Der Weg aus der Finsternis

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Estella

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Der Morgen war sonnig und klar. Paul, mein Freund, steuerte den Wagen sicher die vielen Kehren hoch. Nach wenigen Minuten hatten wir den Wald-Parkplatz Elmau erreicht. Paul sprang aus dem Auto. „Herrliche!“, rief er, streckte und reckte sich.
Wir befanden uns in einer Höhe von über 1000 Metern, es war deutlich kühler als bei unserer Abreise unten im Tal. Paul wuchtete die Rucksäcke aus dem Wagen, schnürte seine Stiefel zu und zeigte auf ein Schild. „Zur Meilerhütte. Hier lang !“

Einem Bachlauf folgend kamen wir rasch voran. Nach einer Stunde wurde der Weg steiler, die Luft dünner. Paul sah die Wolke zuerst. „Schau mal, Amelie, da oben, über der Alpspitz, da hängt eine Wolke!“
„Was bedeutet das?“, fragte ich.
„Das Wetter könnte sich ändern. Ich bin mir nicht sicher.“

Doch die Wolke über dem Gipfel rührte sich nicht. In schönstem Sonnenschein bewegten wir uns weiter hinauf. An manchen Stellen wurde der Weg schmal und luftig, mit leicht zittrigen Knien ließ ich mich gerne von Pauls Hand führen.

Paul blieb stehen. Er deutete auf den Berg vor uns. „Die Wolke über der Alpspitz hat sich verändert. Sie ist größer geworden, grauer.“
Erst schaute ich mir die Wolke an, dann bemerkte ich die senkrechte Falte auf Pauls Stirn. Machte er sich ernstlich Sorgen? Unsere Gespräche verstummten, still wanderten wir weiter. Während der nächsten halben Stunde verschwand die Sonne hinter einem Nebelschleier, der Wind frischte auf.
„Bis zur Meilerhütte ist es noch eine Stunde. Wir sollten versuchen die Hütte zu erreichen. Dort könnten wir zur Not übernachten“, schlug Paul vor.

Der Wind wehte jetzt heftiger, die Temperatur war deutlich gefallen. Der Nebel verdichtete sich. In Sekundenschnelle versank die Landschaft um uns herum in Grau. Ich versuchte mit Paul Schritt zu halten, stolperte über Geröll und kämpfte gegen die Angst an, vom Weg abzukommen.
Eine unheimlich dunkle Wolkenwand schob sich uns entgegen.
Paul kam ein paar Schritte zurück. „Schnee, es wird gleich zu schneien anfangen. Wir müssen einen Unterschlupf finden.“
Eine heftige Böe zerrte an unseren Parkas. Wir kämpften uns weiter, Schritt für Schritt. Für einen Augenblick öffnete sich die Nebelwand, bevor sie sich wieder schloss.
„Dort oben ist eine Nische im Fels!“, rief mir Paul zu.
Auf Händen und Füßen arbeiteten wir uns die Geröllhalde hinauf. Erste nasse Flocken peitschte uns der Wind in die Augen. Mit letzter Kraft zog mich Paul zu sich auf das Plateau, keuchend kroch ich weiter bis tief in den Felsen hinein. Ich atmete auf. Hier konnten wir den Sturm abwarten, es war trocken und windstill.

In unseren Rucksäcken befanden sich Butterbrote und reichlich zu trinken. Wir verzehrten einen Teil davon, ruhten uns aus und überlegten, wie lange wir hier aushalten mussten. Es war dunkel geworden, obwohl es erst Mittagszeit war. Der Sturm heulte, Schneefall hatte eingesetzt. Wie sollten wir den Weg zurück finden?
Paul ermutigte mich. „Hier sind wir erst einmal sicher. Es kann uns wirklich nichts passieren.“

Während der nächsten Stunde erkundeten wir den Fels in unserem Rücken und entdeckten den Einstieg in eine Höhle. „Ich spüre einen Windzug“, sagte Paul. „Es muss eine große Höhle sein.“
Schließlich kramten wir unsere Taschenlampen aus den Rucksäcken und schoben uns durch einen schmalen Spalt hindurch in das Innere des Felsens. Der Eingang war weit und hoch. Wir konnten aufrecht stehen, über uns türmten sich Gesteinsmassen übereinander, diffuses Licht drang durch die Ritzen des Felsens.
Vorsichtig wagten wir uns weiter, die Lampen gaben uns Sicherheit, auch wenn sich das mulmige Gefühl in meinem Bauch nicht verscheuchen ließ. Paul hatte die Führung übernommen Nach einiger Zeit neigte sich der Weg steiler hinunter und gleichzeitig wurde er enger. Mit einer Hand hielt ich die Taschenlampe fest, mit der anderen fand ich Halt an der zerklüfteten Felswand. Wie weit wollte Paul noch gehen?
„Paul!“, rief ich.
Paul wartete auf mich. „Kannst du noch, oder sollen wir eine Pause machen?“
„Wie weit wollen wir noch gehen, Paul?“
„Ein Stück noch. Vielleicht können wir hier übernachten?“
„Ich weiß nicht, Paul. Ich habe ein komisches Gefühl.“
„Keine Sorge, Amelie, hier passiert uns nichts.“
Wir setzten den Weg fort. Er führte uns durch lange Tunnels, die von größeren Höhlen unterbrochen waren. Paul war begeistert. „Großartig!“, rief er immer wieder. Er schien nicht müde zu werden. In engen Kehren schlängelte sich der Weg weiter in die Tiefe. Nach einiger Zeit blieb ich erschöpft stehen. „Paul, ich kann nicht mehr. Wie kommen wir hier jemals wieder raus?“
Paul schaute überrascht auf die Uhr. „Tatsächlich, seit drei Stunden sind wir hier im Felsen.“
„Was nun?, fragte ich.
„Zurück oder weiter?“, antwortete Paul.
Schließlich entschlossen wir uns zur Umkehr. Der Weg nach oben erwies sich beschwerlicher als wir vermuteten, er zehrte an unseren Kräften. Ganz sicher waren wir uns nicht immer, ob wir den Tunnel links oder rechts gegangen waren. Wir krochen auf allen Vieren, wir verwünschten den Tag, der uns hier her geführt hatte, wir keuchten und stöhnten. Vier Stunden waren vergangen. Erschöpft setzte ich mich nieder. „Wir finden den Ausgang nicht mehr. Was jetzt?“
„Wir finden da wieder raus, ganz sicher!“ Pauls Stimme klang zuversichtlich.
Wie gerne wollte ich ihm glauben.

Unsere Uhren zeigten weit nach Mitternacht, als wir uns weiter nach oben kämpften. Doch als wir plötzlich vor einem See standen wussten wir, dass wir uns verlaufen hatten. Wir werden sterben, dachte ich, doch zu Paul sagte ich, „Wir werden nicht verdursten. Wasser gibt es reichlich.“
„Wir sollten versuchen, nach unten zu kommen. Vielleicht gibt es dort einen Ausgang.“
Paul sagte es so selbstverständlich, dass ich verwundert war. Vielleicht? Er hatte vielleicht gesagt. Wenn es gar keinen Ausgang gab? In meinen Gedanken fing ich zu beten an. Lieber Gott, zeige uns den Weg aus der Finsternis! Bitte!

Eine zeitlang marschierten wir kräftig weiter. Immer noch führte der schmale Weg abwärts. Dann traten die Felsen weiter zurück. Der Boden war mit Schutt und Geröll bedeckt. An den seitlichen Felswänden klafften gefährlich tiefe Spalten. Plötzlich hörte der Weg auf. Vor unseren Augen öffnete sich ein Abgrund. Wir fanden keinen Hinweis auf Klettersteige oder Stufen. Aus der Tiefe kam fühlbar ein Wind. Es ging nicht weiter.
"Es muss weitergehen" sagte Paul und ließ den Strahl seiner Taschenlampe an den Felswänden vorüberziehen. Felsen, sonst nichts.

"Mir kommt es so vor, als ob man da runter kann."
Schon kletterte er vom Weg hinab auf die Höhlenwand zu. Zögerlich folgte ich. Schnell verloren wir an Höhe. An mehreren Stellen mussten wir über tiefe Spalten springen, um weiterlaufen zu können. Dann versperrte uns ein mächtiger Fels endgültig den Weg.
Durch einen engen Felsspalt direkt vor uns, drang ein schwacher, grauer Lichtschein.
Paul stellte sofort fest, dass es hier einen Ausgang aus dem Höhlenlabyrinth geben musste.
Er zog seinen Schuh aus und nahm Maß.
"Die Faustregel eines jeden Höhlenforschers ist: solange eine Öffnung breiter als ein Schuh ist, passt man durch."
Mir stockte der Atem. Ich schielte auf den engen Spalt, der im Schatten eines Vorsprungs, in der Felsoberfläche verborgen lag. Er reichte vom Boden bis zur Decke, war aber nur dreißig Zentimeter breit.

Paul hielt ein brennendes Streichholz vor den Spalt. Die Flamme wich vor der Öffnung zurück.
„Ich schau mal nach, wie es weiter geht.“ Schon war Paul in der Öffnung verschwunden. Nach kurzer Zeit war er zurück. "Der Durchgang ist weniger als zwei Meter tief und mündet in einen Tunnel. Nur noch eine klitzekleine, enge Stelle kurz vor dem Ausgang.“
Mein Herz raste, ich zitterte am ganzen Leib. Sekundenlang überfiel mich panische Angst, ich würde zwischen den engen Felswänden keine Luft bekommen Während ich mich Zentimeter um Zentimeter in den Spalt schob, versuchte ich mein Herzflattern zu unterdrücken. Der Spalt hatte mich ganz verschluckt, die Wände schlossen mich ein.
Weiter vorn drang schwaches Licht um die enge Biegung. Pauls Hand streckte sich mir entgegen. Mit einem heftigen Ruck schoss ich aus der Spalte, direkt in seine Arme.
Nur wenige Minuten später öffnete sich der Fels über uns. Diffuses Licht des beginnenden Morgens blendete uns. Wir waren draußen.
 
U

USch

Gast
Hallo Estella,

dein Höhlenabenteuer kann ich gut mitempfinden, da es sehr genau und intensiv von dir geschildert wird.

LG Uwe
 



 
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