Der Wille des Bösen

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Robert McKay

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Philip Spencer setzte sich an seinen Schreibtisch und schloss für einen Moment die Augen. Es war ein harter Tag gewesen, acht lange Stunden an einem überfüllten Schreibtisch und zwischendurch eine Mittagspause, die lächerlich kurz gewesen war und nicht im mindesten dazu gereicht hatte, sich wenigstens etwas zu entspannen. Zu allem Überfluss war er nicht einmal mit allem fertig geworden, was er sich vorgenommen hatte, und sah sich deshalb gezwungen, jetzt noch etwas für den nächsten Tag vorzubereiten.
Er unterdrückte ein Gähnen, während er seine Schläfen massierte. Draußen fuhr ein Auto vorbei, dann wurde es wieder ruhig, so dass Philip ein paar Minuten dasaß, um die Stille und das Nichtstun zu genießen. Dann blickte er wieder auf die Akten, die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet waren, seufzte einmal und machte sich an die Arbeit.
Er war gerade dabei, sich durch einen Text zu arbeiten, der so unverständlich und kompliziert geschrieben war, dass er ihn schon einige Male am liebsten in den Papierkorb befördert hätte, als er den Schrei das erste Mal hörte. Philip hielt inne und blickte aus dem Fenster.
Nichts. Das Haus gegenüber war völlig dunkel, genauso wie die umstehenden. Nirgendwo zeigte sich ein Lebenszeichen, nicht einmal ein Auto fuhr vorbei.
Philip kratzte sich an der Stirn. Er war fest davon überzeugt, eben einen Schrei gehört zu haben, der zudem so seltsam geklungen hatte, dass sich ein flaues Gefühl in seinem Magen breit machte. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und stellte sich an das Fenster. Auf der Straße regte sich nichts. Die Straßenlaternen warfen runde Lichtinseln auf die Gehwege, ansonsten war es dunkel. Ein Blick auf die Uhr sagte Philip, dass es kurz vor Mitternacht war.
Als auch fünf Minuten später nichts Ungewöhnliches geschah, entschloss er sich dazu, seine Arbeit fortzusetzen, damit er endlich ins Bett gehen konnte. Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und nahm ein Dokument zur Hand, als der Schrei plötzlich wieder ertönte und zwar diesmal in einer solchen Lautstärke und Intensität, dass Philip entsetzt zusammen zuckte und vor Schreck beinahe die Schreibtischlampe heruntergefegt hätte.
Hatte er sich bei dem letzten Schrei schließlich noch mit der Erklärung abgefunden, dass ihm seine übermüdeten Nerven einen Streich gespielt hatten, so war dieses Mal jede Täuschung einwandfrei ausgeschlossen. Jemand - ein Mensch - hatte diesen furchtbaren Schrei ausgestoßen und der Lautstärke nach zu urteilen, musste es in unmittelbarer Nähe geschehen sein.
Philips Atem ging schwer und stoßhaft. Am ganzen Körper zitternd stand er auf und sah aus dem Fenster. Draußen regte sich immer noch nichts, aber als er seinen Blick über das gegenüberliegende Haus schweifen ließ, erblickte er durch eines der Fenster einen Lichtkegel, der in dem Raum hin und her zuckte.
Philip kniff die Augen zusammen, so dass sie zu zwei schmalen Schlitzen wurden. Vor fünf Minuten noch war dieses Haus vollkommen dunkel gewesen und jetzt sah es so aus, als wenn...
Er zuckte erneut zusammen, als ihm bewusst wurde, dass dieser Lichtkegel im Prinzip nur von einer Taschenlampe stammen konnte und folglich die Möglichkeit bestand, dass ein Einbrecher in das Haus eingedrungen sein könnte. Philip kannte Mrs Freed, die Bewohnerin, gut; sie war eine ältere Dame, die allein lebte und gegen einen Eindringling, der aller Wahrscheinlichkeit nach um einiges jünger und kräftiger war als sie - plötzlich kristallisierte sich in Philips Unterbewusstsein dieser Gedanke zu einer festen Überzeugung heraus - konnte sie gar keine Chance haben.
Noch während er so dastand und darüber nachdachte, was er jetzt tun sollte, erlosch das Licht plötzlich und das Haus war wieder vollkommen dunkel.
Philip starrte verwundert nach draußen und nach ein paar Sekunden fragte er sich, ob er nicht vielleicht an Halluzinationen litt. Zuerst diese zwei merkwürdigen, lauten Schreie - die seltsamerweise außer ihm keiner weiter gehört zu haben schien - dann ein Licht, das plötzlich auftauchte und wieder verschwand und dann auch noch seine völlig grundlose Schlussfolgerung, dort drüben würde ein Einbrecher zugange sein.
Er war überarbeitet. Ja, ein ganz klarer Fall. Er würde jetzt diese verdammten Papiere zusammenpacken, schlafen gehen und morgen würde alles schon wieder ganz anders aussehen...
... aber trotzdem ließ ihn das merkwürdige Gefühl nicht los, dass dort drüben irgend etwas nicht stimmte. Noch einmal sah er nach draußen, noch einmal lauschte er auf ungewöhnliche Geräusche und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.
Gerade als seine Unruhe wieder ein wenig abflaute und er sich beruhigte, tauchte das Licht hinter dem Fenster wieder auf. Es zuckte viel hektischer hin und her als noch vor ein paar Minuten und schien jetzt zusätzlich einen leicht rötlichen Schimmer zu haben.
Und dann, urplötzlich, wurde Mrs Freed an das Fenster geschleudert. Ihr Gesicht war verzerrt vor Angst und Schmerz, ihre Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und ihr Mund war weit geöffnet, als schrie sie nach Hilfe. Ihre rechte Wange war so stark an das Glas gepresst, dass ihr Gesicht den Eindruck einer schmelzenden Wachsmaske machte und die Augen rollten hin und her.
Philip konnte nicht glauben, was er sah. Der Atem blieb ihm im Hals stecken und er spürte Übelkeit in seinem Magen aufsteigen. Unfähig, sich zu bewegen, beobachtete er, wie sich hinter der grausamen Silhouette von Mrs Freed ein Schatten aufbaute, ein gewaltiger Schatten, der von einem tieferen Schwarz war, als Philip je zuvor gesehen hatte. Der Schatten wuchs an und kam näher und in dem Moment, in dem er begann, Mrs Freed einzuhüllen, ertönte abermals jener Schrei, den Philip schon zweimal zuvor vernommen und dann als Hirngespinst abgetan hatte.
Dieser Schrei erlöste Philip aus seiner Erstarrung. Er drehte sich ruckartig um, so dass er das kleine Regal, das sich neben dem Fenster befand, umstieß und stürzte aus dem Raum.
»Mrs Freed!« schrie er schweratmend, während er die Treppe hinunter hastete. Er riss die Haustür brutal auf, rannte durch seinen Vorgarten und über die Straße bis vor das Haus seiner Nachbarin, wo er sich gegen die Haustür warf und mit beiden Fäusten dagegen trommelte.
»Mrs Freed!« brüllte er. »Mrs Freed, hören Sie mich! Öffnen Sie die Tür! Mrs Freed! Mrs Freed!!!« Er hämmerte gegen das Holz, dass seine Hände schmerzten und es regelrecht ein Wunder war, dass die Tür diesen Malträtierungen überhaupt standhielt.
»Mrs Freed!« schrie Philip noch einmal und seine Befürchtungen, er könnte zu spät sein, nahmen grauenhaft realistische Züge an. Er wollte schon damit beginnen, die Tür aufzubrechen - auch wenn er das mit bloßen Händen wohl kaum geschafft hätte - als sie plötzlich geöffnet wurde und Mrs Freed hinter ihr zum Vorschein kam.
Philip hielt abrupt inne und starrte voll Verblüffung auf die Gestalt von Mrs Freed, die ihn jetzt mindestens genauso erstaunt musterte.
»Mrs... Freed«, brachte Philip mühsam hervor. Sie sah aus, als hätte er sie gerade aus dem Schlaf gerissen. Ihre Augen waren halb zusammengekniffen und blinzelten ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Verständnislosigkeit an und sie trug ein Nachthemd, über das sie hastig einen Bademantel geworfen hatte. Nichts, aber auch gar nichts wies darauf hin, dass sie soeben einen Überfall - und für das hielt Philip die Szenerie, die sich oben an dem Fenster abgespielt hatte zweifelsfrei - zum Opfer gefallen war.
»Mr Spencer«, setzte Mrs Freed an und auch ihre Stimme klang völlig normal, »was ist denn los mit Ihnen?«
»Mrs Freed«, wiederholte Philip noch einmal ungläubig und wusste nicht, was er ihr jetzt überhaupt sagen sollte. Seine Blickte wanderten die Hauswand zu dem Fenster empor, hinter dem er das bizarre Schauspiel beobachtet hatte. Es war dunkel.
»Ich habe... Sie gesehen«, stotterte er und blickte in das verständnislose Gesicht seiner Nachbarin. »Dort oben. An dem... Fenster da. Sie standen dort... und haben...« Er stammelte mühselig eine Kurzfassung von dem zusammen, was er gesehen hatte, bis sie ihn sanft aber bestimmt unterbrach: »Mr Spencer. Mein Schlafzimmer liegt auf der anderen Seite des Hauses und das habe ich seitdem ich zu Bett gegangen bin nicht mehr verlassen.«
Zumindest bis Sie mich mit Ihrem nervtötenden Gehämmere aufgeweckt haben!, fügte ihr Blick hinzu. Philip konnte es nicht glauben. Sollte er am Ende vollkommen verrückt geworden sein? Noch einmal blickte er zu dem Fenster hinauf. Es war nach wie vor dunkel. Kein herumzuckendes Licht, kein monströser Schatten, nichts, was irgendwie ungewöhnlich für ein Haus war.
»Ich konnte also gar nicht dort oben gewesen sein«, beendete Mrs Spencer ihre Erklärung. Dann setzte sie einen mitleidigen Blick auf und sah Philip ernst an.
»Sie sind ein tüchtiger Mann, Mr Spencer. Aber übertreiben Sie es nicht. Ich wette, Sie haben jetzt noch an Ihrem Schreibtisch gesessen und gearbeitet.«
Philip konnte ihr nur zustimmen.
»Na also«, meinte sie. »Das ist nicht gut für Ihre Gesundheit. Sie gehen jetzt wieder rüber und legen sich ins Bett. Sie brauchen Ruhe und eine große Mütze voll Schlaf.«
Er wollte noch etwas erwidern, aber sie legte nur den Zeigefinger an ihre Lippen und schüttelte sacht den Kopf.
Philip gab es auf und sagte sich im Inneren, dass er ein kompletter Vollidiot war. Es würde das Beste sein, wenn er sich den Rat von Mrs Freed zu Herzen nehmen und endlich schlafen gehen würde. Er wünschte ihr eine gute Nacht, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Vorgarten. Hinter ihm schloss Mrs Freed die Tür.
Als er die Straße überquert hatte und vor seiner Haustür angekommen war, warf er noch einmal einen Blick zurück. Das Haus sah aus wie ein normales Haus, das irgendwo in einem ruhigen, kleinen Vorstadtviertel stand. Nichts Besonderes oder sogar Ungewöhnliches.
Philip öffnete kopfschüttelnd die Tür und ging hinein.
Mrs Freed stand an einem Fenster und beobachtete Philip, wie er in seinem Haus verschwand. Ihre Lippen waren zu einem blassen, schmalen Strich zusammengepresst und ihre Stirn hatte sich in tiefe Falten gelegt. Sie blickte noch einige Momente konzentriert nach draußen, dann atmete sie einmal tief durch und schob die Gardine wieder zurück.

*​

Eine Woche war vergangen und Philip war aufgefallen, dass sich Mrs Freed merkwürdig verändert hatte. Das erste Mal hatte er es bemerkt, als sie sich auf der Straße begegnet waren. Sie hatte ungewöhnlich bleich und müde ausgesehen und als Philip sie im Vorbeigehen gegrüßt hatte, war sie erschrocken und schnell an ihm vorbei geeilt. Philip hatte ihr verwundert nachgesehen, wie sie in ihrem Haus verschwunden war und hatte für einen Moment sogar noch mit dem Gedanken gespielt, einen Arzt zu rufen, der einmal nach dem Rechten sehen sollte.
Es war nicht bei dieser einen Begegnung geblieben. Sie waren sich noch öfters über den Weg gelaufen und jedes Mal hatte Mrs Freed den Eindruck einer sehr gestressten Frau gemacht. Philip war sich nicht sicher, ob ihm dies nur deshalb auffiel, weil er die Woche zuvor die seltsamen Vorfälle in ihrem Haus beobachtet hatte - oder zumindest glaubte, sie beobachtet zu haben - oder ob er es auch sonst bemerkt hätte.
Jeden Abend saß er an seinem Fenster und betrachtete das Haus von Mrs Freed und wenn es nur war, um beruhigt schlafen gehen zu können. Seine besondere Aufmerksamkeit galt jenem Fenster, hinter dem sich die mysteriösen Geschehnisse abgespielt hatten. Aber nichts geschah. Die Abende vergingen, ohne dass irgend etwas Ungewöhnliches passierte und mit der Zeit kam sich Philip unendlich albern vor, wie er an seinem Schreibtisch saß und das Haus seiner Nachbarin anstarrte.
Aber an dem Abend, an dem er beschloss, dass es das letzte Mal sein würde, dass er den Privatdetektiv spielte, geschah etwas völlig Unerwartetes. Er saß wieder an seinem Schreibtisch und blickte zwischen einem Buch, in dem er gerade las und dem gegenüberliegendem Haus hin und her, als sich plötzlich hinter dem geheimnisvollen Fenster ein leichtes, rötliches Leuchten bemerkbar machte. Philips Aufmerksamkeit, die mittlerweile schon in einen Halbschlaf übergeglitten war, schaltete sofort auf Alarmbereitschaft. Er legte das Buch auf den Tisch und stellte sich ans Fenster.
Zuerst blieb es nur bei dem sanften Schimmer, der mal etwas heller, mal etwas dunkler wurde und vermutlich kaum jemandem aufgefallen wäre, hätte er nicht konzentriert hingesehen. Philip hoffte die ganze Zeit, dass es vielleicht wieder verschwinden würde, denn nun wurde ihm mit furchtbarer Gewissheit klar, dass er garantiert keine Halluzinationen gehabt hatte, als er vor kurzem Zeuge des schrecklichen Schauspiels geworden war.
Dann kam der Schrei.
Diesmal war es nicht nur ein kurzer Schrei, sondern ein weitaus langgezogenerer und dazu noch von einer solchen Lautstärke, dass Philip glaubte, die Fensterscheiben müssten jeden Moment zerbersten. Er ging ihm bis ins Mark und ließ sein Herz für Augenblicke lang stillstehen; dann sprang er wie von der Tarantel gestochen auf und stürzte aus dem Zimmer.
Nun gab es für ihn keine Zweifel mehr. Dort drüben geschah etwas; er wusste nicht, was es war, aber dass irgend etwas nicht ganz mit rechten Dingen zugehen konnte, war eindeutig. Das schrille Kreischen tönte noch in seinen Ohren, als er aus dem Haus rannte und sich seine Füße regelrecht überschlugen. Dieses Mal würde er sich nicht einfach so abwimmeln lassen, dieses Mal würde er notfalls mit Gewalt in das Haus eindringen und ein für allemal herausfinden, was dort vor sich ging. Kalter Schweiß rann über seine Stirn, sein Atem ging stoßhaft und schmerzte in seinen Lungen.
»Mrs Freed, ich komme!« brüllte er über die Straße. Er hastete zu der Haustür, warf sich, genauso wie das letze Mal dagegen und begann mit den Fäusten dagegen zu hämmern.
»Machen Sie auf, Mrs Freed!«, schrie er. »Öffnen Sie die Tür!«
Es kam keine Mrs Freed zur Tür, um den nächtlichen Besucher wieder erstaunt und ein wenig verärgert zu fragen, was sein seltsames Benehmen zu bedeuten hatte. Es regte sich absolut nichts und als Philip einige Momente später auffiel, dass der Schrei verklungen war, hielt er inne.
Sein Blick ruhte eine Weile lang auf der Tür, dann trat er ein paar Schritte zurück und blickte zu dem Fenster hinauf, hinter dem er das Leuchten ausgemacht hatte. Es war dunkel.
Philips schwerer Atem tat ihm in der Kehle weh und er trat wieder auf die Tür zu. Vorsichtig - auf einmal hatte er furchtbare Angst, ein zu lautes Geräusch zu verursachen - hob er seine Hand und klopfte dagegen.
Langsam und mit einem sachten Quietschen schwang die Tür nach innen auf.
Philip stutzte. War er denn vollständig verrückt geworden? Eine Tür, an die er die ganze Zeit ununterbrochen gehämmert und die sich dabei keinen Millimeter gerührt hatte, konnte doch nicht jetzt so einfach aufschwingen, wenn er sie kaum berührte. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse und er hatte Angst, dass er zusammenbrechen würde. Irgend etwas war hier nicht normal und zwar absolut nicht normal.
Er stand vor der halb geöffneten Tür und wusste nicht, was er tun sollte. Drinnen war alles dunkel. Wenn er jetzt dort hineinginge, dann würde er möglicherweise erfahren, was es mit den seltsamen Ereignissen, die sich in der letzten Woche abgespielt hatten, auf sich hatte. Er könnte auch ein großes Risiko eingehen, denn obwohl dies hier nur ein kleines Einfamilienhaus in einer ruhigen Wohngegend war, konnte Philip keinesfalls bestätigen, dass hier alles in bester Ordnung war. Würde er sich allerdings umdrehen und wieder zurück gehen, dann würde er den Gefahren, die eventuell hinter dieser Tür lauerten, aus dem Weg gehen... aber würde das sein Gewissen zulassen? Würde nicht ewig die Frage an seinem Bewusstsein nagen, was nun eigentlich wirklich geschehen war?
»Ich gehe jetzt zurück«, sagte er zu sich, weil die Stille ihn beinahe umbrachte; aber gleichzeitig trat er einen Schritt auf die Tür zu und versetzte ihr einen leichten Stoß, so dass sie nun vollends aufschwang. Er war überzeugt, dass man seinen Pulsschlag noch am Ende der Straße hören musste, aber er verscheuchte den Gedanken und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein.
»Mrs Freed«, rief er. Keine Antwort. »Mrs Freed, ist alles in Ordnung?«
Sie könnte natürlich auch verreist sein, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Wer sagte ihm denn, dass sie diese Nacht überhaupt in ihrem Haus war? Er hatte sie seit gestern nicht mehr gesehen und wenn er jetzt von irgend einem Nachbarn beobachtet wurde, dann konnte der ihn möglicherweise für einen Einbrecher halten...
Philip drehte sich um und schloss die Tür, dann betätigte er den Lichtschalter. Das Licht blendete ihn und nachdem sich seine Augen ein paar Sekunden später daran gewöhnt hatten, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen.
Es sah alles normal aus, sehr gepflegt und sehr sauber. Eine Treppe führte in den ersten Stock, Landschaftsbilder hingen an der Wand und der Geruch von Putzmittel hing in der Luft. Philip rümpfte die Nase. Es war die Art von Putzmittel, die er nicht ausstehen konnte.
Nach seiner kurzen Inspektion glaubte er plötzlich, ein Geräusch zu vernehmen. Er konnte nicht genau definieren, was es war, aber er war sich sicher, dass es von oben kam.
»Mrs Freed, sind Sie da?«, rief er nach oben. Keine Antwort. Stattdessen erklang auf einmal etwas, das wie eine Art Stöhnen klang, sehr leise aber trotzdem durchaus eindringlich. Philips Herzschlag, der sich mittlerweile gerade ein wenig beruhigt hatte, schnellte sofort wieder in die Höhe. Noch war es nicht zu spät, noch hatte er Gelegenheit, sich umzudrehen, das Licht wieder auszuschalten und das Haus in dem Zustand zu verlassen, in dem er es vorgefunden hatte. Keiner würde ihm irgendwelche Fragen stellen, vorausgesetzt natürlich, dass er die ganze Zeit über nicht beobachtet worden war.
Wieder ertönte das Stöhnen, dieses Mal schon deutlicher und lauter. Philip rief noch einmal Mrs Freeds Namen. Als sie auch jetzt nicht antwortete, setzte er leise einen Fuß auf die erste Stufe der Treppe. Sie war mit Teppichboden ausgelegt, der jedes Geräusch verschluckte. Als Philip zu einer Tür hinaufblickte, die sich in einem Gang befand, der an die Treppe anschloss, bemerkte er ein Leuchten... dasselbe Leuchten, welches er eben noch und ein paar Tage zuvor von seinem Haus aus beobachtet hatte.
»Mrs Freed«, sagte Philip jetzt viel leiser. Er blieb mitten auf der Treppe stehen. Kalter Schweiß rann seine Stirn herunter und sein Atem kam ihm zu laut vor - viel zu laut. Das Glühen, das zwischen der Tür und ihrem Rahmen hervor drang, hatte an Intensität zugenommen. Ein merkwürdiges, tiefes Brummen mischte sich in die Szenerie. Philip stieg die letzten Stufen hinauf, wobei er mit jedem Schritt seine Geschwindigkeit verringerte. Dann stand er direkt vor der Tür. Sie war nur angelehnt.
»Ist alles... okay, Mrs Freed?« fragte er nochmals. Er flüsterte es fast. Als keine Antwort kam, streckte er seine zitternde Hand aus und zögerte noch einen Moment. Dann holte er einmal tief Luft und schob vorsichtig die Tür auf.
Das Leuchten wurde unerträglich stark und schmerzte in Philips Augen, so dass er eine Hand an die Stirn hob, um das grelle Licht zumindest teilweise abzuschirmen. Das Brummen wurde so laut, dass es in seinen Ohren dröhnte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas in dem Zimmer zu erkennen.
In der Mitte des Raumes war etwas aufgebaut; eine primitive Konstruktion aus einem Stuhl, einigen Kerzen und mehreren seltsamen Gewächsen. Auf dem Stuhl stand ein Bilderrahmen mit einem Foto. Philip brauchte eine Weile, bis er das Entsetzen, das ihm beim Anblick dieses Zimmers in alle Glieder gefahren war, weit genug nachgelassen hatte, um zu erkennen, dass es sich bei der jungen Frau auf dem Bild um die vor mehreren Jahren verstorbene Tochter Mrs Freeds handelte und dass dieser Aufbau aus Stuhl und Kerzen nichts anderes sein konnte als ein Totenschrein. Die Flammen der Kerzen flackerten, obwohl alle Fenster geschlossen waren, in irgend einem Windzug und ließen das lachende Gesicht auf dem Bild in einem düsteren Licht erscheinen.
Ein Keuchen entfuhr Philips Kehle. Er hatte keine Ahnung, was das alles bedeuten sollte, aber mit einem Male spürte er eine Angst, die er noch nie zuvor in seinem Leben empfunden hatte.
»Helfen Sie mir...«
Philip fuhr mit einem Schrei zusammen, als er die ächzende Stimme vernahm. Er drehte sich ruckartig um und sein Herz schlug ihm so fest gegen die Brust, dass es schmerzte. In einer Ecke des Zimmers lag Mrs Freed. Ihre Augen waren ausdruckslos, sie drückte sich die Hand auf ihre Brust und keuchte. Die Haare hingen ihr wirr und strähnig ins Gesicht. Sie zitterte am ganzen Leib, als fröre sie erbärmlich, obwohl es im Zimmer wegen der Kerzen beinahe unerträglich warm war.
Philip stürzte auf die Knie und beugte seinen Kopf zu Mrs Freed hinunter.
»Oh, mein Gott«, flüsterte er, »was ist geschehen? Mrs Freed, was um Himmels willen ist passiert?«
»Ich wollte nur zu meiner Tochter...«, antwortete sie, aber das Sprechen fiel ihr schwer. »Ich wollte nur zu meiner Tochter.«
Philip verstand nicht. »Was?«, fragte er. »Was ist passiert?«
»Das ist jetzt unwichtig«, flüsterte sie. »Er kommt zurück. Wir müssen hier raus. Sofort!«
Während Philip versuchte, ihr auf die Beine zu helfen, formte sich in seinem Kopf eine mögliche Erklärung für all die unglaublichen Geschehnisse. Er selbst hatte einmal davon gehört, dass manche Menschen in okkulten Ritualen versuchten, zu Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. Allen Anschein nach hatte auch Mrs Freed diese Absicht gehabt. Und dann war etwas schief gelaufen. So absurd es auch klingen mochte, auf irgend eine Art und Weise musste sie die Kontrolle über die dunklen Mächte, mit denen sie kommuniziert hatte, verloren haben.
Er stützte ihren schwachen Körper und zusammen wankten sie auf die Zimmertür zu. Philip warf hin und wieder einen kurzen Blick auf das restliche Zimmer. Durch das flackernde Licht, das von der Kerze ausging, zeichneten sich auf den Möbeln und Wänden Schatten ab, die Philip beinahe die Sprache verschlugen. Konturen des Schreckens ließen ihm eiskalte Schauer den Rücken hinunterlaufen und von irgendwo her kam immer noch ein Luftzug, den er sich nicht erklären konnte.
Plötzlich explodierte etwas vor ihnen. Eine Wolke aus beißendem, schwarzem Qualm stieg auf und verdunkelte einen Moment lang das gesamte Zimmer. Philip schrie auf und sprang einen Schritt zurück, wobei er Mrs Freed nicht gerade sanft mit sich zog. Sie keuchte.
»Er ist wieder da...«, sagte sie. Ihre Stimme bebte so sehr, dass sie kaum zu verstehen war.
»Was?« fragte Philip. »Wer ist da?«
Mrs Freed antwortete nicht, sie schien völlig erstarrt zu sein. Stattdessen starrte sie konzentriert auf das, was sich vor ihr abspielte. Philip folgte langsam ihrem Blick.
Zuerst konnte er gar nichts erkennen. Vor sich sah er lediglich eine riesige Qualmwolke, die zudem so stark nach Verbrennung stank, dass es ihm fast den Atem raubte. Dann jedoch verzog sich der Rauch allmählich und hinter ihm kam eine Gestalt zum Vorschein. Sie war groß und besaß menschenähnliche Körperformen, wenn diese auch stämmiger waren, als Philip es jemals bei einem Menschen gesehen hatte. An der Stelle, an der eigentlich die Augen sein mussten, leuchteten zwei dunkelrote Flecke, die seltsam flackerten, als bestünden sie aus einer wabernden Masse. Und auf einmal erkannte Philip, wer diese Gestalt war.
Es war dieselbe, die er gesehen hatte, als Mrs Freed vor einer Woche an die Fensterscheibe geschleudert worden war.
Einen Augenblick lang sahen sich Philip und die seltsame Gestalt an, ein in die Länge gezogener Moment. Dann schleuderte das Wesen seinen Kopf nach vorne und gleichzeitig wurde Philip, von einer unsichtbaren Kraft erfasst, gewaltsam zurück geschleudert. Ein rasender Schmerz schoss durch seinen Rücken, als er gegen die hinter ihm liegende Wand knallte und vor seinen Augen flimmerten grelle Lichter. Er brüllte auf, fiel auf die Knie und schlug mit seinem Kopf auf dem Boden auf. Er hörte noch, wie Mrs Freed zu kreischen begann und der selbe beißende Gestank von eben sich wieder bemerkbar machte, dann ertönte ein tiefes und lautes Geräusch, das er nicht mehr definieren konnte und er verlor das Bewusstsein.

*​

Der schwarze Wagen hielt am Gehweg und Officer Rupert Wilson stieg aus. Er war schlecht gelaunt; das erste Mal seit Wochen hatte er in dieser Nacht wieder ruhig geschlafen und dann war er aus dem Bett geklingelt worden, weil sich - wie ihm gesagt worden war - etwas »höchst Seltsames und Unerklärliches« ereignet hatte.
Er zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, während er auf das Haus zuging, das ihm genannt worden war. Die bläulichen Lichter der davor stehenden Polizeiwagen zuckten durch die Nacht. Neben einem der Autos stand Jack Johnston, ein kleiner Beamter, der erst vor kurzem seine Arbeit als Polizist angetreten hatte. Wilson konnte ihn nicht leiden. Für seine kurze Amtszeit spielte er sich zu sehr auf und wusste immer alles besser.
»Ich hoffe es gibt einen guten Grund, warum man mich nachts um kurz vor eins aus dem Bett klingelt, Johnston«, sagte Wilson ärgerlich, während er sich vor dem Polizisten aufbaute.
»Oh, hallo Officer«, sagte Johnston. Er kaute einen Kaugummi und zeigte sich völlig unbeeindruckt. »Ein Nachbar hatte uns alarmiert, weil er seltsame Geräusche aus diesem Haus« - dabei zeigte er auf das Haus vor ihnen - »bemerkt hatte. Er war der Meinung, dass es sich hierbei um einen Einbruch handeln müsste. Wir kamen hierher und stellten erste Untersuchungen an, konnten aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Einer von den Männern fand die Eingangstür unverschlossen vor, also gingen wir hinein und trafen in einem Zimmer im ersten Stock auf ein absolutes Chaos. Umgeworfene Möbel, Gestank, als hätte es gebrannt und zwei Verletzte. Eine alte Frau, die inzwischen als Bewohnerin des Hauses identifiziert wurde und ein Mann, der angeblich gegenüber wohnt.«
Wilson nickte und betrachtete das Haus. Davor hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, Polizisten und Schaulustige. Gerade trugen zwei Sanitäter eine Bahre aus dem Haus, auf dem ein Mann von etwa dreißig Jahren lag.
»Die Frau steht unter Schock, wir konnten also noch nichts aus ihr herausbekommen«, fuhr Johnston inzwischen unbekümmert fort. »Und der Typ faselt die ganze Zeit irgend was von Teufel und großen Schatten und so. Wahrscheinlich durchgeknallt.«
Wilson sah ihn an. »Die Entscheidung darüber, wer hier und durchgeknallt ist und wer nicht, sollten Sie besser jemandem überlassen, der davon etwas versteht. Und noch etwas: Wenn Sie das nächste Mal mit mir reden, dann nehmen Sie gefälligst Ihren Kaugummi aus dem Mund, verstanden?«
Johnston hielt inne, dann nickte er langsam, als koste es ihn viel Überwindung. Wilson drehte sich genervt um und ging auf das Haus zu. Als ihm die zwei Sanitäter mit der Bahre entgegen kamen, bat er sie, stehenzubleiben.
»Ist das der Mann, der dort drinnen gefunden wurde?« fragte er. Einer der Sanitäter nickte.
Wilson beugte sich hinunter zu Philip und fragte vorsichtig: »Sir, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Philip wies keine größeren, äußeren Verletzungen vor, zumindest so weit Wilson das beurteilen konnte. Dafür rollten seine Augen hin und her, ein verrücktes Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab und er atmete stoßhaft. Er sah Wilson direkt ins Gesicht, aber sein Blick war leer und ausdruckslos.
»Das ist doch egal«, antwortete Philip auf die Frage. »Es geht zu Ende, das ist wichtig. Es geht zu Ende und keiner kann mehr helfen. Es ist alles vorbei. Alles, alles!«
Dann lachte er. Das Lachen war so schrill und wahnsinnig, dass sich Wilson und die Sanitäter entsetzt ansahen. Wilson nickte ihnen zu und sie trugen Philip zu einem Krankenwagen, der bereit stand. Er lachte immer noch. Es schallte durch die Nacht.
Wilson blickte ihm nach und atmete tief durch. »Durchgeknallt«, sagte er zu sich. »Völlig durchgeknallt.«
 



 
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