Der Wettstreit von Lakeontheleft

Rainer Lieser

Mitglied
Der Wettstreit von Lakeontheleft

Finn McDoogle lebte in dem kleinen Dorf Lakeontheleft. Dort war er derjenige, den man verdreckte Hühnerställe ausfegen liess und der die Spucknäpfe in dem einzigen Pub entleerte.
Finn wohnte in einer alten verfallenen Scheune. Wenn Finn Durst hatte trank er aus dem kleinen See, gleich links neben der Scheune. Hatte Finn Hunger klopfte er an den Türen der Häuser von Lakeontheleft. Von Vorteil für Finn dabei war, dass die Frauen des Dorfes nur selten ihre Häuser verliessen. So traf er immer wenigstens eine an, die er um ein Stückchen Brot bitten konnte – und keine der Frauen verwehrte ihm je dieses eine Stückchen.

Die Frauen hielten sich meiste deshalb zu Hause auf, weil sie nicht versäumen wollten, wenn ihre Männer nach Hause kamen – denn das war nur selten zur verabredeten Zeit der Fall. Hatten die Männer sich wieder einmal verspätet, nahmen die Frauen das sogleich zum Anlass für allerlei lautstarke Vorhaltungen. Vorhaltungen die in erster Linie genutzt wurden, um von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken, hielt es doch zum Beispiel kaum eine der Frauen für notwendig Löcher in Hemden, Hosen, Strümpfen und Röcken zu stopfen oder das Haus von Spinnweben zu befreien.
Betty McDonnagoogle wartete schon seit 20 Jahren nicht mehr auf ihren Mann, denn der war vor 20 Jahren verschwunden. Stattdessen backte sie ab und an einen leckeren Mürbeteigkuchen für Finn McDoogle, der ihren Mürbeteigkuchen ebenso sehr mochte, wie ihn ihr Mann gemocht hatte.

Die restlichen Männer von Lakeontheleft verbrachten ihre Zeit lieber im Pub, statt mit Bettys Mürbeteigkuchen. Was hauptsächlich wohl auf den Wirt des Pubs zurückzuführen war, einen lustigen und lebensfrohen Gesellen, den jeder auf Anhieb mochte. Zwar kannte niemand seinen Namen, manche vermuteten gar er hätte keinen, aber das tat seinem Ansehen keinen Abbruch. In Ermangelung eines Pfarrers, liess man ihn sogar Ehebünde schließen und Sterbesakramente erteilen.
Waren die Männer einmal nicht im Pub, lagen sie im Bett neben ihrer Frau oder befanden sich auf dem Weg zu einem dieser beiden Plätze.

Kinder fand man in Lakeontheleft so gut wie keine, weil dem überwiegenden Anteil der Dorfbewohner vor den mit der Erziehung verbundenen Mühen und Anstrengungen schlichtweg graute.

Auch wenn es in dem Dörfchen keinen Pfarrer gab, so hatte man doch eine Kirche, von der allerdings niemand etwas genaueres wusste, ausser dass seit einigen Jahren jeden Sonntag zur Messe die Glocke läutete. Betty McDonnagoogle behauptete zwar die Spitze des Kirchturms einmal bei einem Spaziergang gesehen zu haben – mit ihrem Mann oben drauf –, da sie dies allerdings zu einem Zeitpunkt behauptete, als ihr Mann bereits seit Jahren verschwunden war, glaubten die meisten Bewohner von Lakeontheleft sie wollte sich damit nur wichtig machen.

Und dann war da noch der Tag der Sommersonnwende. Der Tag an dem das große Dorffest stattfand. Da blieb der Pub geschlossen, die Frauen verliessen ihre Häuser – und alle, Frauen, Männer und die wenigen Kinder die es gab, trafen sich auf der Festwiese, gleich links neben dem großen Steinhaufen. Jeder brachte an diesem Tag etwas selbst gemachtes mit. Manche Frauen Limonade, manche Männer gebrautes Bier, andere Frauen Kuchen, andere Männer gebratenes Fleisch, die Kinder allerlei mit Marmelade bestrichene Brote – und Betty McDonnagoogle legte für ihren Mann immer einen Mürbeteigkuchen ab, gleich links neben dem Ortsschild.
Weshalb man allerdings ausgerechnet dem Tag der Sommersonnwende eine derartige Bedeutung zugestand, wo man doch alle anderen Feier- und Gedenktage, aufgrund der Aufwände die ihr einplanen in den normalen Tagesablauf verursachte, abgeschafft hatte, das war den allermeisten Dorfbewohnern ein unerklärliches Rätsel.

Am Tag der Sommersonnwende fiel Finn McDoogle seit nunmehr 20 Jahren eine ganz besondere Aufgabe zu. Er war derjenige, der den Dorfbewohner auswählte, der mit ihm zusammen fortritt. Hin zu einem Ort, wo, verborgen vor den Augen der restlichen Dorfbewohner, der eigentliche Höhepunkt des Festes stattfand. Ein Wettstreit.
Ein Wettstreit, über den nichts weiter bekannt war, außer ein paar wenigen Bestimmungen.
– Wer den Wettstreit gewann, dem durfte niemand aus Lakeontheleft für den Rest des Tages und der kommenden Nacht einen Wunsch verwehren.
– Der Verlierer büsste seinen Platz in der Dorfgemeinschaft ein und durfte von Stund an nicht mehr nach Lakeontheleft zurückkehren.
– Der Gewinner des vorangegangenen Wettstreits musste im folgenden Jahr erneut antreten und bestimmte seinen Herausforderer.
– Aber das Wichtigste von allem war: der Gewinner durfte über den Ablauf des Wettstreits kein Sterbenswort verraten.
So war es seit ewigen Zeiten Brauch.

Seit Betty McDonnagoogles Mann Finn McDoogle als Gegner gewählt hatte, war stets Finn McDoogle als Gewinner zurückgekehrt. Jetzt könnte man vielleicht meinen, Finn hatte sich in den vergangenen Jahren einfach nur die schwächsten und am wenigsten hellen Bewohner ausgesucht, doch genau das Gegenteil war der Fall, wie jeder in dem Dorf zu bestätigen wusste.

Diesmal wählte Finn McDoogle Hamish Mockinbridge als Herausforderer aus.

Die Zwei ritten hinauf auf einen Hügel und auf der anderen Seite wieder hinunter. Von dort aus gelangten sie in einen Wald, an dessen Ende ein altes Kirchlein stand. Finn führte Hamish hinein. Vorne, gleich links neben dem Altar, kniete, mit dem Rücken zu den beiden gewandt, ein Pfarrer. Finn McDoogle grüsste ihn. Der Priester stand auf, drehte sich um und sprach Finn freudig mit den Worten an »So, da bringst du in diesem Jahr also wieder einen Mann mit.« Danach ging der Pfarrer zu einem vergoldeten Schrein und holte eine rechteckige Truhe heraus, die er vor Finn und Hamish hinstellte und öffnete. Die Truhe war gefüllt mit unermesslich vielen winzig kleinen weissen Kügelchen. Finn griff hinein, schien mit den Händen nach etwas zu suchen. Nach einigem hin und her brachte er ein in durchscheinendes glänzendes Material verpacktes Kästchen zum Vorschein. Ehrfurchtsvoll entfernte Finn die Verpackung. Den Inhalt, ein schlankes metallenes Buch, reichte er dem Pfarrer. Der Pfarrer legte das Buch auf dem Altartisch ab und bat Finn und Hamish näher heran. Der Pfarrer öffnete das Buch, welches nur aus einem Einband bestand, der auf einer Hälfte mit zahllosen erhabenen Zeichen verziert war. »Das ist ein Laptop« sagte der fromme Mann.

Finn wusste was jetzt kam, für Hamish hingegen öffnete sich eine neue Welt. Innerhalb der nächsten Stunden sah Hamish auf dem wunderlichen Gerät nahezu unendlich viele Bilder und Schriften von fernen Ländern. Manche dieser Bilder bewegten sich sogar und gaben Geräusche und Worte von sich. Der Pfarrer erzählte von vielen abenteuerlichen Dingen, die es außerhalb von Lakeontheleft zu erkunden gab. Von Dingen wie zum Beispiel diesem Laptop, den er in der Absicht hierher gebracht hatte, damit jemandem wie Hamish die Welt da draussen um einiges eindrucksvoller näher bringen zu können, als das mit den Worten möglich war, mit denen man ihn vor ach so vielen Jahren zum weggehen von Lakeontheleft bewegt hatte. Ja, auch er sei einmal ein Bewohner des Dorfes gewesen und habe später sein Glück in der weiten Welt gesucht. Doch seine Betty hatte er niemals vergessen. Schließlich wurde er Priester und zog in diese Kirche, weil er sich hier so nah wie eben irgend möglich bei Betty befand. So nah wie eben irgend möglich für einen für den Rest seines Lebens von der Dorfgemeinschaft Ausgeschlossenen. Die Kirche hatten die ersten Teilnehmer des Wettstreits von Lakeontheleft errichtet. Seither fand man sich jedes Jahr zum Wettstreit hier ein. Ein idealer Ort für den Pfarrer, um die Teilnehmer ausgiebig nach Betty zu befragen – und das tat er jetzt auch umgehend.

Finn und Hamish erzählten viel von Betty McDonnagoogle, wobei Finn, wie in schon in den letzten 20 Jahren, hauptsächlich den Geschmack der Mürbeteigkuchen pries. Nach einer Weile jedoch wurde Finn sehr ernst. Er sagte, bisher sei er immer zu bequem und feige gewesen um selbst Lakeontheleft zu verlassen. Inzwischen aber sei seine Neugier ins unermessliche gewachsen und auch seine Rolle innerhalb der Dorfgemeinschaft gefalle ihm nicht mehr so gut, wie noch vor einiger Zeit. In diesem Jahr würde er selbst den großen Schritt wagen. Deshalb erklärte er nun Hamish Mockinbridge zum Gewinner des Wettstreits.
Hamish sah Finn erstaunt an – wie konnte der ihn so einfach zum Gewinner erklären. Man hatte doch noch gar nichts untereinander ausgetragen.
Der Pfarrer bemerkte die Überraschung in Hamishs Gesicht und gab ihm ein paar erklärende Worte. »Einen Wettstreit im eigentlichen Sinn gibt es gar nicht. Es geht ausschließlich darum für sich selbst und für andere eine Entscheidung zu treffen und darin reife zu zeigen.«
Hamish verstand immer noch nicht so recht, was hier vor sich ging.

»So ist das eben nun einmal in Lakeontheleft« sagte Finn McDoogle. »Es ist ein seit ewigen Zeiten verwunschenes Dorf. Geht mehr als einer fort vom Dorf oder kehrt mehr als einer dorthin zurück, fallen alle daheimgebliebenen Bewohner, und alle die das Dorf in den vergangenen Jahren verlassen haben, sowie deren Kinder und Kindeskinder, auf einen Schlag tot um.
So verlangt es der Fluch, den einst der erste Pfarrer über Lakeontheleft ausgesprochen hat.
Ein dummes faules Pack hatte dieser Pfarrer die Dorfbewohner immer wieder gescholten, dem jedwede Form von Wissbegier und Strebsamkeit abhanden gekommen sei. Das hörte man zwar nicht gern, doch jeder sah davon letztlich nur die anderen Betroffen – und nicht sich selbst.
Als der Priester dann aber bei einer Sonntagspredigt zum Bau einer größeren Kirche aufrief, der zwar für alle mit viel Mühe und Anstrengung verbunden sei, jedoch zur Vergebung ihres bisherigen sündhaften Verhaltens durch Gott führe, da sah ein jeder den gewohnten Müssiggang bedroht – und die Dorfbewohner ertränkten ihren Pfarrer kurzerhand im See, gleich links neben meiner Scheune.
Bevor der Priester im Wasser versank, verfluchte er die Dorfgemeinschaft auf ewig in Stumpfsinnigkeit und Unwissenheit leben zu müssen.«

Anschließend erhob der Pfarrer die Stimme. »Dies trug sich an der Sommersonnwende zu. Obwohl es mit Arbeit verbunden war, barg man den Leichnam des Pfarrers am darauf folgenden Tag und begrub ihn in heimischer Erde. Die Dorfbewohner hofften dadurch den Pfarrer im Jenseits milde zu stimmen, auf dass er den Fluch aufhebe. Über dem Grab errichtete man eine kleine Kapelle und legte dort jeden Tag frische Blumen ab.
Genau ein Jahr nachdem er ermordet worden war, kehrte der Pfarrer als Geist zurück und gab einen Dorfbewohner von dem Fluch frei. Auch in Zukunft werde immer ein Bewohner oder eine Bewohnerin an diesem Tag Lakeontheleft verlassen müssen, verfügte der Geist, oder alle Bewohner erwarte am nachfolgenden Tag der Tod.
In Verärgerung darüber, dass die für den Pfarrer errichtete Kapelle nicht einmal eine Minderung des Fluchs, sondern gar noch dessen Verschärfung bewirkt hatte, zerstörten die Dorfbewohner die Kapelle wieder. Das einzige was davon übrig blieb, ist der große Steinhaufen nahe der Festwiese, den sie beschlossen zukünftig links liegen zu lassen. Aus dieser Zeit stammt denn auch die für unser Dorf typische Eigentümlichkeit, alle Richtungsbeschreibungen an Dingen auszurichten, die man besser links liegen lässt. Ein Pfarrer erhielt nie wieder Zutritt zum Dorf. Alle kirchlichen Befugnisse übertrug man auf besonders angesehene Dorfbewohner. Doch genug jetzt davon. Es ist spät. Zeit für euch zu gehen. Hamish, kümmere dich bitte um meine Betty.«

Hamish Mockinbridge kehrte als Gewinner des Wettstreits nach Lakeontheleft zurück. Den Rest des Tages und die kommende Nacht verbrachte er stumm zusammen mit seiner Frau.

Im nächsten Jahr wählte er Betty McDonnagoogle als Herausforderin und kehrte abermals als Gewinner zurück.
 



 
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