Der Unfall

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Kalt bläßt der Herbstwind über meine Haut. Die Regentropfen lassen jeden Zentimeter meiner Kleidung an mir kleben. Und doch friere ich nicht. Eigentlich spüre ich nichts, außer meine Füße, die mit jeder Berührung des Asphalts stärker schmerzen. Trotzdem kann ich nicht stehen bleiben. Ein Zwang, tief in meinem Innern, zerrt an mir, treibt mich zurück an den Ort an dem mein Leben für immer zerbrach.

Damals. Vor einem Jahr... Der Regen prasselte unaufhörlich an die Autoscheibe. Ich hörte ihn kaum, denn die lauten Stimmen meiner Eltern übertönten jedes weitere Geräusch. Sie stritten sich, wie so oft in den vergangenen Monaten.

"Denkst du etwa, ich bin unfähig ein Auto zu fahren, bloß weil ich mal ein Glas Wein getrunken habe?"

"Was heißt da bitte, ein Glas Wein? Du hast fast eine ganze Flasche getrunken!"

"Wer wollte denn, dass ich auf diese verdammte Familienfeier gehe? Wer wollte denn, dass ich mir stundenlang das langweilige Geschwätz deiner Mutter anhöre. Du warst das! Also hör auf rumzunörgeln!"

"Lass meine Mutter aus dem Spiel! Du hattest versprochen nichts zu trinken. Hast du eigentlich mal daran gedacht, dass unser Kind da hinten hockt?"

"Hättest du damals nicht so einen Schiss gehabt, den Führerschein zu machen, hätten wir das Problem jetzt garnicht! Außerdem, was soll ich denn machen, wenn deine Mutter unbedingt darauf besteht, dass ich ihren Wein probiere?"

"Du immer mit deinen Ausreden! Ich an deiner Stelle..."

Dann geht alles ganz schnell. Ich sehe die Leitplanke auf mich zukommen. Ein gellender Schrei. Ich schlage mit der Stirn an die Seitenscheibe, spüre noch, wie der Wagen sich wohl überschlägt. Dann verliere ich mein Bewusstsein. Als ich wieder aufwache, bemerke ich, wie Blut von meiner Stirn über das Gesicht rinnt. Gelähmt vom Schmerz hebe ich langsam meinen Kopf an. Ich sehe meine Eltern regungslos in ihren Sitzen liegen. Überall ist Blut. Ich muss mich übergeben, dann verliere ich erneut mein Bewusstsein. Erst im Krankenhaus wache ich auf. Meine Großmutter hält meine Hand. Sie weint. In ihren Augen sehe ich bereits die Worte stehen, die sie mir gleich sagen würde.

Nun sind es nur noch wenige Schritte bis zu jenem Ort, an dem ich meine Eltern zum letzten Mal lebend sah. Meine Schritte werden immer schwerer und ich scheine mich kaum einen Meter voran zu bewegen. Die Leitplanke wurde schon einige Monate später ersetzt. Bloß der Baum, um den sich das Autowrack, wie in einer innigen Umarmung gewunden hatte, und das kleine Holzkreuz das am Straßenrand aufgestellt wurde, zeugen noch vom Unfall.

Als ich die Blumen niederlege, überlege ich mir, ob meine Eltern wohl noch am Leben wären, wenn ich mich damals bei der Heimfahrt geweigert hätte einzusteigen.
 

Andrea

Mitglied
Gefällt mir extrem gut, v.a. der Schluß. Obwohl man vorher nie etwas vom Gefühl der Schuldigkeit des Kindes erfährt, rundet es die Geschichte ab. Einziges Manko: Wieso muß an dem Tag eigentlich so ein schlechtes Wetter herrschen? Ist mir zuviel Klischee, daß das arme Kind nicht nur zum Ort des Geschehens zurückkehrt, sondern dabei auch noch ausgerechnet durch Regen und Herbst stapfen muß. Unfälle geschehen schließlich zu jeder Jahreszeit, und das Gefühl, einen Ort nicht aufsuchen zu wollen, zu dem man aber mit aller Kraft getrieben wird - das kann einem auch bei gutem Wetter passieren.
 
Vielen Dank für das Lob! Es ist meine erste Kurzgeschichte und ich bin auf dem Gebiet noch Anfänger. Daher freue ich mich über jede Kritik. :)

Den Regen am Unfalltag habe ich gewählt, um die Szenerie dramatischer zu gestalten. Außerdem habe ich versucht, die Unfallursache nicht genau festzulegen, sondern auch den Gedanken zuzulassen, dass eventuell bloß die nasse Fahrbahn der Grund für den Unfall sein könnte.

Dass es ein Jahr darauf wieder regnet, soll eine direkte Brücke schlagen zum Unfall. (Ein Jahr später, gleiches Wetter, gleiche Stimmung...) Den Herbst zusätzlich als Jahreszeit zu wählen, ist tatsächlich etwas zu viel des Guten. Dadurch wird es tatsächlich zu klischeehaft. Aber ich lerne dazu und werde zukünftig besser darauf achten. :)

Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig war, den Unfallhergang im Präsens zu schreiben, während der Text selber in der Vergangenheit spielt. Mir wurde gesagt, es würde zu sehr verwirren.

Gruss,
oli
 

Andrea

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Präsens/Vergangenheit

Hmm, hast du den Text verändert oder habe ich irgend etwas überlesen? Ich finde nur eine Stelle im Präteritum (2. Absatz), und die habe ich, ehrlich gesagt, überlesen, denn wo du es schon erwähnst, einen Absatz im Präteritum, den Rest im Präsens könnte man in der Tat ändern.
Verwirrend (Gegenwart/Vergangenheit) finde ich es allerdings nicht. Durch Präsens wird Geschehen meist direkter, daher finde ich es recht gut, den dramatischsten Teil auch im Präsens zu schreiben. Durch den Dialog ist das Tempus vorher ja irrelevant, und das die Klammer im Präsens geschrieben ist -- nein, verwirrend finde ich es wirklich nicht.
 
Re: Präsens/Vergangenheit

Sorry. Eigentlich meinte ich den 2. Absatz im Präteritum. Ich war wohl schon etwas zu müde... ;)

Sollte man den Absatz besser im Präteritum belassen, oder ändern? Meiner Ansicht nach, klingt es etwas seltsam, wenn der 1. und zugleich der 2. Absatz im Präsens ist.

Gruss,
oli
 

Andrea

Mitglied
Du kannst ruhig Präsens benutzen. Durch das "Damals. Vor einem Jahr." ist der Zeitsprung ja schon klar gekennzeichnet.

Gruß
 



 
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