund.
Mit stetem Schritt kamst du auf mich zu und schon vernahm ich deine honigsamte Stimme: „Ist der Platz noch frei?“ „Ja! Ja, natürlich!“, antwortete ich rasch und bemerkte erst jetzt, dass auf dem Stuhl neben mir noch meine Jacke lag. Schnell zog ich sie auf meinen Schoß und du sahst mich mit deinen tiefblauen Meerwasseraugen an. „Dein Faltblatt liegt noch da.“
Nach kurzem Hirntod hörte ich mich flüstern: „Nein, nein, das ist nicht meins.“, nahm es dann aber doch und schob es schnell unter meinen Hintern.
War das toll! Wer hätte gedacht, dass dieser Tag noch so viel Gutes bringen würde. Ich hier. Meine Traumfrau nur zwanzig Zentimeter daneben sitzend und das Beste: Ich hatte alle Zeit der Welt die Sache ins Rollen zu bringen. Noch sechs Leute vor mir. Was, nur noch sechs Leute? Vielleicht anderthalb Stunden. So viel Zeit war ja nun doch nicht mehr. Ich musste Dich unbedingt ansprechen und nachdem ich mir einen klangvollen Satz zurechtgelegt hatte, tat ich dies auch. „Voll hier, hm?“
Na wunderbar, das war ja ein toller Auftritt, zischte es mir durch den Kopf und ohne Hoffnung darauf, eine Antwort zu bekommen, legte mein Mund nach. „Seit drei Stunden hier, heiße Jacob.“ Nein, auch das war wohl kein Satz fürs Poesiealbum. Während ich mich über meine sprachlichen Unfähigkeiten ärgerte, erklang plötzlich deine Stimme: „Freut mich, ich bin Katrin.“
Das war’s. Ich hatte es geschafft! Das Eis war gebrochen. Nun lag mir die Welt zu Füßen. Ich würde dich einladen. Vielleicht zum Kaffee, besser zum Abendessen. Ich musste mich beeilen. Die Patienten sieben, acht und neun wurden nun recht zügig aufgerufen. Vielleicht noch dreißig bis vierzig Minuten, dann wäre meine Zeit abgelaufen und so nahm ich allen Mut zusammen, holte Luft und sagte: „Katrin.“
Weiter kam ich nicht, denn im selben Moment steckte die Schwester ihren Kopf in den Raum und rief: „Frau Schneider bitte. Mit einem „Ja.“ standst du auf und gingst zur Tür. Dann warst du fort.
Fünf Minuten später fand sich in meinem Hirn wohl so viel Sauerstoff, dass ich die Räumlichkeit in der ich mich befand erkannte. „Katrin!“, entglitt es mir und eine ältere Frau, die sich in der Zwischenzeit auf den freien Stuhl neben mir gesetzt hatte sagte: „Nein, ich heiße Ursula.“
Ursula erzählte mir in den nächsten fünfzig Minuten aus ihrem ganzen Leben. Zwischendurch schimpfte sie über die lange Wartezeit und beklagte, dass sie nicht privat versichert sei. Dann wäre sie schon längst wieder zu hause. So ungerecht wäre das. Was ich dazu sagen würde, fragte sie. „Ja, ungerecht.“
Ich saß nun schon vier Stunden auf einem Plastikstuhl. Der letzte der vierzehn Leute, die vor mir an der Reihe waren, war vor dreißig Minuten aufgerufen worden. Inzwischen waren auch schon drei Patienten, die an diesem Morgen nach mir das Wartezimmer betreten hatten, an die Reihe gekommen. Nein, es reichte. Ganz langsam erhob ich mich von meinem Platz und humpelte mit eingeschlafenem Fuß zur Tür. Als ich die Klinke in die Hand nahm, rief Ursula: „Junger Mann. Ihr Faltblatt! Junger Mann!“
Während ich die Tür der Arztpraxis schloss und auf der Straße tief Luft holte, sah ich dein Gesicht hinter der Scheibe eines Linienbusses.
„Ja!“, sagte ich leise. „Ungerecht!“



© Thomas Koppe, 2009
 

Thomas Koppe

Mitglied
Der Termin

„Bringen sie bitte viel Zeit mit! Bei uns ist die Hölle los. Zwei, drei Stunden könne es schon dauern, vielleicht auch länger. Am besten, sie nehmen sich an diesem Tag nichts weiter vor. Und kommen sie früh!“
Mit diesen Worten hatte die völlig lustlos und genervt wirkende Dame, die ich vor sechs Wochen anrief, nicht untertrieben.
Als ich die Tür des Wartezimmers vor zwei Stunden in der Hoffnung öffnete, wenigstens einer der Ersten zu sein, schauten mir bereits vierzehn müde Gesichter entgegen. Vor lauter Schreck bekam ich kein grüßendes Wort heraus, setzte mich auf einen freien Plastikstuhl an der Wand und legte meine Jacke ab. Ziemlich deprimiert fragte ich mich, ob die anderen Leute hier wohl übernachtet hatten. Es war doch erst kurz nach sieben Uhr.
Der Tag hatte gerade begonnen und war also schon verloren. Das stand nun mit Sicherheit fest. Nachdem ich mich mit dieser Tatsache einigermaßen abgefunden hatte, erspähte ich einen Tisch am anderen Ende des Zimmers. Hier lag ein großer Haufen mit Zeitschriften und so erhob ich mich mühsam, setzte ein leichtes Lächeln auf und ging hinüber um nach Lesenswertem zu suchen.
Mode, Garten, Kochen, Tratsch. Alles von vorgestern und eklig vergriffen! Nein, für mich war hier nichts dabei und so schichtete ich die speckigen Zeitschriften wieder übereinander, drehte mich um und hörte im nächsten Moment, wie der ganze Stapel mit flatterndem Geräusch zu Boden glitt. „Scheiße!“, entfuhr es mir und ich spürte, wie meine Gesichtsfarbe von Kellerblass zu Tomatenrot wechselte. Es dauerte eine gefühlsmäßige Unendlichkeit, bis ich alles Altpapier wieder an seinen Platz gelegt hatte. Verlegen und nun mit der Gewissheit, von allen Anwesenden als absoluter Vollidiot abgestempelt zu sein, nahm ich schnell noch ein kleines Alibi-Faltblättchen aus einer Pappbox. Dann schlich ich zu meinem Stuhl zurück und sank erschöpft in mich zusammen. Mit letzter Kraft hob ich das Faltblatt vor meine Augen und las: Wenn’s im Bett einschläft. Sprechen Sie mit uns! Toll! Ein Volltreffer, dachte ich und bemerkte, wie mir eine ältere Frau mitleidige Blicke zuwarf, während ein Typ gegenüber sein schiefes Grienen nicht verbergen konnte. Am liebsten hätte ich laut: Es läuft gut! geschrien, lies es natürlich und sah mir dafür hoch interessiert die vergilbten Wände des Zimmers an. Dabei fiel mein Blick auf ein Plakat, dass von dicken Klebestreifen an seinem Platz gehalten wurde. Darauf stand in roten Buchstaben: Werte Damen und Herren! Bitte haben Sie Verständnis, dass die Reihenfolge der Patienten alleine von medizinischen Aspekten bestimmt wird. Na also, dachte ich bei mir. Es geht doch! Vielleicht komme ich ja doch schon etwas eher dran. Schließlich ging es mir seit Wochen schlecht und meine Schmerzen waren oft nur in der Kneipe zu ertragen.
Im Wartezimmer wurde es während dessen langsam ungemütlich. Jede Luftbewegung fächerte neue, unbeschreibbare Duftnoten durch den Raum und meine Augen fingen aus irgendeinem Grund an zu brennen. Zwar waren bereits acht Leute aufgerufen worden, da aber immer neue Patienten in die Praxis kamen, waren nun auch alle Stühle besetzt. Einzig neben mir war noch ein freier Platz.
Gelangweilt machte ich es mir auf meinem Stuhl, der mir nun seit über zwei Stunden Stiche im Nierenbereich zufügte, so gut wie es ging bequem und schloss meine, nun auch tränenden, Augen. Noch sechs Leute, dann war ich an der Reihe. Es blieb mir also nichts weiter übrig, als so wie alle Anwesenden darauf zu warten, dass die Schwester wie die Male zuvor den Kopf zur Tür herein steckte und einen Namen aufrief.
Schon öffnete sich die Tür und ich bemerkte plötzlich, wie meine Haltung eines Neandertalers relativ schnell in eine aufrecht sitzende Position wechselte. Alleine wohl durch genetische Veranlagung richtete ich meine Frisur und als mich dein suchender Blick streifte, fühlte ich mich plötzlich unbeschreiblich gut und vollkommen gesund.
Mit stetem Schritt kamst du auf mich zu und schon vernahm ich deine honigsamte Stimme: „Ist der Platz noch frei?“ „Ja! Ja, natürlich!“, antwortete ich rasch und bemerkte erst jetzt, dass auf dem Stuhl neben mir noch meine Jacke lag. Schnell zog ich sie auf meinen Schoß und du sahst mich mit deinen tiefblauen Meerwasseraugen an. „Dein Faltblatt liegt noch da.“
Nach kurzem Hirntod hörte ich mich flüstern: „Nein, nein, das ist nicht meins.“, nahm es dann aber doch und schob es schnell unter meinen Hintern.
War das toll! Wer hätte gedacht, dass dieser Tag noch so viel Gutes bringen würde. Ich hier. Meine Traumfrau nur zwanzig Zentimeter daneben sitzend und das Beste: Ich hatte alle Zeit der Welt die Sache ins Rollen zu bringen. Noch sechs Leute vor mir. Was, nur noch sechs Leute? Vielleicht anderthalb Stunden. So viel Zeit war ja nun doch nicht mehr. Ich musste Dich unbedingt ansprechen und nachdem ich mir einen klangvollen Satz zurechtgelegt hatte, tat ich dies auch. „Voll hier, hm?“
Na wunderbar, das war ja ein toller Auftritt, zischte es mir durch den Kopf und ohne Hoffnung darauf, eine Antwort zu bekommen, legte mein Mund nach. „Seit drei Stunden hier, heiße Jacob.“ Nein, auch das war wohl kein Satz fürs Poesiealbum. Während ich mich über meine sprachlichen Unfähigkeiten ärgerte, erklang plötzlich deine Stimme: „Freut mich, ich bin Katrin.“
Das war’s. Ich hatte es geschafft! Das Eis war gebrochen. Nun lag mir die Welt zu Füßen. Ich würde dich einladen. Vielleicht zum Kaffee, besser zum Abendessen. Ich musste mich beeilen. Die Patienten sieben, acht und neun wurden nun recht zügig aufgerufen. Vielleicht noch dreißig bis vierzig Minuten, dann wäre meine Zeit abgelaufen und so nahm ich allen Mut zusammen, holte Luft und sagte: „Katrin.“
Weiter kam ich nicht, denn im selben Moment steckte die Schwester ihren Kopf in den Raum und rief: „Frau Schneider bitte. Mit einem „Ja.“ standst du auf und gingst zur Tür. Dann warst du fort.
Fünf Minuten später fand sich in meinem Hirn wohl so viel Sauerstoff, dass ich die Räumlichkeit in der ich mich befand erkannte. „Katrin!“, entglitt es mir und eine ältere Frau, die sich in der Zwischenzeit auf den freien Stuhl neben mir gesetzt hatte sagte: „Nein, ich heiße Ursula.“
Ursula erzählte mir in den nächsten fünfzig Minuten aus ihrem ganzen Leben. Zwischendurch schimpfte sie über die lange Wartezeit und beklagte, dass sie nicht privat versichert sei. Dann wäre sie schon längst wieder zu hause. So ungerecht wäre das. Was ich dazu sagen würde, fragte sie. „Ja, ungerecht.“
Ich saß nun schon vier Stunden auf einem Plastikstuhl. Der letzte der vierzehn Leute, die vor mir an der Reihe waren, war vor dreißig Minuten aufgerufen worden. Inzwischen waren auch schon drei Patienten, die an diesem Morgen nach mir das Wartezimmer betreten hatten, an die Reihe gekommen. Nein, es reichte. Ganz langsam erhob ich mich von meinem Platz und humpelte mit eingeschlafenem Fuß zur Tür. Als ich die Klinke in die Hand nahm, rief Ursula: „Junger Mann. Ihr Faltblatt! Junger Mann!“
Während ich die Tür der Arztpraxis schloss und auf der Straße tief Luft holte, sah ich dein Gesicht hinter der Scheibe eines Linienbusses.
„Ja!“, sagte ich leise. „Ungerecht!“



© Thomas Koppe, 2009
 



 
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