Der Verräter
„Hier, hinter mir auf der Bronzetafel, stehen die Namen der Opfer des letzten Weltkrieges, die Namen der Männer, die durch die Nazis ermordet wurden oder an der Front für einen Wahnsinnigen starben. Das sind nur die Namen der Verratenen und Verkauften, die unsere kleine Gemeinde zu verzeichnen hat.
Ob uns persönliche Betroffenheit bewegt, wie es bei mir der Fall ist, wenn ich den Namen meines Onkels Heinrich Schulte lese, oder ob wir die Toten nur kannten – als Nachbarn, Freunde, Kollegen -, immer erlitten wir durch ihren Tod einen großen Verlust.
Aber ihm, Heinrich Schulte, verdanken wir mehr! Er hat gezeigt, dass es in unserer Jugend Widerstand gab, dass dieses kleine Dorf sich nicht geduckt hat. Er musste dafür mit seinem Leben büßen, das er selbstlos hingab. Dafür danken wir ihm und gedenken seiner in besonderer Weise.“
Joseph Krüger hob den Kopf und sah bedeutungsvoll zum dunklen Himmel hoch, der mit regenschweren Wolken bedeckt war. Das war das Ende seiner langen, frei gesprochenen Trauerrede, wie er sie in jedem Jahr hielt. Man sah seinem Gesicht die tiefe Bewegung an, konnte seine Trauer ablesen.
„Ich lege jetzt - wie an jedem Volkstrauertag - im Namen des Heimatvereins einen Gedenkkranz nieder. Wir wollen danach stille werden und darum bitten, jeder für sich, dass so ein Krieg – nein, dass jeder Krieg – jetzt und in Zukunft nicht mehr möglich ist.“
Er warf einen Blick hinüber zu den Zuschauern, die sich unter Regenschirmen duckten, sie gegen den Schneeregen stemmten, der im böigen Wind schräg heran trieb. Ihre Gesichter konnte er nicht sehen, aber er wusste, dass es die selben Männer und Frauen waren, die auch in den anderen Jahren zur Gedenkfeier gekommen waren.
Sehr Alte, die den Weltkrieg erlebt hatten, standen dort, gestützt auf ihre Gehstöcke, Ehepaare, deren Eltern oder Verwandte gefallen oder vermisst waren, dabei einige wenige Kleinkinder, die ihre bunten Schirme spielerisch hin und her wirbelten. Junge Leute kamen nie, sie fanden die Gedenkfeier unnötig, hatten keine Beziehung mehr zu den Dingen, von denen er sprach.
„Ist doch alles alter Mist! Wen interessiert das denn noch? Macht lieber ne Demo gegen die Amis und ihren Chef, diesen Cowboy aus Texas!“, hatte ihm sein eigener Sohn beim Frühstück gesagt, als er ihn bat, zur Gedenkfeier zu gehen.
Er trat vom Mikrofon zurück, sah den beiden Feuerwehrleuten zu, die den schweren, mit roten Nelken und gelben Chrysanthemen geschmückten Kranz an den Steinsockel des wuchtigen Denkmals legten. Mühsam bückte er sich, ordnete demonstrativ langsam die grünweiße Schleife mit der Inschrift „Zum Gedenken – Der Vorstand des Heimatvereins“ und stand dann für einige Sekunden still, den Blick gesenkt, die Hände schlaff herabhängend.
Er dachte an den einzigen Toten des Weltkrieges, den seine Familie zu beklagen hatte, Heinrich Schulte, den er kaum gekannt hatte, aber der ihm so nahe war wie kaum sonst jemand; er war ein Mythos, ein tragischer Held, dessen Namen jeder im Dorf kannte; er wurde im Unterricht erwähnt, wenn es um den Widerstand gegen Hitler und die Nazi-Diktatur ging.
Der Heimatverein hatte ihm schon vor Jahren ein Kapitel im historischen „Bergfelder Heimatbuch“ gewidmet. Er war ihr Held, ihr Vorzeigewiderständler. An ihm konnte man sich aufrichten nach dem Krieg; mit Nennung seines Namens ließen sich alle Fragen beantworten.
An den dunklen Wintertagen in seiner Jugend hatte seine Mutter von ihm erzählt, ihn in bunten Farben gemalt, ihre unendliche Trauer beklagt und ihm das Gefühl vermittelt, einen ungeheuerlichen Verlust erlitten zu haben.
„Ich werde dich nie vergessen, Onkel Heinrich!“, dachte er und beschloss, damit die Gedenkminute zu beenden.
Die grün gekleideten Musiker blickten auf ihre durchnässten Notenblätter; der Musikzugführer hatte den Taktstock bereits leicht angehoben, verharrte so und sah ihn auffordernd an.
Joseph Krüger gab ihm das Zeichen, indem er leicht nickte, und sofort hob sich der Taktstock. In der andächtigen Stille klangen die Trompetenstöße, die Trommelschläge überlaut, ließen die Kinder erstaunt still stehen. Langsam, bedächtig spielten sie, betonten damit, dass das Lied „Ich hatt´ einen Kameraden“ ihr bewusster Beitrag zur Gedenkfeier war.
Als wollte der Himmel den Musikern beistehen, hörte der Regen nach den ersten Tönen auf. Die Zuhörer brauchten einen Augenblick, stutzten, blickten misstrauisch zum Himmel, falteten dann erleichtert die Schirme zusammen, schüttelten sie aus und richteten ihre Blicke - neu gesammelt - auf die dunkel gekleideten Menschen vor dem Denkmal, lauschten der vertrauten Melodie, einige summten sie sogar mit.
Joseph Krüger, der langjährige Vorsitzende des Heimatvereins, und seine Vorstandsmitglieder, die schräg hinter ihm ausharrten, waren vom kalten Regen durchnässt, aber es wäre ihnen nie eingefallen, bei der Gedenkfeier einen Schirm zu tragen.
Joseph blickte in die Gesichter der Menschen, die in einer langen Reihe auf dem Bürgersteig gegenüber standen.
Er kannte sie alle, wusste von jedem Mann und jeder Frau genug, um sie richtig einzuordnen. Fremde verirrten sich selten in den kleinen Ort, der nichts bot, was sie herlocken konnte.
Ganz links, abgerückt von den anderen, da stand der alte Hubert Wickert, der pensionierte Dorfpolizist, der schon die Neunzig überschritten hatte.
Er mochte diesen so milde dreinschauenden, einsamen Alten nicht - er grüßte ihn nicht einmal. Und so hielten es - mehr oder weniger - alle Bergfelder, die als „Alteingesessene“ galten.
Der Abstand zwischen Hubert Wickert und den anderen Zuhörern war zu groß, als dass man ihn für zufällig halten konnte. Sie bildeten eine eigene Gruppe, die „alten“ Bergfelder; etliche Ehepaare, Nachbarn aus seiner Straße, dann einige Rentner, alle dicht gedrängt, als suchten sie Schutz vor dem eisigen Wind. Er streifte die Gesichter nur flüchtig, reagierte nicht auf vereinzeltes Nicken, das ihm Zustimmung, Zugehörigkeit signalisierte.
Sie hielten einen Abstand von mehr als einem Meter, zeigten an, dass sie noch lange nicht dazu gehören würden. Es waren Hinzugezogene aus dem kleinen Neubaugebiet am Hügel, die sich erstmals eingefunden hatten.
Dann stutzte er, sah noch einmal die Reihe durch. Sein Blick blieb hängen; er starrte in das Gesicht, das nicht hier hin gehörte, das erst Nachdenken, Besinnen forderte, bis er es an einem Namen festmachen konnte.
Der Mann stand ein wenig hinter den Neubürgern, blickte ihn starr, fragend an. Er war alt, stand gebeugt, mit etwas auseinandergestellten Beinen da, als schwanke er, brauche Halt. Sein langer dunkler Mantel sah schäbig, abgetragen aus; ein breitkrempiger, schlaff hängender Hut hatte ihn wohl vor dem Regen schützen sollen.
„Im gleichen Schritt und Tritt“, spielte die Blasmusik; die träge ineinander laufenden Töne drängten sich in Josephs Kopf, aber er hörte sie nicht mehr.
Er wusste, wer da stand, starrte zurück in das alte, gefurchte Gesicht, das ihn nicht los ließ, das ihn zwingen wollte, Erkennen zu zeigen. Sein Nacken wurde steif; er spürte einen Stich im Magen und fühlte einen leichten Schwindel.
Der letzte Ton des traurigen Liedes verklang klagend. Die Instrumente wurden erleichtert gesenkt, Schirmmützen an den Knien abgeschlagen, Mundstücke ausgeschüttet, feuchte Notenblätter in die Uniformtaschen gezwängt. Spät erst wurde ihm bewusst, dass alle auf ihn warteten.
„Ähm! Liebe Bergfelder, ich bedanke mich bei unserem Bergfelder Musikzug und seinem Zugführer Toni Bruder für das schön gespielte Lied. Der Vorstand wünscht euch einen schönen Tag.“
Er ging - wie automatisch angezogen - schräg weg vom Denkmal, genau auf den Mann zu, der sich nicht rührte, um den die Leute einen kleinen Bogen machen mussten.
„Joseph! He! Wo willst du hin? Der Grüne Krug ist da drüben!“
Er blieb stehen und blickte sich zögernd um. Seine Vorstandskollegen standen hinter ihm, blickten ihn erstaunt, belustigt oder auch stirnrunzelnd an.
„Entschuldigt! Ich war total in Gedanken versackt.“
„Hat man gemerkt“, lachte Otto Kemper, sein Stellvertreter, und legte ihm den Arm um die Schulter. „Komm, das Bier ist schon gezapft.“
Er ließ sich mitziehen; er wusste, was sich gehörte. Nach der Gedenkrede gingen sie immer in den Grünen Krug, und immer gab er die erste Runde für den Vorstand aus. Dann prosteten sie ihm zu, lobten seine klugen Worte, seine zu Herzen gehende Rede.
„Kann man nix gegen sagen; is alles wahr, was du gesagt hast“, pflegte sein Kassierer, Helmut Schreiber, regelmäßig als Abschluss zu bemerken.
Er seufzte und dachte an sein einsames Haus. Sein Sohn würde erst in der Nacht - wenn überhaupt - zurück kommen. Er wurde nicht erwartet - seit drei Jahren schon nicht mehr. Sarah war am Krebs gestorben, hatte ihn alleine gelassen. Er konnte, er wollte ihr das nicht verzeihen, dachte oft mit Groll daran, dass sie alle Warnungen lachend in den Wind geschlagen hatte.
„Ich und krank? Hast du mich jemals krank gesehen? Ich brauch‘ keinen Doktor, der macht die Leute nur kränker; wovon soll der sonst leben?“
Er warf einen Blick zurück, aber der Mann war weg; nur ein paar Leute standen in einer Gruppe diskutierend zusammen.
Die Frauen gingen einzeln oder zu zweien auseinander, mahnten beim Abschied ihre Männer, nicht zu spät zum Mittagessen zu kommen. Die drängten sich durch die Tür des Grünen Kruges, verteilten sich im schmalen Schankraum, suchten sofort nach Bekannten oder Freunden, zu denen sie sich stellen wollten. Sie belegten die Theke, füllten den dunkel getäfelten Gastraum aus, der nur durch trübe, gelbe Lampen knapp erleuchtet wurde.
Der Wirt und seine Frau zapften wie immer, gekonnt, schnell und ohne auf eine Bestellung zu warten. Sie wollten alle rasch ein erstes Bier, manche bekamen ihren üblichen Schnaps sofort dazu gestellt.
Lachen schwirrte durch die Luft, Namen wurden hinüber und herüber geworfen, launige Bemerkungen mit Gelächter quittiert; man rief sich spöttische, witzige Wortspiele zu, grüßte Bekannte mit erhobenen Glas, bedankte sich mit lautem „Prost!“ für ein gespendetes Bier.
Jeder verstand nur die Worte, die direkt an ihn gerichtet waren, der Rest war ein dichter Geräuschteppich, in dem nur einige markante, besonders laut gerufene Worte hörbar waren: „Prost!“, „Danke für die Runde!“, „Auf die Überlebenden!“, „Lass es dir schmecken!“, „Prima gesprochen, Joseph!“ und ähnliche Rufe.
Er stieß mit seinen Vorstandskollegen an, trank das Glas mit einem Schluck halb leer, wischte sich den Bierschaum von den Lippen, setzte das Glas bedächtig auf den Tresen - und dann erblickte er ihn.
Der Alte stand ganz am Ende, an der Querseite der Theke, die eine L-Form hatte. Er hob sein Glas an, hielt es Joseph entgegen; man konnte mühelos von seinen Lippen „Prost Joseph“ ablesen.
Joseph Krüger sah ihn an, fühlte sofort wieder den Stich im Magen, ließ das Glas stehen und drehte sich weg zu seinem Stellvertreter.
„Weißt du, wer da hinten - ganz am Ende der Theke - steht, Otto?“
„Ne, wer ist das?“. fragte Otto nach einem forschenden Blick.
„Bäcker, Hermann Bäcker! Erinnerst du dich?“
„Bäcker? Warte mal – Bäcker, Bäcker? Mensch, das glaubst du doch nicht wirklich? Der Bäcker soll das sein? Verdammt, du hast recht, er könnte es sein. Vom Alter her... Warte mal! Der war damals, ich glaube so ungefähr achtzehn? Das war – warte, 1944 – das sind genau 57 Jahre. Dann müsste der jetzt so um die 75 sein. – Könnte stimmen!“
„Ich sag´s doch. Da muss ich nicht erst rechnen; ich kenn doch sein Gesicht. Mutter hat es mir oft genug auf den alten Fotos gezeigt. Er mit Heinrich! Ich hab´s abgeschnitten und in den Ofen geworfen.“
„Vergiss es, Joseph, es ist zu lange her. Das kannst du heute nicht mehr werten, es ist verjährt, vergessen und vorbei. – Komm! Trinken wir noch eins!“
„Nein! Nichts ist vergessen! Nach 57 Jahren taucht der hier auf, als wäre nichts passiert! Ich fass es nicht. Und dann an diesem Tag, an dem Tag, an dem wir hier seiner gedenken!“
„Lass sein, Joseph, was willst du noch von ihm?“
„Antworten! Ich will wissen warum!“
Er stieß Ottos Glas an die Seite, drückte sich durch die Männer, die auf Hockern sitzend oder stehend den Weg versperrten. Die Luft war schwer geworden vom Dunst der nassen Kleider. Dichter Qualm waberte inzwischen durch den Raum, hing unter den Lampenschirmen, die dicht über den Biergläsern schwebten.
Der Dunst versperrte ihm etwas die Sicht, Köpfe wuselten vor seinem Gesicht herum. Dann erblickte er ihn, sah, wie er mit müdem Gesicht, mit halb geschlossenen Augen die Männer neben sich beobachtete; er stand schräg, stark auf die Theke gestützt, und trank bedächtig aus seinem fast leeren Glas.
Joseph Krüger blieb hinter ihm stehen, sah auf den schmuddeligweißen Kragen, den von Altersflecken gefärbten Nacken, die spärlichen, ungepflegt hängenden weißen Haarzipfel.
„Warum bist du hier, Bäcker?“
Er drehte sich nicht um, ließ die Arme auf der Theke liegen, hob nur den Kopf leicht an.
„Trinkst du ein Bier mit mir, Joseph?“
„Nein! Mit Verrätern trinke ich nicht, Warum bist du hier? Was willst du? Glaubst du, wir hätten es jetzt endlich vergessen, oder denkst du, du könntest hier deinen Lebensabend verbringen?“
„Ich will mein Grab kaufen!“
„Was willst du?“
„Ich will hier beerdigt werden; hier ist meine Heimat. Alle meine Vorfahren liegen auf dem Bergfelder Friedhof. Für mich wird´s Zeit, ich muss wohl bald mit allem rechnen.“
„Wir wollen dich hier nicht haben! Weder tot noch lebendig! Ist das klar?“
„Nein! Was wirfst du mir vor? Wollt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen? Reicht es euch noch immer nicht?“
„Was ich dir vorwerfe? Verrat, Bäcker! Ich rede davon, dass du meinen Onkel Heinrich an die Nazis verraten und ausgeliefert hast!“
Den letzten Satz brüllte er so laut, dass seine Stimme die Wortsuppe, das Gebrause an der Theke - selbst noch am hintersten Platz - leicht übertönte.
Es wurde schlagartig still, nur die Wirtsleute zapften und lachten noch; sie lebten erst seit zehn Jahren im Ort, galten als Fremde, die nichts verstanden.
Alle Köpfe drehten sich zu den beiden Männern, die am Ende der Theke standen; Biergläser wurden auf dem Weg zum Mund angehalten; Zigarren machten vor den geöffneten Lippen halt und Lachen brach einfach ab.
„Du bist verrückt, Joseph! Lass mich in Ruhe! Lass mich in Ruhe mein Bier trinken und hau ab!“
„Nein, Bäcker! So nicht! Weißt du, wie oft ich an dich gedacht habe? Weißt du, wie oft ich „Verräter“ „Schweinehund“, Nazisau“ und noch einige andere Gedanken hatte, wenn nur jemand sagte, er müsse mal eben zum Bäcker? Jetzt bist du hier und wirst uns sagen, warum du deinen Freund - den Bruder meiner Mutter - an die Nazis verraten hast. Jetzt, hier und heute, wirst du es uns sagen. Wir hören dir alle zu!“
„Es wär besser für euch alle, wenn ich den Mund halte, Joseph – glaub mir.“
„Was willst du damit sagen? Willst du aus Opfern Täter machen? He? Ist mein Onkel vielleicht freiwillig in diese sogenannte Todeskompanie gegangen? Hat er vielleicht aus Überdruss den Tod gesucht? Hat er vielleicht sogar dich verraten - und nicht du ihn?“
„Du weißt gar nichts! Du warst damals noch ein Kind von fünf oder sechs Jahren. Ihr alle hier habt´s nicht miterlebt. Ihr habt noch in die Windeln geschissen oder seid an Mamas Hand spazieren gegangen. Ihr habt keine Ahnung!“
„Dann klär du uns auf! Sag uns, was daran falsch ist, wenn ich behaupte, dass du zum Hubert Wickert gegangen bist, unserem damaligen Nazi-Polizisten, und ihn angezeigt hast. Du hast behauptet, er plane ein Attentat auf die Bahnlinie; er habe dafür Sprengstoff gestohlen und gehortet. Du hast ihnen das Versteck gezeigt, in dem er den Sprengstoff gelagert hatte, gesammelt aus dem Steinbruchbestand.“
Joseph Krüger atmete schwer, spürte wieder die Stiche im Magen, einen üblen Geschmack im Mund; er hätte ihn gerne mit einem Schluck Bier runter gespült. Er streckte seine Hand aus und drückte dem Alten den Finger auf die Brust.
„Es hat ihm nichts genutzt, dass er alles abstritt. Seine Aussage, sich als Gehilfe des Schießmeisters einen kleinen Vorrat angelegt zu haben, um Silvesterfeuerwerkskörper zu bauen, wurde nicht akzeptiert. Das hätte ihm höchstens einen Monat Gefängnis gebracht, mehr nicht.
Wir wissen aus Briefen, dass er mehr vor hatte. Er wollte es den Nazis zeigen, hat er von der Front geschrieben. Du hast das verhindert, Bäcker. Du hast ihn zum billigen Attentäter gemacht. Wir alle hier wissen, dass er mehr war. Er wollte gegen das Regime aufstehen! Was hast du für deinen Verrat bekommen von den Nazis?“
„Nichts! Ich habe nur Schlimmeres verhindert! Ich habe einen dummen Jungen angeschwärzt, der uns alle ins Unglück stürzen wollte! Ich habe dieses Dorf damit beschützt, euch alle – besonders eure Alten, um genau zu sein – und ich war nicht alleine dabei.“
Joseph Krüger lachte laut auf, hieb auf die Theke und sah sich um.
„Habt ihr´s gehört? Habt ihr´s begriffen? Nicht dieser Kerl hier ist der Schlimme, der Verräter. Oh nein! Heinrich, der Bruder meiner Mutter, ein Junge von gerade mal 17 Jahren, der keinem was antat, der jedem half, der als Messdiener und als Sänger im Kirchenchor bekannt war, der jeden Tag mit der Angel zum Bach ging und die gefangenen Fische wieder ins Wasser warf, der unschuldig war wie sonst kaum jemand - der ist plötzlich der Bösewicht.“
„Nicht nur er! Auch noch ein paar andere aus diesem frommen, unschuldigen Dorf waren schuldig. Die, die zwei alteingesessene Judenfamilien plötzlich hassten und verachteten wie die Pest. Das ist alles vergessen, nicht wahr?“
„Was willst du hier aufrechnen, Bäcker?“
„Ich will nichts aufrechnen, Joseph – du willst es, nur du drängst!“
„Versteck dich nicht hinter verlogenen Worten! Komm raus mit deinen Gründen; sag uns, was war.“
„Dein Onkel Heinrich, lieber Joseph, war ein Verirrter und ein Verwirrter; ihm ist plötzlich was in den Kopf gekommen; er wollte die Welt verbessern und sah nicht, was er anrichtete.“
„Was sagst du da? Mein Onkel war ein Verwirrter? Du! Du bist verwirrt! Das macht nicht nur das Alter, Bäcker!“
„Was weißt du denn? Es gab damals einen Freundeskreis, schon von der Volksschule her. Herbert Große, Heinz Bruder, Erwin Schwind, Heinrich Schulte und ich. Ihr erinnert euch an sie? Ihr habt gerade für sie gebetet. Die ersten drei sind 45 gefallen, als wir zum letzten Kommando eingezogen wurden, als Volkssturm zur Verteidigung der Heimat. Nur ich hab´s gerade noch so überlebt; ich war schwer verletzt, lag mit einem Lungensteckschuss lange im Lazarett.“
„Hast unverdientes Glück gehabt, Bäcker! Was haben die drei anderen mit deinem Verrat zu tun?“
„Genug! Die drei, dein Bruder und ich, wir waren eine verschworene Gruppe. Wir waren so etwas wie Blutsbrüder, unzertrennlich, eingeschworen auf Tod und Teufel.“
„Und du, du warst der Judas unter ihnen! Du warst ihr Verräter!“
Die Heftigkeit, die Wut dieser Anschuldigung ließ den Alten einknicken, er wirkte unsicher, gab wohl sein Vorhaben auf, endlich Klarheit zu schaffen.
„Ich will nichts mehr sagen! Schluss! Es reicht!“
„Es ist nicht genug! Sag es uns endlich! Warum bist du zum Hubert Wickert gegangen? Du wusstest doch, dass er ein Nazi war - wie fast alle Polizisten.“
„Hubert? Wenn du dich da man nicht irrst! Ihr habt alle keine - überhaupt keine - Ahnung! Warum ist der Hubert denn nicht hier? Weil ihr ihn schneidet seit damals! Weil ihr ihm ein Teil Mitschuld gebt an dem, was deinem Onkel passiert ist. Nichts wisst ihr! Ihr habt noch nie begreifen wollen!“
Er drückte sich weg von der Theke, legte ein Zweimarkstück auf die Platte und wollte an Joseph vorbei, zur Tür. Mit harter Hand fasste der ihn am Mantel, riss ihn herum, zog ihn dicht zu sich heran. Ihre Gesichter waren so dicht voreinander, dass sie nur noch die Augen des anderen sehen konnten.
„Du bleibst! Du gehst erst, wenn ich es sage! Hast du gehört!“
„Lass ihn gehen, Joseph! Es ist genug!“, rief Otto vom anderen Ende der Theke und wollte sich zu ihnen durchdrängen. „Lass den alten Mann in Ruhe, Joseph. Du kannst nichts mehr ungeschehen machen.“
„Halt dich raus, Otto! Ich will endlich begreifen, was einen Mann aus unserem Dorf dazu bewegt hat, seinen besten Freund zu verraten; ich muss es wissen!“
Niemand an der langen Theke rührte sich, keiner trank; selbst die Wirtsleute hatten aufgehört, ihre Gläser auszuspülen, der Wischlappen lag vollgesogen, vergessen, unter dem tropfenden Bierhahn.
„Du willst es nicht anders! Du willst alles wissen? Nun gut; dann soll´s wohl so sein.“
Er drehte sich aus dem Griff von Joseph, stellte sich ein Stück weg, lehnte sich an die Wand neben dem Thekenende. Sie schauten ihn alle an, sahen zu, wie er seine Augen schloss und die zittrigen, schmalen Hände an die Wand drückte.
„Ja, wir fünf Jungen waren eins; wir wollten sogar füreinander sterben. So einen Unsinn haben wir damals gesprochen. Wir hatten Pläne! Mein Gott, was waren wir naiv; wir wollten die Welt retten, wollten Frieden für alle Menschen. Wir suchten regelrecht nach Aufgaben und sehnten uns nach der Gefahr.
Als 39 die Nazis an die Macht kamen, als sie alle Juden zusammentrieben, als sie auch hier, in unserem kleinen Dorf anfingen, und Plakate gegen den Kauf bei Juden aufhängten, da fing eine neue Zeit an. Es kribbelte in uns; wir saßen nächtelang zusammen und diskutierten. Wir wussten, dass es auch die Juden in unserem Dorf anging, dass sie nicht verschont würden. Nur Heinrich, der fing schon damals an, redete von großen Aufgaben, die auf uns zukämen, machte Andeutungen über einen Plan, an dem er arbeite. Unser Fragen nach seinen Vorstellungen beantwortete er nur mit Kopfschütteln. Er sonderte sich immer mehr von uns ab.
Für euch hier, für euch ehrbaren Bürger, die seit Generationen mit Goldschmidts und Großbergers zusammenlebten, in die Schule gingen, am Stammtisch saßen, gegenseitig Hilfe leisteten und gegen die anderen Dörfer Fußball spielten, für euch waren diese beiden Familien plötzlich Aussätzige.“
Er öffnete seine Augen, sah in die Gesichter, die ihn anstarrten; noch war keine Feindschaft zu erkennen. Dann schaute er Joseph an, der ihn blass, mit gerunzelter Stirn, betrachtete wie ein bösartiges Insekt.
„Du bist ein Verräter – und du willst unsere Gemeinschaft in den Dreck ziehen. Ich weiß, was da kommen soll!“
„Ach, du weißt es? Dann erklär´s mir doch! Sag mir, warum sich plötzlich alles änderte. Ihr kauftet nicht mehr bei ihnen, spracht nicht mehr mit ihnen, und ihre Geschäfte wurden irgendwann geschlossen. Keiner von euch hat sich für sie eingesetzt, niemand hat sie getröstet, hat ihnen geholfen.“
„Du redest Stuss! Das war überall so! Das kam von oben; hier im Dorf hatte keiner damit zu tun!“
„So? Wer hat ihnen denn am Heiligen Abend 39 die Scheiben eingeworfen? Waren das die da oben? Wer hat den Goldschmidts denn im Frühjahr 40 die Jauche in den Flur geschüttet? Waren das die da oben?“
„Das sind Gerüchte, keiner hat jemals Klage erhoben!“
„Na, wie auch! Lassen wir das. Überall trieben sie die Juden zusammen. Auf dem Dorf geht alles langsamer; es dauerte bis Ende 41, bis die Nazis auch hier mit der Deportierung der beiden Familien beginnen wollten. Wir wussten es von Hubert Wickert, der es deinem Onkel Heinrich steckte, es wie beiläufig erwähnte. Der SD, der Staatssicherheitsdienst, hatte bemerkt, dass es da noch ein nicht judenfreies Dorf gab. Da wussten wir, was wir tun wollten, was wir tun mussten.
Wir waren gerade mal 14 oder 15, steckten voller romantische Träume, hatten eine Menge unausgesprochener Hoffnungen; jeder hatte natürlich völlig andere. Eines aber hatten wir Fünf gemeinsam: Wir hassten die Nazis, ihre dummen Sprüche, den Krieg und die Nazi-Hetzerei gegen die Juden.“
Er sah sich wieder um, prüfte die Gesichter, die abweisend, ohne erkennbare Zustimmung, immer noch zu ihm gedreht waren. Er wusste, was sie dachten.
„Wir alle kannten und mochten die Goldschmidts - deine späteren Schwiegereltern, lieber Joseph - und die Großbergers, seitdem wir geboren waren. Wir spielten bei ihnen auf den Höfen und in den Gärten, kauften bei Goldschmidts unsere Wurst, sahen ihm beim Schlachten zu und bekamen oft ein Stück Fleisch ab. Bei Großbergers ließ mein Opa schon die Pferde beschlagen; wir konnten stundenlang zusehen, mochten den beißenden Rauch, der von den Hufen aufstieg. Die sollten jetzt in die Konzentrations- oder Arbeitslager? Wir konnten es nicht glauben; dann fassten wir einen Plan: Wir würden diese Juden retten!
Der Anfang war schwer. Wir saßen lange mit ihnen zusammen, nahmen ihnen das Misstrauen, die Angst und die Lethargie, wir gaben ihnen eine richtige Hoffnung. Meine Eltern hatten hinten am Wald das Jagdhaus, das groß und gut ausgerüstet war; ihr kennt es ja alle gut genug. Es stand auf unserem Privatgrund, niemand kam da hin, keiner betrat unser eingezäuntes Grundstück.“
„Lenk nicht ab, Bäcker! Komm zur Sache! Was hat diese kindische Judengeschichte damit zu tun?“
„Wie du das sagst! Judengeschichte! Ja, so ist das hier. Wart´s nur ab! Mein Vater war schon lange an der Front, und meine Mutter mied das Jagdhaus wie die Pest. Sie fürchtete sich vor den Jagdtrophäen, die an den Wänden hingen. Die Augen der Vögel und der Pelztiere verhexten sie, hat sie mir mal gesagt.
Wir hatten also freie Bahn. In einer einzigen Nacht brachten wir alles, was tragbar war, rüber, versorgten sie außerdem mit allem, was fürs erste notwendig war.
Sie blieben dort im Haus, durften nicht einmal vor die Tür gehen, solange es Tag war; nur in der Nacht gingen sie an die Luft. Wir konnten keinem im Ort trauen; jeder galt als möglicher Verräter! Sie machten nur im Wohnzimmer Kerzen an; dafür hatten wir die Fenster ordentlich mit Brettern verschlossen.
Es ging gut; niemand kam zum Haus; selbst nicht, als sie die spurlos verschwundenen Juden suchten. Sie glaubten, die Juden hätten was mitgekriegt, wären abgehauen, zur Grenze gelaufen. Man gab erstaunlich schnell auf.
Nur einer, der Hubert Wickert, der hatte einen Verdacht. Eines Tages stand er da vor unserem Jagdhaus und fing uns ab, als wir heimlich Brot und Mehl hinbringen wollten. Er hat´s uns auf dem Kopf zugesagt! Und dann waren wir schon sechs, die unsere Juden beschützten.“
„Du spinnst dir da was zurecht! Der Wickert, der soll die Juden nicht verraten haben? Du erzählst Märchen, Bäcker!“
„Nein. Ihr versperrt euch vor der Wahrheit! Der Hubert war kein Nazi! Er half uns, sorgte dafür, dass es bis 45 gut ging. Wir hatten eine wahnsinnige Aufgabe. Wir mussten unauffällig Lebensmittel besorgen und alle anderen wichtigen Dinge. In jeder Nacht waren zwei von uns unterwegs. Wir zitterten vor dem Moment, in dem einer von den Juden krank wurde; es passierte aber nichts, außer Schnupfen war nichts.
Mehr als drei Jahre lebten die da in unserem Jagdhaus, gewöhnten sich an die Einschränkungen, mussten im Winter ohne Ofen auskommen, wickelten sich in die Decken, die wir reinschleppten. Sie waren unglaublich diszipliniert, nie verzweifelt. Wir brachten ihnen Bücher und Zeitungen, damit sie ungefähr wussten, was los war. Sie vertrauten uns blind! Hörst du? Sie vertrauten uns mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt. Sie drückten und küssten uns, wenn wir gingen – auch deinen Onkel; ihn mochten sie besonders. Er war immer so ernst und konnte ihnen lange zuhören. Sie kamen mir so arm, so verlassen vor.“
„Gesülze! Was soll der Mist? Willst du mir sagen, dass die niemand vermisste, dass die keiner suchte?“
„Niemand suchte nach ihnen, Fremde kamen nie in den Ort, und so schien alles gut zu gehen. Es wurde zur Routine! Wir waren perfekt und wurden immer besser – aber nie sorglos. Drohte Besuch von der oberen Polizeibehörde oder vom Sicherheitsdienst, dann warnte uns Hubert Wickert früh genug.“
Der Alte drückte sich von der Wand ab und gab den Wirtsleuten ein Zeichen. Sie zapften ein Bier, von dem er – mit leisem Schlürfen - nur einen kleinen Schluck nahm. Auch die anderen Gäste tranken, verlangten Bier, streiften die langen Aschekegel von den Zigarren. Es blieb still, keiner sprach laut, niemand wollte gehen.
„Deinem Onkel war es nicht genug, was wir da taten, Joseph. Er wollte mehr tun als das langweilige Beschützen, das Verstecken der beiden Familien.
Wir müssen ein Zeichen setzen, sagte er. Wir müssen etwas tun, was sich nicht mehr verheimlichen lässt, was wie ein Fanal wirkt, was auch im Ausland bekannt wird. Sein geheimer Plan bekam Konturen, aber Genaues wollte er immer noch nicht sagen.
An einem seiner Angeltage bin ich mit ihm gegangen. Wir saßen da, schauten aufs Wasser, warteten auf den Ruck an der Angel. Und dann erzählte er plötzlich. Ich dachte im ersten Augenblick, er mache Spaß; aber es war kein Spaß – es war bitterer Ernst.
Er plante, in den inneren Kreis der Nazigrößen vorzudringen. Er wollte als Maulwurf Karriere machen. Ich schaff´s bis nach Berlin, sagte er. Nur, wie konnte er schnell voran kommen? Er musste bekannt werden, musste sich einen Namen machen. Sie nahmen ja gerne solche Leute, die sich durch eine besondere Tat ausgezeichnet hatten. Das wusste Heinrich! Aber noch, so sagte er, hätte er keine Idee.“
„Und das, Bäcker, das Vertrauen, das er dir entgegenbrachte, das hast du missbraucht. Du warst schlimmer als Judas!“
„Du weißt noch nicht alles! Heinrich führte Tagebuch. Er schrieb täglich alles in diese Kladden, was ihn bewegte, was wir geplant und getan hatten. Das war äußerst gefährlich in der damaligen Zeit; wir haben ihn oft gewarnt. Heinrich hat immer nur abgewunken und uns wegen unserer Ängstlichkeit verlacht.
Ich wollte ihn eines Tages abholen, aber er war noch nicht zurück von einer Besorgung. Warte in seinem Zimmer, sagte seine Mutter. Ich wartete also, und dann sah ich die Tagebuchkladde auf seinem Bett liegen. Ich hab einfach reingeschaut, hatte ein mächtig schlechtes Gewissen. Was ich da las, machte mich verrückt. Ich konnte es nicht fassen, was er da hingeschrieben hatte. Die Überschrift hatte ein Fragezeichen. Ein wahnsinniger Plan? stand da.
Ja, es war ein wahnsinniger Plan; er wollte die beiden Judenfamilien opfern. Er wollte sie sozusagen als Eintrittskarte benutzen. Ihr glaubt nicht, wie genau er dieses Vorgehen beschrieben hatte. Wenn er dann in den inneren Kreis vorgestoßen wäre, wollte er die Nazigrößen, womöglich sogar den Führer, in die Luft sprengen. Sprengstoff hätte er schon genügend geklaut und gehortet.
Ich begriff plötzlich, warum er in der letzten Zeit so oft abwesend gewirkt hatte, warum er sich nicht mehr einteilen lassen wollte für den Dienst zur Versorgung der Judenfamilien. Vielleicht wollte er es sich selber leichter machen, sie nicht mehr täglich ansehen müssen. Wie real der Plan war, erkannte ich, als ich das beschriebene Versteck aufsuchte. Mit der Menge Sprengstoff konnte er einen ganzen Häuserblock umlegen, und mit dem Sprengen kannte er sich auch aus.“
Es war geisterhaft still im Lokal; als wären sie erstarrt, zu Stein geworden, standen sie da und glotzten den alten Mann an, der zitternd an der Theke stand, nervös einen Schluck aus seinem Bierglas trank. Joseph war blass geworden; er hatte Magenschmerzen, krümmte sich leicht.
„Weiter!“, verlangte er heiser; jetzt wollte er alles wissen.
„Wir haben ihn dann zur Rede gestellt. Ich hab´s ihm auf den Kopf zugesagt. Es störte ihn überhaupt nicht, dass ich sein Tagebuch gelesen hatte. Dann wisst ihr´s endlich, sagte er erleichtert. Ja, er war nicht abzubringen von seinem Plan. Es machte ihm nichts aus, dass die Menschen in dem Jagdhaus ihm so vertrauten, ihn mochten – ja sogar wie einen Sohn liebten. Er wollte die fünf jüdischen Menschen opfern, deine Sarah war ja noch nicht da, ihr ältester Bruder David war schon 39 geboren worden. Er hätte nicht nur sie geopfert, sie umbringen lassen, denn ihr Tod war sicher. Er wusste auch, dass sie fragen würden, wer die Juden so lange versteckt, wer sie verpflegt hatte. Dass wir damit auch geliefert waren, das sah er als schlimm, aber als notwendig im Sinn der großen Sache an.
Euch wird nicht viel passieren, sagte er so einfach. Das wird als jugendliche Verfehlung abgetan. Vielleicht kommt ihr einen Monat in den Bau, sagte er. Aber das müsse uns die Sache doch wert sein; es gehe ums Ganze. Vielleicht hatte er recht, vielleicht hätten sie uns milde bestraft wegen der Versteckgeschichte.
Aber war das schon alles? Nein, er hätte das ganze Dorf ausgeliefert. Wisst ihr, was passiert wäre, wenn er das Attentat durchgeführt hätte? Sie hätten nicht nach Schuldigen, nach Mitwissern gesucht. Oh nein! Sie hätten unser Dorf, aus dem der Attentäter stammte, von der Landkarte wegradiert. Dafür gibt´s Beispiele! Sie hätten alle umgebracht oder in die KZs gesteckt, unsere Häuser mit Panzern platt gemacht; das war mal sicher.“
Hermann Bäcker schien es nicht gut zu gehen, auf seiner graublassen Stirn standen Schweißperlen. Er schob sich mühsam auf einen Thekenschemel, trank noch einmal sehr langsam, bis das Glas leer war. Der Wirt stellte ihm unaufgefordert ein frisches Bier auf die Theke.
„Wir wussten es“, sagte er leise, sehr langsam. „Wir wussten es genau, was passieren würde. Wir sagten es ihm; wir baten ihn; wir drohten ihm und verlangten Solidarität mit uns. Er war nicht zu bewegen.
Dann haben wir uns, ohne Heinrich, heimlich mit Hubert Wickert getroffen. Wir sagten ihm alles! Er teilte unsere Sicht; er wusste noch besser als wir, was das bedeutet hätte. Wir haben uns wie im Fieber beraten, haben uns gestritten und dann endlich für das entschieden, was du weißt.
Wir haben ihn geopfert und ausgeliefert, ja. Wir haben es gemacht, um die beiden Familien und das Dorf zu retten. Ohne Hubert Wickert wäre das nicht gegangen. Er verhörte Heinrich und schrieb alles so nieder, wie es sinnvoll war. Hubert alleine erstellte das Protokoll, lieferte zusammen mit dem Sprengstoff ein fertiges Untersuchungsergebnis. Er wurde damals sogar dafür ausgezeichnet; er hat sich immer dafür geschämt.
Er schilderte Heinrich als vertrottelten Halbidioten, der ein bisschen schwierig sei, ein bisschen spinnen würde. In seinem Zustand habe er nicht gewusst, was er da plante. Das rettete ihn vor der Erschießung, und man schickte ihn an die Front, zu diesem berüchtigten Todeskommando.“
Hermann Bäcker sah langsam hoch, streifte die Männer an der Theke mit einem verschleierten Blick, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rutschte vom Hocker.
„Kann ich jetzt gehen?“, fragte er zu Joseph Krüger hin, der blass und steif vor ihm stand. „Ach ja! Im Jahr, als der Krieg vorbei war, es war im Mai 45, da kam Sarah zur Welt, deine Frau. Wir hatten Glück, dass sie nicht früher geboren wurde, dann hätten wir wohl ein größeres Problem gehabt, nicht wahr, Joseph?
Die Goldschmidts zogen ins Nachbardorf, wie ihr wisst. Da bist du dann der Sarah wohl irgendwann über den Weg gelaufen. Haben dir deine Schwiegereltern nie was gesagt? Nein? Ich versteh sie. Sie haben keinem aus diesem Dorf mehr getraut, wohl bis zum Tod nicht. Die, denen sie getraut hatten, die waren tot oder verschwunden. Großbergers gingen nach Amerika. Aber das wisst ihr sicher besser als ich. Sie mochten hier nicht mehr leben.“
Er ging schwankend zur Tür und die Männer traten still zur Seite, bildeten eine Gasse für ihn.
„Halt! So nicht! Du Lügner!“ Joseph Krüger stand da, leicht vorgebeugt, zeigte mit zittriger Hand auf Hermann Bäcker.
„Was ist? Hast du noch nicht genug gehört? Reicht es dir nicht?“
„Du hast uns deine Geschichte erzählt; nichts davon ist wahr!“
„So ist es! Hau ab, du altes Nazischwein! Verräter!“ Es war eine junge Stimme; sie kam von der Theke; der Sprecher war verdeckt, versteckt hinter den breiten Rücken der vor ihm Stehenden.
„Du hörst es, was wir hier von dir halten!“
„Dann fragt doch Hubert Wickert! Er kann´s euch ja bestätigen!“
„Das hätte der längst getan, wenn es stimmen würde, was du da schwafelst. Der hätte nicht das Maul gehalten - der nicht!“
„Wir haben uns damals geschworen, nichts zu sagen, niemals! Jetzt sind alle tot; nur Hubert und ich sind noch da. Könnt dem Hubert ja sagen, dass ich unser Versprechen gebrochen hätte; ich entbinde ihn von diesem Schwur.“
„Quatsch! Ihr alten Nazis habt euch abgesprochen!“, schrie Joseph Krüger, blickte dabei die Umstehenden an.
„Wenn du meinst; dann lass es bleiben.“
„Wo sind die Beweise für deine Geschichte? Wo? Es gibt keine, kann keine geben!“
„Nun, dann such doch mal nach dem Tagebuch von Heinrich. Vielleicht... Wer weiß? Da könntest du den Beweis finden. Würdest du es hier vorlesen, wenn du es findest, Joseph?“
„Verschwinde! Hau ab! Hau endlich ab!“
„Ja sicher, ich geh jetzt. Aber ich hinterlass euch was – euch allen hier. Zweifel! Jetzt sind sie da, nicht wahr? Zweifel, die sich ausbreiten werden wie ein Krebsgeschwür. Diese Männer hier, die erzählen es ihren Frauen; ihre Frauen erzählen es beim Bäcker, beim Friseur und beim Metzger. Ihr werdet sie nie mehr los, diese Zweifel. Und es wird Schluss sein, mit dem dörflichen Frieden, lieber Joseph! Es wird zwei Lager geben. Schluss mit Heldenverehrung! Warte es nur ab. Ich sagte ja, es wäre besser, wenn ich schweigen würde. Aber du wolltest ja die Wahrheit hören!“
Die Tür schloss sich quietschend hinter Hermann Bäcker. Sie starrten auf die Tür, als käme von dort die Erlösung. Es blieb still; man konnte Hüsteln hören und das leise Klirren eins Glases.
Sie tranken ihre Biere, wagten nicht, sich anzusehen. Langsam, zögernd nur, kamen die ersten Gespräche auf, befassten sich mit Fußball, dem Wetter und dem Gerücht, dass die Grundschule erweitert würde. Niemand lachte.
„Ich geh dann mal“, sagte Joseph Krüger zu seinen Vorstandskollegen, die verlegen nickten und wegsahen.
„Hier, hinter mir auf der Bronzetafel, stehen die Namen der Opfer des letzten Weltkrieges, die Namen der Männer, die durch die Nazis ermordet wurden oder an der Front für einen Wahnsinnigen starben. Das sind nur die Namen der Verratenen und Verkauften, die unsere kleine Gemeinde zu verzeichnen hat.
Ob uns persönliche Betroffenheit bewegt, wie es bei mir der Fall ist, wenn ich den Namen meines Onkels Heinrich Schulte lese, oder ob wir die Toten nur kannten – als Nachbarn, Freunde, Kollegen -, immer erlitten wir durch ihren Tod einen großen Verlust.
Aber ihm, Heinrich Schulte, verdanken wir mehr! Er hat gezeigt, dass es in unserer Jugend Widerstand gab, dass dieses kleine Dorf sich nicht geduckt hat. Er musste dafür mit seinem Leben büßen, das er selbstlos hingab. Dafür danken wir ihm und gedenken seiner in besonderer Weise.“
Joseph Krüger hob den Kopf und sah bedeutungsvoll zum dunklen Himmel hoch, der mit regenschweren Wolken bedeckt war. Das war das Ende seiner langen, frei gesprochenen Trauerrede, wie er sie in jedem Jahr hielt. Man sah seinem Gesicht die tiefe Bewegung an, konnte seine Trauer ablesen.
„Ich lege jetzt - wie an jedem Volkstrauertag - im Namen des Heimatvereins einen Gedenkkranz nieder. Wir wollen danach stille werden und darum bitten, jeder für sich, dass so ein Krieg – nein, dass jeder Krieg – jetzt und in Zukunft nicht mehr möglich ist.“
Er warf einen Blick hinüber zu den Zuschauern, die sich unter Regenschirmen duckten, sie gegen den Schneeregen stemmten, der im böigen Wind schräg heran trieb. Ihre Gesichter konnte er nicht sehen, aber er wusste, dass es die selben Männer und Frauen waren, die auch in den anderen Jahren zur Gedenkfeier gekommen waren.
Sehr Alte, die den Weltkrieg erlebt hatten, standen dort, gestützt auf ihre Gehstöcke, Ehepaare, deren Eltern oder Verwandte gefallen oder vermisst waren, dabei einige wenige Kleinkinder, die ihre bunten Schirme spielerisch hin und her wirbelten. Junge Leute kamen nie, sie fanden die Gedenkfeier unnötig, hatten keine Beziehung mehr zu den Dingen, von denen er sprach.
„Ist doch alles alter Mist! Wen interessiert das denn noch? Macht lieber ne Demo gegen die Amis und ihren Chef, diesen Cowboy aus Texas!“, hatte ihm sein eigener Sohn beim Frühstück gesagt, als er ihn bat, zur Gedenkfeier zu gehen.
Er trat vom Mikrofon zurück, sah den beiden Feuerwehrleuten zu, die den schweren, mit roten Nelken und gelben Chrysanthemen geschmückten Kranz an den Steinsockel des wuchtigen Denkmals legten. Mühsam bückte er sich, ordnete demonstrativ langsam die grünweiße Schleife mit der Inschrift „Zum Gedenken – Der Vorstand des Heimatvereins“ und stand dann für einige Sekunden still, den Blick gesenkt, die Hände schlaff herabhängend.
Er dachte an den einzigen Toten des Weltkrieges, den seine Familie zu beklagen hatte, Heinrich Schulte, den er kaum gekannt hatte, aber der ihm so nahe war wie kaum sonst jemand; er war ein Mythos, ein tragischer Held, dessen Namen jeder im Dorf kannte; er wurde im Unterricht erwähnt, wenn es um den Widerstand gegen Hitler und die Nazi-Diktatur ging.
Der Heimatverein hatte ihm schon vor Jahren ein Kapitel im historischen „Bergfelder Heimatbuch“ gewidmet. Er war ihr Held, ihr Vorzeigewiderständler. An ihm konnte man sich aufrichten nach dem Krieg; mit Nennung seines Namens ließen sich alle Fragen beantworten.
An den dunklen Wintertagen in seiner Jugend hatte seine Mutter von ihm erzählt, ihn in bunten Farben gemalt, ihre unendliche Trauer beklagt und ihm das Gefühl vermittelt, einen ungeheuerlichen Verlust erlitten zu haben.
„Ich werde dich nie vergessen, Onkel Heinrich!“, dachte er und beschloss, damit die Gedenkminute zu beenden.
Die grün gekleideten Musiker blickten auf ihre durchnässten Notenblätter; der Musikzugführer hatte den Taktstock bereits leicht angehoben, verharrte so und sah ihn auffordernd an.
Joseph Krüger gab ihm das Zeichen, indem er leicht nickte, und sofort hob sich der Taktstock. In der andächtigen Stille klangen die Trompetenstöße, die Trommelschläge überlaut, ließen die Kinder erstaunt still stehen. Langsam, bedächtig spielten sie, betonten damit, dass das Lied „Ich hatt´ einen Kameraden“ ihr bewusster Beitrag zur Gedenkfeier war.
Als wollte der Himmel den Musikern beistehen, hörte der Regen nach den ersten Tönen auf. Die Zuhörer brauchten einen Augenblick, stutzten, blickten misstrauisch zum Himmel, falteten dann erleichtert die Schirme zusammen, schüttelten sie aus und richteten ihre Blicke - neu gesammelt - auf die dunkel gekleideten Menschen vor dem Denkmal, lauschten der vertrauten Melodie, einige summten sie sogar mit.
Joseph Krüger, der langjährige Vorsitzende des Heimatvereins, und seine Vorstandsmitglieder, die schräg hinter ihm ausharrten, waren vom kalten Regen durchnässt, aber es wäre ihnen nie eingefallen, bei der Gedenkfeier einen Schirm zu tragen.
Joseph blickte in die Gesichter der Menschen, die in einer langen Reihe auf dem Bürgersteig gegenüber standen.
Er kannte sie alle, wusste von jedem Mann und jeder Frau genug, um sie richtig einzuordnen. Fremde verirrten sich selten in den kleinen Ort, der nichts bot, was sie herlocken konnte.
Ganz links, abgerückt von den anderen, da stand der alte Hubert Wickert, der pensionierte Dorfpolizist, der schon die Neunzig überschritten hatte.
Er mochte diesen so milde dreinschauenden, einsamen Alten nicht - er grüßte ihn nicht einmal. Und so hielten es - mehr oder weniger - alle Bergfelder, die als „Alteingesessene“ galten.
Der Abstand zwischen Hubert Wickert und den anderen Zuhörern war zu groß, als dass man ihn für zufällig halten konnte. Sie bildeten eine eigene Gruppe, die „alten“ Bergfelder; etliche Ehepaare, Nachbarn aus seiner Straße, dann einige Rentner, alle dicht gedrängt, als suchten sie Schutz vor dem eisigen Wind. Er streifte die Gesichter nur flüchtig, reagierte nicht auf vereinzeltes Nicken, das ihm Zustimmung, Zugehörigkeit signalisierte.
Sie hielten einen Abstand von mehr als einem Meter, zeigten an, dass sie noch lange nicht dazu gehören würden. Es waren Hinzugezogene aus dem kleinen Neubaugebiet am Hügel, die sich erstmals eingefunden hatten.
Dann stutzte er, sah noch einmal die Reihe durch. Sein Blick blieb hängen; er starrte in das Gesicht, das nicht hier hin gehörte, das erst Nachdenken, Besinnen forderte, bis er es an einem Namen festmachen konnte.
Der Mann stand ein wenig hinter den Neubürgern, blickte ihn starr, fragend an. Er war alt, stand gebeugt, mit etwas auseinandergestellten Beinen da, als schwanke er, brauche Halt. Sein langer dunkler Mantel sah schäbig, abgetragen aus; ein breitkrempiger, schlaff hängender Hut hatte ihn wohl vor dem Regen schützen sollen.
„Im gleichen Schritt und Tritt“, spielte die Blasmusik; die träge ineinander laufenden Töne drängten sich in Josephs Kopf, aber er hörte sie nicht mehr.
Er wusste, wer da stand, starrte zurück in das alte, gefurchte Gesicht, das ihn nicht los ließ, das ihn zwingen wollte, Erkennen zu zeigen. Sein Nacken wurde steif; er spürte einen Stich im Magen und fühlte einen leichten Schwindel.
Der letzte Ton des traurigen Liedes verklang klagend. Die Instrumente wurden erleichtert gesenkt, Schirmmützen an den Knien abgeschlagen, Mundstücke ausgeschüttet, feuchte Notenblätter in die Uniformtaschen gezwängt. Spät erst wurde ihm bewusst, dass alle auf ihn warteten.
„Ähm! Liebe Bergfelder, ich bedanke mich bei unserem Bergfelder Musikzug und seinem Zugführer Toni Bruder für das schön gespielte Lied. Der Vorstand wünscht euch einen schönen Tag.“
Er ging - wie automatisch angezogen - schräg weg vom Denkmal, genau auf den Mann zu, der sich nicht rührte, um den die Leute einen kleinen Bogen machen mussten.
„Joseph! He! Wo willst du hin? Der Grüne Krug ist da drüben!“
Er blieb stehen und blickte sich zögernd um. Seine Vorstandskollegen standen hinter ihm, blickten ihn erstaunt, belustigt oder auch stirnrunzelnd an.
„Entschuldigt! Ich war total in Gedanken versackt.“
„Hat man gemerkt“, lachte Otto Kemper, sein Stellvertreter, und legte ihm den Arm um die Schulter. „Komm, das Bier ist schon gezapft.“
Er ließ sich mitziehen; er wusste, was sich gehörte. Nach der Gedenkrede gingen sie immer in den Grünen Krug, und immer gab er die erste Runde für den Vorstand aus. Dann prosteten sie ihm zu, lobten seine klugen Worte, seine zu Herzen gehende Rede.
„Kann man nix gegen sagen; is alles wahr, was du gesagt hast“, pflegte sein Kassierer, Helmut Schreiber, regelmäßig als Abschluss zu bemerken.
Er seufzte und dachte an sein einsames Haus. Sein Sohn würde erst in der Nacht - wenn überhaupt - zurück kommen. Er wurde nicht erwartet - seit drei Jahren schon nicht mehr. Sarah war am Krebs gestorben, hatte ihn alleine gelassen. Er konnte, er wollte ihr das nicht verzeihen, dachte oft mit Groll daran, dass sie alle Warnungen lachend in den Wind geschlagen hatte.
„Ich und krank? Hast du mich jemals krank gesehen? Ich brauch‘ keinen Doktor, der macht die Leute nur kränker; wovon soll der sonst leben?“
Er warf einen Blick zurück, aber der Mann war weg; nur ein paar Leute standen in einer Gruppe diskutierend zusammen.
Die Frauen gingen einzeln oder zu zweien auseinander, mahnten beim Abschied ihre Männer, nicht zu spät zum Mittagessen zu kommen. Die drängten sich durch die Tür des Grünen Kruges, verteilten sich im schmalen Schankraum, suchten sofort nach Bekannten oder Freunden, zu denen sie sich stellen wollten. Sie belegten die Theke, füllten den dunkel getäfelten Gastraum aus, der nur durch trübe, gelbe Lampen knapp erleuchtet wurde.
Der Wirt und seine Frau zapften wie immer, gekonnt, schnell und ohne auf eine Bestellung zu warten. Sie wollten alle rasch ein erstes Bier, manche bekamen ihren üblichen Schnaps sofort dazu gestellt.
Lachen schwirrte durch die Luft, Namen wurden hinüber und herüber geworfen, launige Bemerkungen mit Gelächter quittiert; man rief sich spöttische, witzige Wortspiele zu, grüßte Bekannte mit erhobenen Glas, bedankte sich mit lautem „Prost!“ für ein gespendetes Bier.
Jeder verstand nur die Worte, die direkt an ihn gerichtet waren, der Rest war ein dichter Geräuschteppich, in dem nur einige markante, besonders laut gerufene Worte hörbar waren: „Prost!“, „Danke für die Runde!“, „Auf die Überlebenden!“, „Lass es dir schmecken!“, „Prima gesprochen, Joseph!“ und ähnliche Rufe.
Er stieß mit seinen Vorstandskollegen an, trank das Glas mit einem Schluck halb leer, wischte sich den Bierschaum von den Lippen, setzte das Glas bedächtig auf den Tresen - und dann erblickte er ihn.
Der Alte stand ganz am Ende, an der Querseite der Theke, die eine L-Form hatte. Er hob sein Glas an, hielt es Joseph entgegen; man konnte mühelos von seinen Lippen „Prost Joseph“ ablesen.
Joseph Krüger sah ihn an, fühlte sofort wieder den Stich im Magen, ließ das Glas stehen und drehte sich weg zu seinem Stellvertreter.
„Weißt du, wer da hinten - ganz am Ende der Theke - steht, Otto?“
„Ne, wer ist das?“. fragte Otto nach einem forschenden Blick.
„Bäcker, Hermann Bäcker! Erinnerst du dich?“
„Bäcker? Warte mal – Bäcker, Bäcker? Mensch, das glaubst du doch nicht wirklich? Der Bäcker soll das sein? Verdammt, du hast recht, er könnte es sein. Vom Alter her... Warte mal! Der war damals, ich glaube so ungefähr achtzehn? Das war – warte, 1944 – das sind genau 57 Jahre. Dann müsste der jetzt so um die 75 sein. – Könnte stimmen!“
„Ich sag´s doch. Da muss ich nicht erst rechnen; ich kenn doch sein Gesicht. Mutter hat es mir oft genug auf den alten Fotos gezeigt. Er mit Heinrich! Ich hab´s abgeschnitten und in den Ofen geworfen.“
„Vergiss es, Joseph, es ist zu lange her. Das kannst du heute nicht mehr werten, es ist verjährt, vergessen und vorbei. – Komm! Trinken wir noch eins!“
„Nein! Nichts ist vergessen! Nach 57 Jahren taucht der hier auf, als wäre nichts passiert! Ich fass es nicht. Und dann an diesem Tag, an dem Tag, an dem wir hier seiner gedenken!“
„Lass sein, Joseph, was willst du noch von ihm?“
„Antworten! Ich will wissen warum!“
Er stieß Ottos Glas an die Seite, drückte sich durch die Männer, die auf Hockern sitzend oder stehend den Weg versperrten. Die Luft war schwer geworden vom Dunst der nassen Kleider. Dichter Qualm waberte inzwischen durch den Raum, hing unter den Lampenschirmen, die dicht über den Biergläsern schwebten.
Der Dunst versperrte ihm etwas die Sicht, Köpfe wuselten vor seinem Gesicht herum. Dann erblickte er ihn, sah, wie er mit müdem Gesicht, mit halb geschlossenen Augen die Männer neben sich beobachtete; er stand schräg, stark auf die Theke gestützt, und trank bedächtig aus seinem fast leeren Glas.
Joseph Krüger blieb hinter ihm stehen, sah auf den schmuddeligweißen Kragen, den von Altersflecken gefärbten Nacken, die spärlichen, ungepflegt hängenden weißen Haarzipfel.
„Warum bist du hier, Bäcker?“
Er drehte sich nicht um, ließ die Arme auf der Theke liegen, hob nur den Kopf leicht an.
„Trinkst du ein Bier mit mir, Joseph?“
„Nein! Mit Verrätern trinke ich nicht, Warum bist du hier? Was willst du? Glaubst du, wir hätten es jetzt endlich vergessen, oder denkst du, du könntest hier deinen Lebensabend verbringen?“
„Ich will mein Grab kaufen!“
„Was willst du?“
„Ich will hier beerdigt werden; hier ist meine Heimat. Alle meine Vorfahren liegen auf dem Bergfelder Friedhof. Für mich wird´s Zeit, ich muss wohl bald mit allem rechnen.“
„Wir wollen dich hier nicht haben! Weder tot noch lebendig! Ist das klar?“
„Nein! Was wirfst du mir vor? Wollt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen? Reicht es euch noch immer nicht?“
„Was ich dir vorwerfe? Verrat, Bäcker! Ich rede davon, dass du meinen Onkel Heinrich an die Nazis verraten und ausgeliefert hast!“
Den letzten Satz brüllte er so laut, dass seine Stimme die Wortsuppe, das Gebrause an der Theke - selbst noch am hintersten Platz - leicht übertönte.
Es wurde schlagartig still, nur die Wirtsleute zapften und lachten noch; sie lebten erst seit zehn Jahren im Ort, galten als Fremde, die nichts verstanden.
Alle Köpfe drehten sich zu den beiden Männern, die am Ende der Theke standen; Biergläser wurden auf dem Weg zum Mund angehalten; Zigarren machten vor den geöffneten Lippen halt und Lachen brach einfach ab.
„Du bist verrückt, Joseph! Lass mich in Ruhe! Lass mich in Ruhe mein Bier trinken und hau ab!“
„Nein, Bäcker! So nicht! Weißt du, wie oft ich an dich gedacht habe? Weißt du, wie oft ich „Verräter“ „Schweinehund“, Nazisau“ und noch einige andere Gedanken hatte, wenn nur jemand sagte, er müsse mal eben zum Bäcker? Jetzt bist du hier und wirst uns sagen, warum du deinen Freund - den Bruder meiner Mutter - an die Nazis verraten hast. Jetzt, hier und heute, wirst du es uns sagen. Wir hören dir alle zu!“
„Es wär besser für euch alle, wenn ich den Mund halte, Joseph – glaub mir.“
„Was willst du damit sagen? Willst du aus Opfern Täter machen? He? Ist mein Onkel vielleicht freiwillig in diese sogenannte Todeskompanie gegangen? Hat er vielleicht aus Überdruss den Tod gesucht? Hat er vielleicht sogar dich verraten - und nicht du ihn?“
„Du weißt gar nichts! Du warst damals noch ein Kind von fünf oder sechs Jahren. Ihr alle hier habt´s nicht miterlebt. Ihr habt noch in die Windeln geschissen oder seid an Mamas Hand spazieren gegangen. Ihr habt keine Ahnung!“
„Dann klär du uns auf! Sag uns, was daran falsch ist, wenn ich behaupte, dass du zum Hubert Wickert gegangen bist, unserem damaligen Nazi-Polizisten, und ihn angezeigt hast. Du hast behauptet, er plane ein Attentat auf die Bahnlinie; er habe dafür Sprengstoff gestohlen und gehortet. Du hast ihnen das Versteck gezeigt, in dem er den Sprengstoff gelagert hatte, gesammelt aus dem Steinbruchbestand.“
Joseph Krüger atmete schwer, spürte wieder die Stiche im Magen, einen üblen Geschmack im Mund; er hätte ihn gerne mit einem Schluck Bier runter gespült. Er streckte seine Hand aus und drückte dem Alten den Finger auf die Brust.
„Es hat ihm nichts genutzt, dass er alles abstritt. Seine Aussage, sich als Gehilfe des Schießmeisters einen kleinen Vorrat angelegt zu haben, um Silvesterfeuerwerkskörper zu bauen, wurde nicht akzeptiert. Das hätte ihm höchstens einen Monat Gefängnis gebracht, mehr nicht.
Wir wissen aus Briefen, dass er mehr vor hatte. Er wollte es den Nazis zeigen, hat er von der Front geschrieben. Du hast das verhindert, Bäcker. Du hast ihn zum billigen Attentäter gemacht. Wir alle hier wissen, dass er mehr war. Er wollte gegen das Regime aufstehen! Was hast du für deinen Verrat bekommen von den Nazis?“
„Nichts! Ich habe nur Schlimmeres verhindert! Ich habe einen dummen Jungen angeschwärzt, der uns alle ins Unglück stürzen wollte! Ich habe dieses Dorf damit beschützt, euch alle – besonders eure Alten, um genau zu sein – und ich war nicht alleine dabei.“
Joseph Krüger lachte laut auf, hieb auf die Theke und sah sich um.
„Habt ihr´s gehört? Habt ihr´s begriffen? Nicht dieser Kerl hier ist der Schlimme, der Verräter. Oh nein! Heinrich, der Bruder meiner Mutter, ein Junge von gerade mal 17 Jahren, der keinem was antat, der jedem half, der als Messdiener und als Sänger im Kirchenchor bekannt war, der jeden Tag mit der Angel zum Bach ging und die gefangenen Fische wieder ins Wasser warf, der unschuldig war wie sonst kaum jemand - der ist plötzlich der Bösewicht.“
„Nicht nur er! Auch noch ein paar andere aus diesem frommen, unschuldigen Dorf waren schuldig. Die, die zwei alteingesessene Judenfamilien plötzlich hassten und verachteten wie die Pest. Das ist alles vergessen, nicht wahr?“
„Was willst du hier aufrechnen, Bäcker?“
„Ich will nichts aufrechnen, Joseph – du willst es, nur du drängst!“
„Versteck dich nicht hinter verlogenen Worten! Komm raus mit deinen Gründen; sag uns, was war.“
„Dein Onkel Heinrich, lieber Joseph, war ein Verirrter und ein Verwirrter; ihm ist plötzlich was in den Kopf gekommen; er wollte die Welt verbessern und sah nicht, was er anrichtete.“
„Was sagst du da? Mein Onkel war ein Verwirrter? Du! Du bist verwirrt! Das macht nicht nur das Alter, Bäcker!“
„Was weißt du denn? Es gab damals einen Freundeskreis, schon von der Volksschule her. Herbert Große, Heinz Bruder, Erwin Schwind, Heinrich Schulte und ich. Ihr erinnert euch an sie? Ihr habt gerade für sie gebetet. Die ersten drei sind 45 gefallen, als wir zum letzten Kommando eingezogen wurden, als Volkssturm zur Verteidigung der Heimat. Nur ich hab´s gerade noch so überlebt; ich war schwer verletzt, lag mit einem Lungensteckschuss lange im Lazarett.“
„Hast unverdientes Glück gehabt, Bäcker! Was haben die drei anderen mit deinem Verrat zu tun?“
„Genug! Die drei, dein Bruder und ich, wir waren eine verschworene Gruppe. Wir waren so etwas wie Blutsbrüder, unzertrennlich, eingeschworen auf Tod und Teufel.“
„Und du, du warst der Judas unter ihnen! Du warst ihr Verräter!“
Die Heftigkeit, die Wut dieser Anschuldigung ließ den Alten einknicken, er wirkte unsicher, gab wohl sein Vorhaben auf, endlich Klarheit zu schaffen.
„Ich will nichts mehr sagen! Schluss! Es reicht!“
„Es ist nicht genug! Sag es uns endlich! Warum bist du zum Hubert Wickert gegangen? Du wusstest doch, dass er ein Nazi war - wie fast alle Polizisten.“
„Hubert? Wenn du dich da man nicht irrst! Ihr habt alle keine - überhaupt keine - Ahnung! Warum ist der Hubert denn nicht hier? Weil ihr ihn schneidet seit damals! Weil ihr ihm ein Teil Mitschuld gebt an dem, was deinem Onkel passiert ist. Nichts wisst ihr! Ihr habt noch nie begreifen wollen!“
Er drückte sich weg von der Theke, legte ein Zweimarkstück auf die Platte und wollte an Joseph vorbei, zur Tür. Mit harter Hand fasste der ihn am Mantel, riss ihn herum, zog ihn dicht zu sich heran. Ihre Gesichter waren so dicht voreinander, dass sie nur noch die Augen des anderen sehen konnten.
„Du bleibst! Du gehst erst, wenn ich es sage! Hast du gehört!“
„Lass ihn gehen, Joseph! Es ist genug!“, rief Otto vom anderen Ende der Theke und wollte sich zu ihnen durchdrängen. „Lass den alten Mann in Ruhe, Joseph. Du kannst nichts mehr ungeschehen machen.“
„Halt dich raus, Otto! Ich will endlich begreifen, was einen Mann aus unserem Dorf dazu bewegt hat, seinen besten Freund zu verraten; ich muss es wissen!“
Niemand an der langen Theke rührte sich, keiner trank; selbst die Wirtsleute hatten aufgehört, ihre Gläser auszuspülen, der Wischlappen lag vollgesogen, vergessen, unter dem tropfenden Bierhahn.
„Du willst es nicht anders! Du willst alles wissen? Nun gut; dann soll´s wohl so sein.“
Er drehte sich aus dem Griff von Joseph, stellte sich ein Stück weg, lehnte sich an die Wand neben dem Thekenende. Sie schauten ihn alle an, sahen zu, wie er seine Augen schloss und die zittrigen, schmalen Hände an die Wand drückte.
„Ja, wir fünf Jungen waren eins; wir wollten sogar füreinander sterben. So einen Unsinn haben wir damals gesprochen. Wir hatten Pläne! Mein Gott, was waren wir naiv; wir wollten die Welt retten, wollten Frieden für alle Menschen. Wir suchten regelrecht nach Aufgaben und sehnten uns nach der Gefahr.
Als 39 die Nazis an die Macht kamen, als sie alle Juden zusammentrieben, als sie auch hier, in unserem kleinen Dorf anfingen, und Plakate gegen den Kauf bei Juden aufhängten, da fing eine neue Zeit an. Es kribbelte in uns; wir saßen nächtelang zusammen und diskutierten. Wir wussten, dass es auch die Juden in unserem Dorf anging, dass sie nicht verschont würden. Nur Heinrich, der fing schon damals an, redete von großen Aufgaben, die auf uns zukämen, machte Andeutungen über einen Plan, an dem er arbeite. Unser Fragen nach seinen Vorstellungen beantwortete er nur mit Kopfschütteln. Er sonderte sich immer mehr von uns ab.
Für euch hier, für euch ehrbaren Bürger, die seit Generationen mit Goldschmidts und Großbergers zusammenlebten, in die Schule gingen, am Stammtisch saßen, gegenseitig Hilfe leisteten und gegen die anderen Dörfer Fußball spielten, für euch waren diese beiden Familien plötzlich Aussätzige.“
Er öffnete seine Augen, sah in die Gesichter, die ihn anstarrten; noch war keine Feindschaft zu erkennen. Dann schaute er Joseph an, der ihn blass, mit gerunzelter Stirn, betrachtete wie ein bösartiges Insekt.
„Du bist ein Verräter – und du willst unsere Gemeinschaft in den Dreck ziehen. Ich weiß, was da kommen soll!“
„Ach, du weißt es? Dann erklär´s mir doch! Sag mir, warum sich plötzlich alles änderte. Ihr kauftet nicht mehr bei ihnen, spracht nicht mehr mit ihnen, und ihre Geschäfte wurden irgendwann geschlossen. Keiner von euch hat sich für sie eingesetzt, niemand hat sie getröstet, hat ihnen geholfen.“
„Du redest Stuss! Das war überall so! Das kam von oben; hier im Dorf hatte keiner damit zu tun!“
„So? Wer hat ihnen denn am Heiligen Abend 39 die Scheiben eingeworfen? Waren das die da oben? Wer hat den Goldschmidts denn im Frühjahr 40 die Jauche in den Flur geschüttet? Waren das die da oben?“
„Das sind Gerüchte, keiner hat jemals Klage erhoben!“
„Na, wie auch! Lassen wir das. Überall trieben sie die Juden zusammen. Auf dem Dorf geht alles langsamer; es dauerte bis Ende 41, bis die Nazis auch hier mit der Deportierung der beiden Familien beginnen wollten. Wir wussten es von Hubert Wickert, der es deinem Onkel Heinrich steckte, es wie beiläufig erwähnte. Der SD, der Staatssicherheitsdienst, hatte bemerkt, dass es da noch ein nicht judenfreies Dorf gab. Da wussten wir, was wir tun wollten, was wir tun mussten.
Wir waren gerade mal 14 oder 15, steckten voller romantische Träume, hatten eine Menge unausgesprochener Hoffnungen; jeder hatte natürlich völlig andere. Eines aber hatten wir Fünf gemeinsam: Wir hassten die Nazis, ihre dummen Sprüche, den Krieg und die Nazi-Hetzerei gegen die Juden.“
Er sah sich wieder um, prüfte die Gesichter, die abweisend, ohne erkennbare Zustimmung, immer noch zu ihm gedreht waren. Er wusste, was sie dachten.
„Wir alle kannten und mochten die Goldschmidts - deine späteren Schwiegereltern, lieber Joseph - und die Großbergers, seitdem wir geboren waren. Wir spielten bei ihnen auf den Höfen und in den Gärten, kauften bei Goldschmidts unsere Wurst, sahen ihm beim Schlachten zu und bekamen oft ein Stück Fleisch ab. Bei Großbergers ließ mein Opa schon die Pferde beschlagen; wir konnten stundenlang zusehen, mochten den beißenden Rauch, der von den Hufen aufstieg. Die sollten jetzt in die Konzentrations- oder Arbeitslager? Wir konnten es nicht glauben; dann fassten wir einen Plan: Wir würden diese Juden retten!
Der Anfang war schwer. Wir saßen lange mit ihnen zusammen, nahmen ihnen das Misstrauen, die Angst und die Lethargie, wir gaben ihnen eine richtige Hoffnung. Meine Eltern hatten hinten am Wald das Jagdhaus, das groß und gut ausgerüstet war; ihr kennt es ja alle gut genug. Es stand auf unserem Privatgrund, niemand kam da hin, keiner betrat unser eingezäuntes Grundstück.“
„Lenk nicht ab, Bäcker! Komm zur Sache! Was hat diese kindische Judengeschichte damit zu tun?“
„Wie du das sagst! Judengeschichte! Ja, so ist das hier. Wart´s nur ab! Mein Vater war schon lange an der Front, und meine Mutter mied das Jagdhaus wie die Pest. Sie fürchtete sich vor den Jagdtrophäen, die an den Wänden hingen. Die Augen der Vögel und der Pelztiere verhexten sie, hat sie mir mal gesagt.
Wir hatten also freie Bahn. In einer einzigen Nacht brachten wir alles, was tragbar war, rüber, versorgten sie außerdem mit allem, was fürs erste notwendig war.
Sie blieben dort im Haus, durften nicht einmal vor die Tür gehen, solange es Tag war; nur in der Nacht gingen sie an die Luft. Wir konnten keinem im Ort trauen; jeder galt als möglicher Verräter! Sie machten nur im Wohnzimmer Kerzen an; dafür hatten wir die Fenster ordentlich mit Brettern verschlossen.
Es ging gut; niemand kam zum Haus; selbst nicht, als sie die spurlos verschwundenen Juden suchten. Sie glaubten, die Juden hätten was mitgekriegt, wären abgehauen, zur Grenze gelaufen. Man gab erstaunlich schnell auf.
Nur einer, der Hubert Wickert, der hatte einen Verdacht. Eines Tages stand er da vor unserem Jagdhaus und fing uns ab, als wir heimlich Brot und Mehl hinbringen wollten. Er hat´s uns auf dem Kopf zugesagt! Und dann waren wir schon sechs, die unsere Juden beschützten.“
„Du spinnst dir da was zurecht! Der Wickert, der soll die Juden nicht verraten haben? Du erzählst Märchen, Bäcker!“
„Nein. Ihr versperrt euch vor der Wahrheit! Der Hubert war kein Nazi! Er half uns, sorgte dafür, dass es bis 45 gut ging. Wir hatten eine wahnsinnige Aufgabe. Wir mussten unauffällig Lebensmittel besorgen und alle anderen wichtigen Dinge. In jeder Nacht waren zwei von uns unterwegs. Wir zitterten vor dem Moment, in dem einer von den Juden krank wurde; es passierte aber nichts, außer Schnupfen war nichts.
Mehr als drei Jahre lebten die da in unserem Jagdhaus, gewöhnten sich an die Einschränkungen, mussten im Winter ohne Ofen auskommen, wickelten sich in die Decken, die wir reinschleppten. Sie waren unglaublich diszipliniert, nie verzweifelt. Wir brachten ihnen Bücher und Zeitungen, damit sie ungefähr wussten, was los war. Sie vertrauten uns blind! Hörst du? Sie vertrauten uns mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt. Sie drückten und küssten uns, wenn wir gingen – auch deinen Onkel; ihn mochten sie besonders. Er war immer so ernst und konnte ihnen lange zuhören. Sie kamen mir so arm, so verlassen vor.“
„Gesülze! Was soll der Mist? Willst du mir sagen, dass die niemand vermisste, dass die keiner suchte?“
„Niemand suchte nach ihnen, Fremde kamen nie in den Ort, und so schien alles gut zu gehen. Es wurde zur Routine! Wir waren perfekt und wurden immer besser – aber nie sorglos. Drohte Besuch von der oberen Polizeibehörde oder vom Sicherheitsdienst, dann warnte uns Hubert Wickert früh genug.“
Der Alte drückte sich von der Wand ab und gab den Wirtsleuten ein Zeichen. Sie zapften ein Bier, von dem er – mit leisem Schlürfen - nur einen kleinen Schluck nahm. Auch die anderen Gäste tranken, verlangten Bier, streiften die langen Aschekegel von den Zigarren. Es blieb still, keiner sprach laut, niemand wollte gehen.
„Deinem Onkel war es nicht genug, was wir da taten, Joseph. Er wollte mehr tun als das langweilige Beschützen, das Verstecken der beiden Familien.
Wir müssen ein Zeichen setzen, sagte er. Wir müssen etwas tun, was sich nicht mehr verheimlichen lässt, was wie ein Fanal wirkt, was auch im Ausland bekannt wird. Sein geheimer Plan bekam Konturen, aber Genaues wollte er immer noch nicht sagen.
An einem seiner Angeltage bin ich mit ihm gegangen. Wir saßen da, schauten aufs Wasser, warteten auf den Ruck an der Angel. Und dann erzählte er plötzlich. Ich dachte im ersten Augenblick, er mache Spaß; aber es war kein Spaß – es war bitterer Ernst.
Er plante, in den inneren Kreis der Nazigrößen vorzudringen. Er wollte als Maulwurf Karriere machen. Ich schaff´s bis nach Berlin, sagte er. Nur, wie konnte er schnell voran kommen? Er musste bekannt werden, musste sich einen Namen machen. Sie nahmen ja gerne solche Leute, die sich durch eine besondere Tat ausgezeichnet hatten. Das wusste Heinrich! Aber noch, so sagte er, hätte er keine Idee.“
„Und das, Bäcker, das Vertrauen, das er dir entgegenbrachte, das hast du missbraucht. Du warst schlimmer als Judas!“
„Du weißt noch nicht alles! Heinrich führte Tagebuch. Er schrieb täglich alles in diese Kladden, was ihn bewegte, was wir geplant und getan hatten. Das war äußerst gefährlich in der damaligen Zeit; wir haben ihn oft gewarnt. Heinrich hat immer nur abgewunken und uns wegen unserer Ängstlichkeit verlacht.
Ich wollte ihn eines Tages abholen, aber er war noch nicht zurück von einer Besorgung. Warte in seinem Zimmer, sagte seine Mutter. Ich wartete also, und dann sah ich die Tagebuchkladde auf seinem Bett liegen. Ich hab einfach reingeschaut, hatte ein mächtig schlechtes Gewissen. Was ich da las, machte mich verrückt. Ich konnte es nicht fassen, was er da hingeschrieben hatte. Die Überschrift hatte ein Fragezeichen. Ein wahnsinniger Plan? stand da.
Ja, es war ein wahnsinniger Plan; er wollte die beiden Judenfamilien opfern. Er wollte sie sozusagen als Eintrittskarte benutzen. Ihr glaubt nicht, wie genau er dieses Vorgehen beschrieben hatte. Wenn er dann in den inneren Kreis vorgestoßen wäre, wollte er die Nazigrößen, womöglich sogar den Führer, in die Luft sprengen. Sprengstoff hätte er schon genügend geklaut und gehortet.
Ich begriff plötzlich, warum er in der letzten Zeit so oft abwesend gewirkt hatte, warum er sich nicht mehr einteilen lassen wollte für den Dienst zur Versorgung der Judenfamilien. Vielleicht wollte er es sich selber leichter machen, sie nicht mehr täglich ansehen müssen. Wie real der Plan war, erkannte ich, als ich das beschriebene Versteck aufsuchte. Mit der Menge Sprengstoff konnte er einen ganzen Häuserblock umlegen, und mit dem Sprengen kannte er sich auch aus.“
Es war geisterhaft still im Lokal; als wären sie erstarrt, zu Stein geworden, standen sie da und glotzten den alten Mann an, der zitternd an der Theke stand, nervös einen Schluck aus seinem Bierglas trank. Joseph war blass geworden; er hatte Magenschmerzen, krümmte sich leicht.
„Weiter!“, verlangte er heiser; jetzt wollte er alles wissen.
„Wir haben ihn dann zur Rede gestellt. Ich hab´s ihm auf den Kopf zugesagt. Es störte ihn überhaupt nicht, dass ich sein Tagebuch gelesen hatte. Dann wisst ihr´s endlich, sagte er erleichtert. Ja, er war nicht abzubringen von seinem Plan. Es machte ihm nichts aus, dass die Menschen in dem Jagdhaus ihm so vertrauten, ihn mochten – ja sogar wie einen Sohn liebten. Er wollte die fünf jüdischen Menschen opfern, deine Sarah war ja noch nicht da, ihr ältester Bruder David war schon 39 geboren worden. Er hätte nicht nur sie geopfert, sie umbringen lassen, denn ihr Tod war sicher. Er wusste auch, dass sie fragen würden, wer die Juden so lange versteckt, wer sie verpflegt hatte. Dass wir damit auch geliefert waren, das sah er als schlimm, aber als notwendig im Sinn der großen Sache an.
Euch wird nicht viel passieren, sagte er so einfach. Das wird als jugendliche Verfehlung abgetan. Vielleicht kommt ihr einen Monat in den Bau, sagte er. Aber das müsse uns die Sache doch wert sein; es gehe ums Ganze. Vielleicht hatte er recht, vielleicht hätten sie uns milde bestraft wegen der Versteckgeschichte.
Aber war das schon alles? Nein, er hätte das ganze Dorf ausgeliefert. Wisst ihr, was passiert wäre, wenn er das Attentat durchgeführt hätte? Sie hätten nicht nach Schuldigen, nach Mitwissern gesucht. Oh nein! Sie hätten unser Dorf, aus dem der Attentäter stammte, von der Landkarte wegradiert. Dafür gibt´s Beispiele! Sie hätten alle umgebracht oder in die KZs gesteckt, unsere Häuser mit Panzern platt gemacht; das war mal sicher.“
Hermann Bäcker schien es nicht gut zu gehen, auf seiner graublassen Stirn standen Schweißperlen. Er schob sich mühsam auf einen Thekenschemel, trank noch einmal sehr langsam, bis das Glas leer war. Der Wirt stellte ihm unaufgefordert ein frisches Bier auf die Theke.
„Wir wussten es“, sagte er leise, sehr langsam. „Wir wussten es genau, was passieren würde. Wir sagten es ihm; wir baten ihn; wir drohten ihm und verlangten Solidarität mit uns. Er war nicht zu bewegen.
Dann haben wir uns, ohne Heinrich, heimlich mit Hubert Wickert getroffen. Wir sagten ihm alles! Er teilte unsere Sicht; er wusste noch besser als wir, was das bedeutet hätte. Wir haben uns wie im Fieber beraten, haben uns gestritten und dann endlich für das entschieden, was du weißt.
Wir haben ihn geopfert und ausgeliefert, ja. Wir haben es gemacht, um die beiden Familien und das Dorf zu retten. Ohne Hubert Wickert wäre das nicht gegangen. Er verhörte Heinrich und schrieb alles so nieder, wie es sinnvoll war. Hubert alleine erstellte das Protokoll, lieferte zusammen mit dem Sprengstoff ein fertiges Untersuchungsergebnis. Er wurde damals sogar dafür ausgezeichnet; er hat sich immer dafür geschämt.
Er schilderte Heinrich als vertrottelten Halbidioten, der ein bisschen schwierig sei, ein bisschen spinnen würde. In seinem Zustand habe er nicht gewusst, was er da plante. Das rettete ihn vor der Erschießung, und man schickte ihn an die Front, zu diesem berüchtigten Todeskommando.“
Hermann Bäcker sah langsam hoch, streifte die Männer an der Theke mit einem verschleierten Blick, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rutschte vom Hocker.
„Kann ich jetzt gehen?“, fragte er zu Joseph Krüger hin, der blass und steif vor ihm stand. „Ach ja! Im Jahr, als der Krieg vorbei war, es war im Mai 45, da kam Sarah zur Welt, deine Frau. Wir hatten Glück, dass sie nicht früher geboren wurde, dann hätten wir wohl ein größeres Problem gehabt, nicht wahr, Joseph?
Die Goldschmidts zogen ins Nachbardorf, wie ihr wisst. Da bist du dann der Sarah wohl irgendwann über den Weg gelaufen. Haben dir deine Schwiegereltern nie was gesagt? Nein? Ich versteh sie. Sie haben keinem aus diesem Dorf mehr getraut, wohl bis zum Tod nicht. Die, denen sie getraut hatten, die waren tot oder verschwunden. Großbergers gingen nach Amerika. Aber das wisst ihr sicher besser als ich. Sie mochten hier nicht mehr leben.“
Er ging schwankend zur Tür und die Männer traten still zur Seite, bildeten eine Gasse für ihn.
„Halt! So nicht! Du Lügner!“ Joseph Krüger stand da, leicht vorgebeugt, zeigte mit zittriger Hand auf Hermann Bäcker.
„Was ist? Hast du noch nicht genug gehört? Reicht es dir nicht?“
„Du hast uns deine Geschichte erzählt; nichts davon ist wahr!“
„So ist es! Hau ab, du altes Nazischwein! Verräter!“ Es war eine junge Stimme; sie kam von der Theke; der Sprecher war verdeckt, versteckt hinter den breiten Rücken der vor ihm Stehenden.
„Du hörst es, was wir hier von dir halten!“
„Dann fragt doch Hubert Wickert! Er kann´s euch ja bestätigen!“
„Das hätte der längst getan, wenn es stimmen würde, was du da schwafelst. Der hätte nicht das Maul gehalten - der nicht!“
„Wir haben uns damals geschworen, nichts zu sagen, niemals! Jetzt sind alle tot; nur Hubert und ich sind noch da. Könnt dem Hubert ja sagen, dass ich unser Versprechen gebrochen hätte; ich entbinde ihn von diesem Schwur.“
„Quatsch! Ihr alten Nazis habt euch abgesprochen!“, schrie Joseph Krüger, blickte dabei die Umstehenden an.
„Wenn du meinst; dann lass es bleiben.“
„Wo sind die Beweise für deine Geschichte? Wo? Es gibt keine, kann keine geben!“
„Nun, dann such doch mal nach dem Tagebuch von Heinrich. Vielleicht... Wer weiß? Da könntest du den Beweis finden. Würdest du es hier vorlesen, wenn du es findest, Joseph?“
„Verschwinde! Hau ab! Hau endlich ab!“
„Ja sicher, ich geh jetzt. Aber ich hinterlass euch was – euch allen hier. Zweifel! Jetzt sind sie da, nicht wahr? Zweifel, die sich ausbreiten werden wie ein Krebsgeschwür. Diese Männer hier, die erzählen es ihren Frauen; ihre Frauen erzählen es beim Bäcker, beim Friseur und beim Metzger. Ihr werdet sie nie mehr los, diese Zweifel. Und es wird Schluss sein, mit dem dörflichen Frieden, lieber Joseph! Es wird zwei Lager geben. Schluss mit Heldenverehrung! Warte es nur ab. Ich sagte ja, es wäre besser, wenn ich schweigen würde. Aber du wolltest ja die Wahrheit hören!“
Die Tür schloss sich quietschend hinter Hermann Bäcker. Sie starrten auf die Tür, als käme von dort die Erlösung. Es blieb still; man konnte Hüsteln hören und das leise Klirren eins Glases.
Sie tranken ihre Biere, wagten nicht, sich anzusehen. Langsam, zögernd nur, kamen die ersten Gespräche auf, befassten sich mit Fußball, dem Wetter und dem Gerücht, dass die Grundschule erweitert würde. Niemand lachte.
„Ich geh dann mal“, sagte Joseph Krüger zu seinen Vorstandskollegen, die verlegen nickten und wegsahen.