Der Weihnachtshase

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cara

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Der Weihnachtshase

„Drrriiing!“ schrillte es durch die Dunkelheit. Eine kleine, braune Pfote tastete nach dem Wecker und schaltete ihn aus. Nach einer kleinen Weile tauchte ein Hase unter der Bettdecke auf, verschlafen und ziemlich zerzaust. Er rieb sich die Augen. Ostern muss dieses Jahr verdammt früh sein, dachte er. Er fühlte sich, als hätte er mindestens drei Monate zu wenig geschlafen. Aber es half ja nichts. Der Hase quälte sich aus dem Bett, kämmte sein strubbeliges Fell und wickelte sich seinen Schal um den Hals. Dann nahm er seinen Korb, stopfte sich für den Weg eine Karotte in den Mund und ging aus dem Haus.
Eiskalter Wind wehte ihm entgegen, und es schneite so stark, dass der Hase kaum die Pfote vor Augen sehen konnte. Schnee zu Ostern? Was war das denn für ein verrücktes Wetter? Und er musste den ganzen Weg durch die Kälte bis zur Fabrik laufen. Hoffentlich hatten die anderen Hasen schon mit der Arbeit angefangen. Zitternd lief er durch den Schnee, bis er zu einem riesigen Gebäude kam.
Der Hase ging zur Tür und drückte die Klinke nach unten. Es war noch abgeschlossen. Was ist nur los in diesem Jahr, dachte der Hase, kramte den Schlüssel aus seinem Korb hervor und schloss auf. In der Fabrik war es stockdunkel. Langsam wurde der Hase wütend. Wer zum Teufel erlaubte sich hier so geschmacklose Scherze mit ihm? Vorsichtig tastend betrat er die Fabrik und suchte nach dem Lichtschalter. Was er stattdessen fand, und zwar mit seinem linken Schienbein, war eines der langen Förderbänder. Fluchend rieb sich der Hase sein schmerzendes Bein und humpelte dann weiter Richtung Büro.
Dort endlich angekommen, schaltete er das Licht ein und erlebte gleich die nächste Überraschung. Die ganze Fabrik war leer. Keine gekochten Eier, keine Farben, keine Körbe und auch kein künstliches Gras. Jetzt wurde das Ganze dem Hasen unheimlich. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Ein Blick auf den elektrischen Kalender klärte das Problem. Es war nicht eine Woche vor Ostern, sondern eine Woche vor Weihnachten. Der Wecker des Hasen hatte tatsächlich viel zu früh geklingelt.
Oh nein, dachte der, was mache ich denn jetzt? Er setzte sich hin und grübelte. Na ja, wenn er schon wach war, konnte er auch erst mal in die Kneipe gehen. Er wickelte seinen Schal fester, schloss die Fabrik wieder ab und stürzte sich todesmutig wieder ins Schneegestöber. Eine kleine Weile später stand der Hase frierend und mit einem Häubchen aus Schnee auf dem Kopf vor der Kneipe. Mit klappernden Zähnen stieß er die Tür auf und setzte sich an die Bar. „Einen heißen Kakao!“ rief er dem Barkeeper zu und rieb die Pfoten aneinander, um sie aufzuwärmen.
Dann sah er sich um und bemerkte einen dicken, älteren Mann mit langem, weißem Bart und einer roten Jacke neben sich. Auch seine Hose war rot, und er trug warme, schwarze Stiefel. Neben ihm lag eine rote Wollmütze mit weißer Bommel. Der Mann hatte anscheinend schon mehrere Becher Glühwein getrunken, denn seine Nase leuchtete feuerrot, und er schwankte auf seinem Stuhl ganz leicht hin und her.
Der Hase schlürfte seinen Kakao und beobachtete den seltsamen Mann verstohlen. Dann nahm er allen Mut zusammen und sprach ihn an. „Hallo, ich bin der Osterhase, und wer bist du?“ „Ich bin der Weihnachtsmann.“ seufzte der Mann. „Super!“ rief der Hase. „Dich wollte ich schon immer mal treffen.“ „Es ist gar nichts super daran, der Weihnachtsmann zu sein.“ erwiderte der Weihnachtsmann. „In einer Woche ist Weihnachten, und ich habe noch so viel Arbeit vor mir. Dabei bin ich jetzt schon sooo müde.“
„Wenn das dein einziges Problem ist. Ich sollte eigentlich noch schlafen. Mein Wecker hat viel zu früh geklingelt, und jetzt bin ich so wach, dass ich bestimmt nicht mehr einschlafen kann. Und wenn ich zu Ostern nicht ausgeschlafen bin, gibt es eine Katastrophe.“ sagte der Hase. Schweigend saßen sie einen Moment lang einfach nur da. Dann sprang der Hase plötzlich ganz aufgeregt von seinem Stuhl.
„Weißt du was, Weihnachtsmann? Ich habe eine Idee, die uns beiden helfen könnte.“ rief der Hase. „Lass uns doch einfach tauschen. Ich mache das Weihnachtsgeschäft für dich, weil ich sowie so schon hellwach bin. Dafür kannst du erst mal schlafen gehen und übernimmst in ein paar Monaten dann Ostern für mich. Ich gebe dir auch meinen Korb, wenn ich dafür deine Wollmütze bekomme.“
Der Weihnachtsmann überlegte kurz, dann nickte er. Das klang ganz annehmbar. Die beiden tauschten die Schlüssel zu ihren Häusern und Fabriken und erklärten einander, wo der andere hin musste. Dann verabschiedeten sie sich voneinander und gingen ihrer Wege.
Der Hase stapfte durch den Schnee, gewärmt von der Mütze des Weihnachtsmannes, bis eine große, hell erleuchtete Fabrik vor ihm auftauchte. Er öffnete die Tür und staunte. Mindestens tausend Wichtel waren schon dabei, Weihnachtsgeschenke zu bauen: Puppen, ferngesteuerte Autos, Playstations, Schaukelpferde und vieles mehr. Kaum hatte der Hase jedoch die Tür hinter sich geschlossen, gab es einen lauten Knall, und die Förderbänder blieben stehen. Schwarzer Rauch quoll aus der großen Maschine, die ganz hinten in der Halle stand.
„Nein, nein und nochmals nein!“ brüllte ein hohes, lautes Stimmchen. „Was hast du denn jetzt schon wieder gemacht, du Pechvogel? Nichts läuft mehr, und der Weihnachtsmann wollte in die Kneipe und hat bestimmt schon so viel Glühwein getrunken, dass er eine Zuckerstange für einen Schraubenschlüssel hält. Und in einer Woche ist Weihnachten!“ Ein wütender Wichtel kam aus dem hinteren Teil der Fabrikhalle gestürmt und zog einen Anderen am Ohrläppchen hinter sich her. „Du gehst jetzt sofort los und holst den Weihnachtsmann aus der Kneipe. Aber dalli!“
Der Hase glaubte, jetzt langsam eingreifen zu müssen. Er trat den beiden Wichteln in den Weg und räusperte sich. „Ich glaube, den Weg könnt ihr euch sparen.“ bemerkte er. Der wütende Wichtel verstummte und sah den Hasen verwirrt an. „Wisst ihr“, fuhr der fort, „ich habe den Weihnachtsmann eben in der Kneipe getroffen, und wir haben beschlossen, die Rollen zu tauschen. Ich bin übrigens der Oster-, äh, ich meine, der Weihnachtshase.“
„Sind denn hier alle verrückt geworden?“ platzte der Wichtel, der eben noch so geschrieen hatte hervor. „Mach dir keine Sorgen.“ versuchte der Hase ihn zu beruhigen. „Es wird alles seinen gewohnten Gang gehen. Ich glaube, ich kann eure Maschine reparieren. Sie sieht genauso aus wie die, die ich zu Ostern benutze. Wie heißt du überhaupt?“ fragte er den Wichtel, der so aussah als sei er der Chef. Der rieb sich kopfschüttelnd die Augen, seufzte und antwortete dann: „Ich bin Klingeling, der Produktionschef. Bist du sicher, dass du die Maschine wieder zum Laufen bekommst? Einer unserer Auszubildenden hat sie irgendwie falsch bedient.“
Der Hase nickte zuversichtlich und machte sich sofort an die Arbeit. Eine Stunde später lief die Maschine wieder. Ohne Verspätung wurden alle benötigten Geschenke bis zum Nachmittag des 24. Dezembers fertig. Na gut, manche Geschenke, vor allem die nach der Reparatur der Maschine hergestellt worden waren, sahen ein wenig anders aus als sonst, zum Beispiel das rot-goldene Ei, das „Jingle Bells“ spielte oder die Weihnachtsbarbie mit Hasenkopf und Stummelschwänzchen. Aber das war nicht so schlimm. Hauptsache, alles war fertig und musste nur noch auf den Schlitten verladen werden. Der Wichtel Klingeling gab dem Hasen die letzten Instruktionen, dann war alles soweit.

Als die Dunkelheit hereinbrach, schwang sich der Hase auf den Bock des Schlittens und nahm die Zügel in die Pfoten. „Also, meine lieben Rentiere, “ begann er, „dann lasst uns mal loslegen. Hüh!“ Der Hase ließ die Zügel auf die Rücken der Rentiere klatschen und es passierte – gar nichts! Was ist denn da los, fragte sich der Hase, und versuchte es gleich noch mal. „Hüh!“ schrie er, und immer wieder „Hüh!“. Aber die Rentiere bewegten sich keinen Zentimeter vorwärts.
Der Hase sprang vom Schlitten und lief nach vorne zum Chef der Rentiere. „Na komm schon.“ bat er und zog am Zaumzeug des Tieres. „Lauf endlich los, dann folgen dir die Anderen.“ Das Rentier schüttelte sein Geweih, sah ihn drohend an und schnappte nach ihm. Der Hase sprang schnell zur Seite, jedoch nicht schnell genug. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, bemerkte er, dass ihm ungefähr die Hälfte seines Stummelschwänzchen fehlte.
„Was soll das denn, du blödes Vieh!“ fing er an zu schimpfen, als er durch ein leises Stimmchen unterbrochen wurde: „Du musst ihm erst das Zauberwort ins Ohr flüstern.“ Der Hase drehte sich um und sah, wie eins der hinteren Rentiere ihm verschwörerisch zuzwinkerte. Er lief schnell zu ihm. „Komm mit deinem Ohr ganz nah an mein Maul.“ forderte ihn das Rentier auf. Der Hase sah es misstrauisch an. Wollte es ihn foppen? Würde es versuchen, ihm das Ohr abzubeißen? Zögerlich hoppelte er näher und hielt schließlich das linke Ohr an das Maul des Tieres. Das flüsterte ihm schnell das Zauberwort zu.
Der Hase nickte und rannte wieder nach vorne. Er hüpfte so lange hoch, bis er das Wort in das Ohr des vordersten Rentieres flüstern konnte. Kaum hatte er das geschafft, senkte das Tier den Kopf und nahm ihn auf die Hörner. Mit Schwung schleuderte es den Hasen rückwärts auf den Schlitten. Sobald der gelandet war, musste er auch schon schnell nach den Zügeln greifen, denn der Schlitten legte mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit los.

Nach drei Stunden hatte der Hase schon unzähligen Menschen die unterschiedlichsten Geschenke gebracht, war unendlich viele Kamine erst hinunter gerutscht und dann wieder hinauf geklettert, und nicht alle darunter waren wirklich sauber gewesen. Soeben hatte der Schlitten auf dem Dach eines weiteren Hauses gehalten. Der Hase stieg mit dem schweren Sack vom Schlitten herunter und lehnte sich erschöpft an den Kamin. Nie hätte er gedacht, dass der Weihnachtsmann einen so anstrengenden Job hatte.
Aber jetzt war es schon so. Mit den Füßen zwängte sich der Hase in den Kamin, hob den Sack über den Kopf und rutschte dann hustend und prustend den staubigen Kaminschacht hinunter. In eine schwarze Wolke gehüllt landete er im Wohnzimmer des Hauses, direkt neben dem Weihnachtsbaum. Schwer nach Luft ringend ging er darauf zu, zog ein Duzend Geschenke aus dem Sack und legte sie unter den Baum. Er wollte sich schon wieder daran machen, den Kamin hinauf zu klettern, als ihm ein Teller Plätzchen und ein Glas Milch ins Auge fielen.
Das war das Beste an dem Job, fand der Hase. Viele Leute stellten dem Weihnachtsmann extra Milch und Plätzchen zur Stärkung hin. Hungrig ging er auf den Plätzchenteller zu und griff nach einem Schokokeks. Plötzlich schloss sich etwas um seine linke Hinterpfote, dann wurde er in die Luft gerissen. Nach einer Schrecksekunde fand er sich, mit dem Kopf nach unten an einem Seil baumelnd, wieder. Was zum Henker sollte das denn? Er wollte wieder runter!
Heftig zappelnd versuchte sich der Hase zu befreien, umsonst. Völlig außer Atem gab er auf. Stattdessen rief er laut um Hilfe, schlug sich danach jedoch sofort die Pfoten vor den Mund. So ein Mist, fluchte er, ihn sollte hier doch niemand bemerken! Aber es war schon zu spät. Die Tür des Wohnzimmers ging erst einen Spalt weit auf, dann wurde sie weit geöffnet. Herein kam ein blonder, sommersprossiger Junge, der sich grinsend die Hände rieb. „Hab ich dich!“ freute er sich – und stutzte. Das war doch niemals der Weihnachtsmann, den er da gefangen hatte.
„Wer bist denn du?“ fragte er mit großen Augen und zeigte mit dem Finger auf den Hasen. „Dumme Frage, ich bin der Weihnachtshase, das sieht man doch.“ grollte der Hase. „Jetzt lass mich runter, du Idiot, ich hab noch viel zu erledigen heute Nacht.“ „Der Weihnachtshase? So was gibt es doch gar nicht.“ sagte der Junge. „Natürlich gibt es das.“ knurrte der Hase. „Ich hab mit dem Weihnachtsmann getauscht. Der ist jetzt der Ostermann. Dafür bin ich der Weihnachtshase. Und jetzt lass mich endlich runter!“
„Das muss ich Mami zeigen!“ rief der Junge stattdessen und stürmte aus dem Zimmer. Der Hase hörte schnelle Schritte auf der Treppe und bekam langsam Panik. Kein Erwachsener durfte ihn so sehen! Mit letzter Kraft schwang er sich nach oben, bis er sich an der Pfote, die an dem Seil hing, festhalten konnte. Dann biss er das Seil schnell durch, schnappte sich den Sack und begann, in Windeseile den Kamin hinauf zu klettern. Aus dem Wohnzimmer unter sich hörte er noch, wie die verschlafene Mutter ihrem Sohn eine kräftige Standpauke hielt, weil er sie wegen so einem Unsinn wie einem Weihnachtshasen geweckt hatte.
Gut so, dachte der Hase, das hat der Bengel verdient. Der wird so schnell niemandem mehr eine Falle stellen. Erleichtert atmete er auf, als er endlich den Sternenhimmel über sich sah. Er schleppte sich zum Schlitten, kletterte hinein und ließ sich keuchend zurücksinken. Die Rentiere scharrten mit den Hufen, und dann flog der Schlitten wieder los. Den Rest der Nacht hatte der Hase noch genug damit zu tun, die übrigen Geschenke zu verteilen. Aber zum Glück gab es keine weiteren unvorhergesehenen Zwischenfälle.

Wie der Weihnachtsmann sich als Ostermann geschlagen hat, wollt ihr jetzt wissen? Nun, das ist eine andere Geschichte, und bis Ostern ist ja auch noch etwas Zeit.
 



 
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