Der Trollstein

Der Trollstein
Ich weiß nicht, ob ihr schon einmal gehört habt, dass Trolle ausgesprochen wasserscheue Wesen sind. Dafür gibt es einen guten Grund, denn wenn ein Troll mit einer größeren Menge Wasser in Berührung kommt, erstarrt er kurzerhand zu Stein. Ihr solltet euch also nicht wundern, wenn ihr nach einem heftigen Regenschauer einen Waldspaziergang macht, euch für eine kleine Rast auf einen dicken Stein setzt und sich dieser plötzlich unter euch davon macht und ihr euch im Gras liegend wiederfindet. Ihr könnt euch vorstellen, dass so etwas für die Trolle sehr lästig ist. Ein kleiner Nieselregen ist noch nicht so schlimm, aber bei einem ordentlichen Herbstregen bleiben sie doch lieber in ihren Höhlen, zünden sich ein wärmendes Feuerchen an und erzählen Geschichten. Eine dieser Geschichten ist bei den kleinen neugierigen Trollkindern besonders beliebt, denn sie handelt von einem ebensolchen neugierigen kleinen Trollkind. Und diese Geschichte will ich euch nun erzählen, denn ich habe mir sagen lassen, dass auch Menschenkinder an trüben Regentagen gerne in ihren Häuserhöhlen bleiben und Geschichten hören.

Vor vielen Jahren, als die Trolle und andere Zauberwesen noch zahlreich waren, lebte im Nebelwald eine kleine Trollfamilie. Sie bestand aus dem Trollvater, der Trollmutter und ihrem Sohn namens Rump. Rump war ein aufgeweckter kleiner Kerl, der seine knubbelige Nase bevorzugt in Angelegenheiten steckte, die ihn nichts angingen und immer auf das nächste Abenteuer wartete. So hatte er sich schon häufiger in größere und kleinere Schwierigkeiten und seine Eltern an den Rand der Verzweiflung gebracht. Vor einer Sache hatten Rumps Eltern ihren Sohn allerdings bisher bewahren können – dass er nass und zu Stein wurde. Und dies war ihnen gelungen, obwohl sich nicht weit von ihrer Höhle ein größerer Fluss befand. Doch achteten sie peinlichst darauf, dass Rump sich nicht in die Nähe des Flusses wagte. Um ihn davon abzuhalten, erzählten sie ihm die schaurigsten Geschichten von Wassermonstern, die bevorzugt kleine Trolle verspeisten, wenn diese sich auch nur in die Nähe des reißenden Gewässers wagten und von Riesenwölfen, die ihre liebste Trinkstelle am Ufer des Flusses hätten. Bisher hatten diese furchtbaren Geschichten als Abschreckungsmanöver sehr gut funktioniert, doch wenn die besorgten Eltern ein wenig mehr nachgedacht hätten, dann wären sie vielleicht auf die Idee gekommen, dass solche Geschichten ein abenteuerlustiges Kind wie ihren Sohn nicht lange von der Gefahr fern halten konnten. Im Gegenteil. Und tatsächlich – auch wenn vermeintliche Wassermonster und Riesenwölfe den kleinen Rump bisher von dem Fluss fern gehalten hatten, so machten sie ihn doch zugleich sehr neugierig. „Ich würde doch zu gerne einmal so ein Wassermonster sehen oder einen Riesenwolf!“, dachte er immer häufiger im Stillen, wenn seine Eltern ihm einmal wieder diese Gestalten in den lebhaftesten Worten beschrieben hatten. „Wenn ich mich ganz, ganz vorsichtig an den Fluss schleiche, dann wird mich doch sicher kein Monster und kein Wolf bemerken. Ich will sie doch auch nur aus der Ferne ein ganz kleines bisschen beobachten.“ Und so kam es, dass Rump sich an einem schönen Sommertag davon schlich, um sich an den Fluss zu begeben. Er versteckte sich zunächst hinter einer Gruppe dicht beieinander stehender Bäume und lugte durch die Zweige. Doch nachdem er eine gefühlte Ewigkeit im Dickicht ausgeharrt und den Fluss beobachtet hatte, wagte er sich immer näher an das Gewässer heran. Da er immer noch keine Wassermonster oder Riesenwölfe sehen konnte, wurde er immer mutiger und begab sich zuletzt ganz an das Ufer. Er starrte in das klare Wasser, doch alles, was er sehen konnte waren kleine Fische. Enttäuscht setzte sich Rump ins Gras. Langsam kam ihm der Gedanke, dass die Geschichten, die seine Eltern ihm erzählt hatten, nicht der Wahrheit entsprachen. Kein Wunder, dass die anderen Trollkinder noch nie etwas von den Wassermonstern und den Riesenwölfen gehört hatten. Was hatten sich seine Eltern nur gedacht! Hielten sie ihn denn wirklich für so dumm oder ungeschickt, dass der blöde Fluss ihm gefährlich werden könnte? Wenn er wollte, dann könnte er sich mit Sicherheit sogar von Stein zu Stein springend an das andere Ufer bewegen, ohne dass auch nur ein Zeh das Wasser berührte und versteinerte. Und schon hüpfte Rump auf einen großen Stein der in Ufernähe aus dem Wasser ragte. Das war einfach und machte Spaß. Und so hüpfte er auf den nächsten Stein. Ein Kinderspiel. Doch der dritte Stein war mit glitschigem Moos überzogen und als Rump nach einem großen Hüpfer darauf landete, glitt er aus und fiel ohne die geringste Möglichkeit sich noch halten zu können ins Wasser und wurde sofort zu Stein. Dort lag nun das kleine Trollkind im Flussbett, direkt zwischen zwei anderen großen Steinen ragte er rund und grau aus der Wasseroberfläche. Und da er mitten im Fluss lag, gab es für ihn keine Möglichkeit, wieder trocken zu werden und so seine alte Gestalt zurück zu erlangen. So lag er dort, konnte sich nicht rühren und fror und hoffte, dass ihn alsbald jemand finden, erkennen und ins Trockene holen möge.

Und nun, was soll ich euch es länger verschweigen, gefunden wurde er. Allerdings nicht von seinen Eltern oder anderen Trollen. Wie der Zufall es wollte kamen ein paar Soldaten der Zauberin Yaruta am Flussufer entlang. Die Zauberin Yaruta verfolgte einen bösen Plan. Sie war sehr eifersüchtig auf ihre Schwester Yelva, die zu dieser Zeit die Herrschaft über den Nebelwald innehatte. Und so hatte sich Yaruta der finsteren Magie verschrieben und die dunklen Bücher studiert, um einen Weg zu finden, ihre Schwester vom Thron zu stoßen. Nun war sie gerade auf den richtigen Zauber gestoßen, doch fehlte ihr zu dieser Ausführung noch eine einzige Sache. Die Soldaten waren ausgesandt worden, um genau diese Sache zu finden und ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn sie bis Mitternacht dieses Tages nicht erfolgreich zurückkehrten, dann wäre das Zeitfenster für den Zauber geschlossen. Und jedem war klar, wen dann der Zorn der bösen Zauberin treffen würde. Die Soldaten schritten also das Flussufer ab und blickten angestrengt nach links und rechts suchend auf den Boden. „Dort! Seht nur! Im Fluss. Dort ist einer!“, rief plötzlich einer der Soldaten. „Ja, du hast recht. Er könnte der Richtige sein“, meinte ein anderer. Der kleine Troll, der alles hörte, sich ja aber nicht rühren konnte fragte sich, ob sie ihn meinten. Doch sah er auch, dass es wohl keine Trolle waren, die da ins Wasser schritten. Und wenn es keine Trolle waren, wie könnten sie ihn da erkannt haben? Ein Troll kann einen versteinerten Troll erkennen, aber einem anderen Wesen ist dies kaum möglich. Doch tatsächlich, da merkte er, wie er unter Ächzen und Schnaufen angehoben und aus dem Wasser gehievt wurde. „Ein ganz ordentlicher Brocken“, stöhnte einer der Männer. „Ja, aber er könnte die richtige Größe haben“, brachte ein anderer unter Anstrengung hervor. „Wollen wir es hoffen, denn wenn wir wieder mit leeren Händen zurückkehren, dann wird es uns schlecht ergehen!“ Unsanft wurde der kleine Troll am Ufer ins Gras fallen gelassen. Ihm war sehr mulmig zumute, denn auch wenn er sich freute, dass er bald wieder seine eigentliche Gestalt annehmen würde, so wusste er noch immer nicht, wer ihn da gefunden hatte. Seine Eltern hätten kaum Menschenwesen auf die Suche nach ihm geschickt. Menschen und Trolle hatten für gewöhnlich nicht viel miteinander zu tun. So hing Rump seinen Gedanken nach, als er auf ein grobes Tuch gerollt wurde, von dem nun jeder der vier Männer einen Zipfel griff, damit sie auf diese Weise mit vereinter Kraft den großen Stein besser tragen konnten. Langsam setzen sie sich in Bewegung, gingen zunächst ein Stück weiter am Flussufer entlang, doch folgten alsbald einem schmalen Pfad, der zunächst in den Wald und dann raus auf freies steiniges Gelände führte. So weit war Rump noch nie von zu Hause fort gewesen und seine Angst wurde immer größer und wären die Soldaten etwas aufmerksamer gewesen, dann hätten sie bemerkt, dass aus dem Stein ein paar dicke Tropfen quollen. Das waren die Trolltränen, die Rump vergoss. Er fragte sich, wo man ihn hinbrachte und warum. Auf der einen Seite wünschte er sich, dass er schnell trocknen möge, damit er wieder nach Hause laufen könnte, auf der anderen Seite war er froh, dass der Fluss ihn und seine Kleidung so durchnässt hatte, dass er seine wahre Gestalt noch nicht wiedererlangt hatte, denn vor dem, was die finster wirkenden Männer mit ihm anstellen würden, wenn er wieder er selbst wäre fürchtete er sich fast noch mehr, als vor dem, was sie mit seiner Steingestalt vorhaben könnten. Vielleicht brauchten sie einfach einen großen Findling, den sie in eine Mauer einbauen könnten. Aber wenn er wieder ein Troll würde – er hatte gehört, manche Menschen böten viel Gold für magische Geschöpfe, sperrten sie in Käfige und freuten sich einfach darüber, sie zu sammeln und zu besitzen. Wie Rump so über all das schreckliche nachdachte, was passieren könnte, merkte er zunächst gar nicht, dass der Weg immer steiniger wurde und die Männer ihn inzwischen einen steilen Pfad bergauf schleppten.

Mittlerweile war es bereits dunkel geworden und die Soldaten kamen noch mühseliger voran. Immer einmal wieder geriet einer ins Stolpern und fluchte laut. Das riss den kleinen Troll schließlich aus seinen Gedanken. „Wollen wir nicht eine kleine Pause einlegen?“, hörte er einen der Männer fragen. „Bist du des Wahnsinns?“, fuhr ihn der Soldat mit der knurrenden Stimme an, in dem Rump den Anführer des kleinen Trupps vermutete. Wir haben noch den schlimmsten Teil des Aufstiegs vor uns und die Zeit vergeht schnell. Wenn wir uns nicht beeilen, kannst du sehr bald eine sehr lange Pause einlegen: in den Kerkern unter der Burg bei Wasser und Brot gemeinsam mit den Ratten! Wenn Du Glück hast und sie nicht Dich in eine Ratte verwandelt!“ Für den Rest des Aufstiegs sagte keiner der Männer mehr ein Wort. Und Rump hörte nur ihr Schnaufen. Der Mond stand inzwischen hell und klar am Himmel. Die Nacht war wolkenlos und so konnte Rump das Ziel der Reise vor ihnen liegen sehen. Auf der Höhe ragte eine mächtige Burg auf. Schmale Türme aus grobem Stein streckten sich in das Schwarz der Nacht. Nun ahnte Rump von wem die Männer gesprochen hatten. Dies war die Festung der Zauberin Yaruta, von der die Alten nur hinter vorgehaltener Hand flüsterten. Doch was wollte Yaruta mit ihm? Als Stein für die Mauern der Burg würde er wohl kaum dienen. Diese waren aus Drachenfels gebaut. Einem dunklen Gestein, dass tief in der Erde in den Drachenhöhlen zu finden war, gehärtet durch das heißeste Feuer trotze es allen Gefahren. So zumindest hieß es in den Legenden. Die Festung sollte bereits seit Jahrtausenden stehen, König Remian, der auch der Drachenkönig genannt wurde, weil er in seiner Jugend einen der seltenen Schwarzdrachen gezähmt hatte, ließ sie einst von Riesen errichten. Remian war als weiser und gerechter Herrscher bekannt gewesen. Doch war er auch furchtsam vor Feinden und so hatte er den abgeschiedenen Ort und das seltsame Gestein für seine Behausung gewählt und sich immer mehr zurückgezogen. Der finstere Berg und die eisige Kälte des Drachensteins hätten sich in sein Herz geschlichen hieß es und vor lauter Angst vor möglichen Feinden hätte der einst beliebte Herrscher schließlich keine Freunde mehr gehabt und als Remians Ende kam, gab es niemanden mehr, der um ihn trauerte. Seither galt die Burg Drachenfels als unglückseliger Ort, der Freude fernhielt und das Unglück anzog. Rump fröstelte. Sie erreichten das Burgtor und die Wachen ließen die Soldaten und ihr Gepäck wortlos passieren. Mit letzter Kraft schleppten die Soldaten Rump über den großen Burghof und hievten ihn eine steile Treppe hinauf in eine große Halle, die erleuchtet war von hunderten Kerzen. Unsanft setzten die Männer Rump auf dem Boden ab. „Wir haben ihn, Herrin.“ „Das wurde aber auch Zeit“, hörte Rump eine herrische Stimme durch den Raum gellen und aus einer düsteren Ecke im hintersten Winkel der Halle schritt Yaruta hervor. Der feste Stoff ihres weiten Gewandes rauschte und für einen Moment vergaß Rump seine Angst und verfiel in ungläubiges Staunen. Er hatte sich immer eine hässliche alte Hexe vorgestellt, wenn er von Yaruta hatte sagen hören. Doch eine schöne Frau schritt auf ihn zu und lächelte ihn an. „Ja“, sagte sie. „Das ist er.“ Yaruta stand nun ganz dicht vor ihm und Rump fragte sich, ob sie wohl doch seine wahre Gestalt erkannte. Immerhin war sie eine mächtige Zauberin. Und da kroch auch die Angst wieder durch seine versteinerten Knochen. Denn in diesem Moment merkte Rump, dass er langsam trocknete. Schon konnte er seine Fingerspitzen wieder spüren. Doch jetzt, nein jetzt wollte er kein Troll werden, wenn nur die geringste Möglichkeit bestand, dass Yaruta ihn für einen Stein hielt, dann wollte er noch ein Stein bleiben, denn wenn normal sterbliche Menschen schon schlimme Dinge mit magischen Wesen anstellten, dann wollte sich Rump nicht ausmalen, was eine böse Zauberin mit ihm tun würde. „Genau er hat mir noch gefehlt“, sagte Yaruta leise lächelnd. Dann – von einem Moment auf den anderen verschwand ihr Lächeln und ihr Gesicht erschien hart und kalt wie der Drachenfels. „Bringt ihn in die Mitte!“, ertönte nun ihre herrische Stimme. Seufzend hoben die die Soldaten Rump erneut mit dem Tuch an. „Nein, nein, ohne das Tuch!“ Yaruta kreischte nun ungeduldig. „Und beeilt Euch! Die Zeit ist bald abgelaufen. Das Fenster schließt sich und dann ist alles vorbei.“ Die letzten Worte hatte sie ganz leise gesprochen. Rump wurde gepackt und weiter in die Halle getragen. Inzwischen konnte er schon seine Füße wieder spüren. Und auch seine Nasenspitze. Wenn er gewollt hätte, hätte er sogar schon seinen Mund öffnen können, doch er machte sich ganz steif. Noch immer hoffte er, dass Yaruta ihn in seiner Steingestalt brauchte, denn was könnte man einem Stein schon anhaben? Im Schein der Kerzen sah Rump nun einen seltsamen Kreis, gebildet aus anderen Steinen. Rump erkannte sofort, dass dies keine Trolle waren, sondern wirkliche Findlinge. Alle kleiner als er. Die Soldaten platzierten ihn nun genau in der Mitte. „Ja, das ist er!“, wiederholte Yaruta und lachte. „Er ist perfekt. Genau die richtige Größe. Nun muss es gelingen! Timerus! Das Buch!“ Eiligen Schrittes betrat ein alter Mann in langem Gewand die Halle. Er trug ein großes in Leder gebundenes Buch mit goldenen Schriftzeichen auf dem Einband. „Herrin“, sprach er „Hier Herrin. Seid Ihr sicher, dass ihr das wirklich tun wollt? Es gibt kein Zurück mehr, wenn Ihr erst begonnen habt. Und es gibt sicher noch andere Wege um Eure Schwester –„ „Schweig!“, unterbrach ihn Yaruta. „Es ist beschlossen. Ich werde sie rufen. Und sie werden mir gehorchen.“ „Nun, was das angeht, Herrin, was wenn – „ „Schweig! Oder muss ich Dir erst ein Schloss vor den Mund zaubern?“ Rump spürte indessen ein Kribbeln in seinen Armen. Immer weiter löste sich seine Versteinerung und er hoffte im Stillen, was immer Yaruta nun vorhabe, sie möge es bald tun, bevor er seine wahre Gestalt wieder annahm und man ihn entdeckte und dann, dann könnte er sich vielleicht unbemerkt davon schleichen. „Herrin, ich möchte Euch doch nur daran erinnern, dass es einen Grund gab, warum man sie in die ewige Finsternis verbannte.“ „Ja, den gab es. König Remian war schwach. Eine schwache Seele in einem starken Körper. Er hätte all seine Feinde überrollen können und sich nicht mehr fürchten müssen, doch sogar davor hatte er zu viel Angst. Zuerst stellt er sie auf, die Armee der Sayoner, um sie dann wieder zu verbannen – und dann auch noch mit einem so schlichten Zauber.“ Rump traute seinen Ohren nicht. Yaruta sprach tatsächlich von der Armee der Sayoner. Niemand glaubte, dass es mehr war, als eine Geschichte. Als sich König Remian mehr und mehr zurück zog kam es zu den seltsamsten Geschichten und Gerüchten. Eine besagte, dass Remian aus Angst vor seinen Feinden eine Armee von Geistern und Gespenstern zusammenstellte, die mächtigste Armee, die man sich vorstellen konnte. Unsterblich und damit unbesiegbar. Doch gerade daher auch für ihren Anführer unbeherrschbar. Der König, der in allen Ecken Verrat witterte verbannte schließlich seine eigene Armee mit Hilfe eines Zaubers in das Reich der Finsternis in den Tiefen der Erde. Doch eigentlich dachte man, dies sei nur eine Geschichte, um zu zeigen, zu welch misstrauischem und furchtsamem Mann der Herrscher geworden war. Doch wenn Yaruta nun die Armee aus den Tiefen heraufbeschwören wollte, so musste an der Geschichte etwas dran sein. Und wenn es war wäre dann könnte Yaruta mit Leichtigkeit die Herrschaft über an sich reißen. Nun wusste Rump gar nicht mehr, wovor er sich mehr fürchten sollte: Davor, dass er seine wahre Gestalt annehmen und entdeckt würde oder davor, dass Yaruta mit ihrem Zauber die Armee der Sayoner heraufbeschwören würde. Rump spürte seinen Magen grummeln, ob vor Furcht oder vor Hunger wusste er nicht zu sagen, doch so oder so beunruhigte es ihn, denn es bedeutete, dass er mehr und mehr seine Trollgestalt zurückerlangte. „Schlag mir die Seite auf“, hörte er Yaruta sagen. „Die Steine sind alle richtig angeordnet. Nun fehlt nur noch der magische Spruch.“ „Bitte Herrin. Sprecht ihn langsam, mit Bedacht. Es Bedarf einer ruhigen Stimme, um in die Finsternis vorzudringen“, sagte der alte Mann. „Gylus morc. Vramyr oc galum“, hob Yaruta zusprechen an. Sanft und ruhig doch bestimmt und langsam immer lauter werdend sprach sie die magischen Worte. „Oc galum syrtos. Oc galum dyrain. Volya akalom. Oc volya galum.“ Rump vernahm einen düsteren Klang, der aus den Tiefen der Festung zu kommen schien. Zugleich merkte er, dass er seine Beine wieder vollständig spüren und seine Augen hin und her bewegen konnte. „Yaruta sarum tarc. Yb oben oc norctum sech. Yaruta sarum tarc!“ Das Grollen aus der Tiefe schwoll an. Rumps Gedanken rasten in seinem Kopf herum. Er spreizte seine Finger. Ganz vorsichtig drehte er sein noch mehr nach Stein denn nach Troll aussehendes Gesicht der Zauberin zu. Diese stand mit geschlossenen Augen vor dem Steinkreis. Sie wirkte angespannt und konzentriert. Ihre Hände umklammerten das große Buch und nun öffnete sie die Augen und richtete ihren Blick auf die vergilbten Seiten um die nächste Zeile zu lesen. „Norctum dy sectum sech. Sartus valyara benectum sech.“ Rump meinte, vor Angst zu zittern, doch dann wurde ihm klar, dass es das Zittern des Bodens unter ihm war. Das furchtbare Grollen schien sich aus der Tiefe hervor zu arbeiten. „Sayara hycholya sech. Mergana ulyona.“ Da – mit einem Mal – ohne darüber nachzudenken – setzte sich Rump in Bewegung. Noch etwas steif in den Gliedern bewegte er sich aus dem Steinkreis hinaus. Einen Fuß setzte er vor den anderen. Das Grollen aus der Tiefe ließ dabei sofort nach. Doch noch bemerkte ihn niemand, denn alle starrten wie gebannt auf Yaruta und lauschten ihren magischen Worten. Doch da, als er fast den Rand des Steinkreises erreicht hatte, blickte Yaruta auf. „Was passiert hier? Ich verliere Macht. Der Zauber wird schwächer! Was ist passiert?!“ Da sah sie Rump und ihr finsterer Blick traf direkt den seinen. „Ergreift ihn!“, kreischte sie. „Ergreift ihn! Kein Stein, ihr habt mir keinen Stein gebracht, sondern einen Troll! Das werdet ihr büßen! Doch bevor ich euch in Kakerlaken verwandle ergreift ihr ihn! Timerus hol Wasser! Er soll wieder zu Stein werden! Nein einen Zauber. Ich brauche einen Regenzauber! Timerus!“ Die Soldaten hatten in der Zwischenzeit die Verfolgung aufgenommen und Rump befürchtete, er hätte wohl kaum eine Chance auf seinen kurzen Beinen. Doch gerade so konnte er vor seinen Häschern davonrennen und den Ausgang der Halle erreichen. Die Soldaten schlugen Alarm und die ganze Festung schien in Bewegung zu geraten. Yaruta schrie Rump derweil allerlei magische Verwünschungen hinterher, doch in ihrer Aufregung fiel ihr nicht der richtige Regenzauber ein. Rump hatte inzwischen den Burghof erreicht. Er drückte sich dort an der Wand entlang. Immer im Dunkeln, denn er wusste, durch Schnelligkeit hatte er kaum eine Chance. Doch er hatte Glück. Er war zwar wieder voll beweglich, doch hatte sein Gesicht noch immer eher die Farbe von Stein, als die der rosigen Haut eines jungen Trolls. So war er auf dem dunklen Hof noch schwerer zu sehen und er konnte unbemerkt bis nahe an das Tor heranschleichen. Doch wie sollte er hindurch kommen. Als er gerade angestrengt nachdachte, was besser wäre, sich eine Weile versteckt halten oder einfach draufloslaufen, hörte er plötzlich Schritte hinter sich und kurz darauf die Stimme des Anführers des kleinen Soldatentrupps, der ihn hierher gebracht hatte. „Hab‘ ich dich!“ Doch gerade als der Mann ihn packen wollte, ertönte ein Glockenschlag und kurz darauf ein gellender Schrei. „Es ist zu spät! Mitternacht! Es ist zu spät!“ Es war der Schrei Yarutas. Die Zeit für den Zauber war abgelaufen und die Armee der Sayoner für die nächsten hundert Jahre in die Welt der Finsternis verbannt. Rump nutzte den winzigen Moment in dem der Soldat abgelenkt war und flitzte so schnell er konnte durch das Burgtor. Er rannte den steilen Pfad hinunter und achtete nicht darauf, ob noch jemand hinter ihm war oder nicht. Noch immer hörte er Yarutas Schreie von der Burg gellen und dann ein furchtbares Grollen und Rumpeln, dass diesmal jedoch nicht aus der Erde kam, sondern von oben von der Burg. Doch Rump sah sich nicht um, er lief und lief, bis er den Wald erreichte. Er flüchtete sich zwischen die Bäume und traute sich erst jetzt, ein wenig langsamer zu gehen. Irgendwann, als er sich ganz sicher war, dass ihn niemand mehr verfolgte, ließ er sich an einem dicken Baumstamm nieder. Er wollte nur kurz verschnaufen, doch sein Kopf sank in das weiche Moos und der kleine Troll schlief sofort ein.

Am Morgen wurde er durch aufgeregte Stimmen geweckt. Er schreckte hoch, denn er fürchtete, es wären Yarutas Soldaten, doch er sah direkt in das Gesicht seiner Mutter und so böse wie sie ihn anblickte, war er nicht sicher, ob die Soldaten ihm nicht lieber gewesen wären. „Wo hast du gesteckt?“, fuhr seine Mutter ihn an. „Wir waren krank vor Sorge! Die ganze Nacht haben wir den Wald abgesucht. Wie konntest du dich so weit fortschleichen?“ „Nun lass ihn doch erst einmal wach werden.“ Hörte Rump nun seinen Vater sprechen. „Sicher hat er sich verlaufen.“ „Kein Wunder, wenn er auch so weit fortgeht!“ Doch dann drückte seine Mutter ihn ganz fest an sich. „Schon gut, schon gut“, schien sie mehr zu sich selbst zu sagen. Und Rump merkte, dass sie vor Erleichterung, ihn wieder gefunden zu haben, weinte. „Na, na“, sagte sein Vater, „beruhige dich, sonst lassen deine Tränen ihn noch versteinern.“ Rumps Mutter lachte. Doch Rump löste sich aus ihrer Umarmung und starrte seinen Vater entsetzt an „Nein! Bloß nicht versteinern!“ Und dann sprudelte es aus ihm heraus. Die ganze Geschichte. Ungläubig schauten ihn seine Eltern an. „Tja“, sagte sein Vater schließlich, „wenn man eine Nacht allein im Wald verbringt, dann kann das schon einmal schlimme Alpträume zur Folge haben.“ „Nein, das war kein Traum. Es stimmt, Vater, jedes Wort!“ Seine Mutter lächelte. „Nun komm, Junge, gehen wir erst einmal nach Hause und machen Frühstück. Was hälst Du von Kastanienbrot mit Moospastetchen? Vater hat gestern früh erst welche gebacken.“ Der Gedanke an Moospastetchen hellte Rumps Stimmung tatsächlich auf.
Als die kleine Trollfamilie in die Nähe ihrer Höhle kam, lief ihnen die alte Ira aufgeregt entgegen. „Habt ihr schon gehört?“, fragte sie. „Die Burg, die dunkle Festung der Zauberin Yaruta!“ „Was ist mit der Burg?“, fragte Rumps Mutter. „Eingestürzt ist sie!“, rief Ira triumphierend. „Einfach in sich zusammengefallen. Es heißt, die Zauberin hatte einen ihrer Wutanfälle und in ihrem Zorn hat sie wohl den falschen Zauberspruch aufgesagt! Geschieht ihr recht, der bösartigen Hexe!“ „So? Was hat sie denn derart zornig gemacht?“, fragte Rumps Vater. „Tja, das weiß niemand! Aber sie muss sich ganz ordentlich geärgert haben.“ „Na das war doch sicher ein ganz ordentliches Gerumpel!“, meinte Rumps Mutter. „Kein Wunder, dass der Junge da Alpträume hatte, schließlich hat er ja nicht unweit der Burg geschlafen. Wie gut, dass dir nicht passiert ist, Rump. Das soll Dir eine Lehre sein. So weit fort zu laufen.“ „Ja, das soll mir eine Lehre sein.“, sagte Rump und grinste leise in sich hinein.​
 

hera

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Hallo Michaela Groß, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

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