Der Zeitlauscher - 4. Teil

Markus Veith

Mitglied
In jeder freien Stunde, die sich ihm bot, begab Konrad sich zu der großen Eiche, um Klara zu treffen, sie singen zu hören, mit ihr zu reden und ihre Fröhlichkeit zu genießen. Doch an einem dieser noch frühen Tage ihrer Freundschaft klang ihre Stimme auf einmal sehr ernst. „Konrad, du musst mir etwas versprechen“, bat sie ihn.
Der Junge war verwirrt über den ihm bis dahin unbekannten Tonfall. „Was denn?“
„Dass du nie in meine Zukunft hörst. Versprich mir das. Ja?“
Auf diesen Gedanken war er noch gar nicht gekommen. Die Distanz von exakt 476 Jahren war für ihn so etwas eine Maßeinheit geworden. Unbewusst hatte er den Sucher seines Gehörs auf diese feste Spanne eingestellt und rutschte völlig automatisch genau an den Zeitpunkt, wo Klaras Stimme auf ihn wartete. Auf die Möglichkeit, dass er ja tatsächlich in ihre Zukunft horchen und sie ihr voraussagen könnte, brachte Klara ihn erst jetzt mit ihrer Bitte, gerade dies niemals zu tun.
Der Junge überlegte und glaubte, die Befürchtungen seiner Freundin in der Vergangenheit verstehen zu können.
„Ehrenwort. Ich verspreche es.“
* * *
Die Küste war sehr stürmisch, und der willenlose April blies den Meerwind über das Land. Er hielt sich in zarten Ästen fest und zerrte an ihnen. Der Regen schien sich nicht herabzutrauen.
In einen Friesennerz gehüllt stand Konrad am Fuße des Hügels. Lächelnd blickte er zu der großen Eiche auf, die sich wie ein Riese auf der Kuppe räkelte und ihren trägen Tanz vorführte.
„Mein Gott, Konrad!“ rief Klara ihm zu. „Es ist laut bei dir! Es rauscht! Was ist das? Stehst du bei unserem Hügel, oder bist du im Wald?“
„Aber Klara, dann könnte ich dich doch gar nicht hören!“ rief er ihr durch die Zeit zurück.
„Aber hier ist weit und breit nur freies Feld! Was ächzt und knarrt da bei dir?“
Konrad runzelte verwirrt die Stirn. „Na, die Eiche ist das! Was denn sonst?! Die Eiche, die ...“ – Da ging ihm das Licht endlich auf und plötzlich wurde ihm bewusst, dass Klara in den Wochen, die sie sich bisher kannten, immer nur von ‚unserem Hügel’ gesprochen hatte. „... die es zu deiner Zeit noch gar nicht gibt.“
„Was sagtest du?! Red lauter! Ich verstehe kein Wort bei dem Lärm!“
„Klara!“ schrie er lachend und fuhr sich jauchzend mit beiden Händen durch das windwirre Haar. „Klara! Hier steht ein Baum. Ein hölzerner Riese! Dein Hügel ist noch jung, Klara! Mein alter Hügel trägt eine Eiche Huckepack!“ – Mit einem Male war Stille in der Vergangenheit. „Klara?! – Bist du noch da?!“
„Eine Eiche ...?“ Der Junge spürte, wie schwer es Klara gefallen sein musste, den Mund zum Sprechen zu überreden. „Mein Gott ... Konrad, hörst du mich?“ sagte sie nah an seinem Ohr. „Heute Morgen fütterte ich das zahme Reh von unserem Nachbarn. Mit Eicheln. Eben fand ich noch eine übrig gebliebene in meiner Rocktasche.“
Dann hörte er, wie sie losgelaufen war und er rannte hinter ihren Schritten her. „Was hast du vor?!“
Klaras Stimme war voller Begeisterung. „Errätst du es denn nicht?! Ich werde sie auf unserem Hügel vergraben! Oh, Konrad, stell dir vor: Den Baum, den du siehst, trage ich in meiner Tasche.“
Oben auf der Kuppe vernahm er ihre Stimme aus der Mitte des mächtigen Stammes. „Und nun: Wachse und gedeihe brav.“
Die Monate veränderten das Land und tauchten es bald in das satte Grün des Sommers. Gemeinsam hatten die beiden das alte und das neue Land erkundet, waren umhergestreift und hatten lange Gespräche in die Sonnenuntergänge hineingeführt.
Eines Tages sprang ihre euphorische Stimme auf ihn zu. „Konrad, sie geht auf! Oben auf dem Hügel. Ein Eichensproß. Ganz, ganz klein und fein.“
Er hätte ihn so gerne gesehen, seinen Baum, gerade einen Stiel und zwei Blätter alt, sich mutig durch die Grashalme reckend, die dicht um ihn herum standen.
„Ich werde auf die Kleine acht geben“, versprach Klara. „Ich werde sie gießen und Tiere verscheuchen, wenn sie ihr zu nahe kommen. Und wenn es nötig sein sollte, baue ich einen Zaun um sie herum.“
„Ich würde dir gerne dabei helfen“, sagte Konrad etwas betrübt und streichelte die Borke des Baumes. „Aber ich vermute, das geht nicht.“ Doch da kam ihm eine Idee. „Ich kann aber etwas anderes. Warte.“ Und er hangelte sich auf den untersten Ast der Eiche.
„Was tust du da?“
„Ich zeige dir unsere Eiche.“
Der Baum maß sicherlich dreißig oder vierzig Meter. Konrad kraxelte so hoch, wie ihn die Zweige hielten. Bald schrie er herunter: „Klara! Ich bin ganz oben! Dort hinten ist das Meer! Ich kann Schiffe sehen! Und dort ist das Dorf! Klara, kannst du dir unsere Eiche nun vorstellen?! Kannst du hören, wie sie wird?! Ach, ich wünschte, du wärst auch hier oben!“
Tief sog er noch einmal die Luft und den weiten Ausblick in sich auf. Dann stieg er wieder hinab.
Unten angekommen vernahm er ein Schluchzen aus dem Innern des Eichenstammes. „Klara?“ Sanft legte er seine Hände an die Rinde. „Was ist denn los?“
„Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Da entschied ich mich für weinen.“
„Aber warum?“ Konrad streichelte zärtlich die Borke.
„Weil es so wundervoll war ... und gleichzeitig so schrecklich. Ich habe dich gehört. Dort oben. Dein Rufen. Ich konnte mir die Höhe vorstellen, regelrecht sehen, wie groß unsere Eiche werden wird. Und in diesem Moment wurde mir klar, wie nah das ist. Und wie gleichzeitig weit entfernt. Wenn ich dich jetzt neben mir höre, so möchte ich dich berühren, so nah scheinst du mir. Dabei liegen in Wirklichkeit Jahrhunderte dazwischen ... und dieses Wort tut weh.“
Konrad kniete bei dem Baum. Schulter und Kopf an das Holz gelehnt. Seine Hände ratlos in den Schoß gelegt. Sie tauschten blinde Küsse. Und in Holz verwandelte Zeit trennte sie.
* * *
Konrad war achtzehn Jahre alt, als Blume aus dem Haus auszog. Sie hatten keinen Streit. Nie. Er konnte sich gar nicht mit Blume streiten.
„Ich muss hier weg, Konrad“, sagte sie, als sie an einem Sommerabend zusammen am Strand saßen. „Dies hier ... das ist nicht mein Leben. Verstehst du?“ Sie sah ihn von der Seite an. Er hatte eine Handvoll Kiesel aufgeklaubt und warf sie einzeln ins Wasser. „Mensch, nun schmoll nicht so. Und lass die Felsen in Ruhe. Die haben es nicht verdient, dass du sie steinigst, nach allem, was die sich schon geduldig von uns anhören mussten. Konrad, ich möchte anders leben als andere. Außergewöhnlicher. Ein Leben, von dem nur ich weiß.“ Ihr Bruder blickte sie skeptisch an. Sie blickte verträumt aufs Meer hinaus. Die letzten Sonnenstrahlen spielten ihr Farbenspiel mit dem Horizont und ließen Blumes Augen himmelblau funkeln. „Hier kann ich dieses Leben nicht bekommen. – Aber weißt du, etwas entfernt von hier, landeinwärts, in einem Wald, da steht ein kleines Haus an einem See. Es ist wunderschön. Und unbewohnt. Ich habe nachgefragt. Ich möchte es gerne kaufen.“
„Und du glaubst, dort wird dein Leben ... geheimnisvoller?“ fragte Konrad nicht ohne Sarkasmus.
Blume lächelte und hob schulterzuckend die Brauen. „Vielleicht. – Och, komm schon, Brüderchen. Wenn du nicht damit einverstanden bist, fällt es mir schwer. Aber ich werde nicht eher locker lassen, bis du es verstehst.“
Er verzog seine Mundwinkel. „Ich verstehe es ja. Das ist es ja, was mich ärgert“, knurrte er. „Aber ... was wird dann aus mir, wenn du weg bist, hm? Ich bleibe alleine hier. – Na, toll.“
Daraufhin drückte sie ihn, wie so oft, lachend an sich. „Hey, Brüderchen, du bist doch jetzt groß. Für dich braucht niemand mehr zu sorgen. Du schaffst das schon. Und so ganz alleine bist du doch nie.“
Das stimmte. Alleine war er selten. Er traf sich immer noch mit Klara. Öfter denn je. Fast jeden Nachmittag. Auf ihren gemeinsamen, nur durch Jahrhunderte getrennten Spaziergängen hatten sie viele Plätze entdeckt, an denen sie sowohl zu ihrer Zeit als auch in seiner ungestört sein konnten.
Einer dieser Orte war zum Beispiel eine kleine Lichtung in einem nahen Wäldchen. Ein Flüsschen teilte sie in zwei grüne Hälften.
„Ja, diesen Bach gibt es auch bei mir. Allerdings ist das hier mehr ein Rinnsal.“
„Dann musst du ihn größer machen.“
„Und wie soll ich das machen, Schlauhans?“
„Na, mit einem Staudamm. – Hey! Lass uns doch einen bauen. Du bei dir und ich bei mir. Dann fluten wir die ganze Lichtung.“
„So was habe ich noch nie gemacht.“
„Wir machen’s gleichz ... zusammen. Das klappt schon. Wirst sehen. Zunächst mal brauchen wir Material zum Abdichten.“
In seiner Gegenwart verwendete der Junge eine Anzahl größerer Steine, die in einiger Entfernung, fast gänzlich von Moos überdeckt, im Waldboden steckten. Und so machten sich die beiden ans Werk.
Während dieser Arbeit fiel Konrad auf, dass abgesackte Böschungsränder eine Mulde von gut einem halben Meter Tiefe bildeten. „Hier war schon einmal ein Teich“, flüsterte er. „Sie hat es geschafft. Sie ... wird es schaffen. Wie auch immer.“ Und laut rief er. „Ich bin stolz auf dich, Klara!“
„Was sagtest du?“
„Och ...“ Konrad stutzte. „Nichts. Nichts.“ Ihm war noch etwas anderes aufgefallen. Klaras Stimme und die Geräusche, die sie beim Anschleppen von ihrem Dämmmaterial machte, gelangten zu einer Stelle, die mehrere Meter abseits von seiner Baustelle lag. Nämlich dort, wo er jene Steine gefunden hatte, die er selbst für den Bau verwendete. Einen davon hielt er in Händen. Moosbewachsen und alt.
„Das ist ... Klaras Stein.“ Gebannt stand er da, den handballgroßen Kiesel in seinem Arm und schaute entrückt in die Richtung, welche ihm sein Gehör wies. Da waren nun nur noch dunkle Erdlöcher, aus denen Würmer flüchteten. Klara hatte diese Steine damals dort platziert und mit ihnen ihren Damm gebaut. Sie hatte die Lichtung geflutet und irgendwann hatte sich das Flüsschen wieder befreien können und sich einen neuen Weg gesucht. Etwas abseits. Dort, wo Konrad heute stand. Dort, wo er nun einen neuen Damm bauen wollte. Mit denselben alten Steinen, die den Bach schon einmal umgeleitet hatten. Mit Klaras Steinen. Er begann den Kiesel in seinem Arm zu streicheln.
So entstand zum zweiten Mal mitten im Wald ein kleiner See. Dieser neue See wurde genauso groß wie der erste und sogar sein Uferverlauf war derselbe wie damals, da er nicht über die Böschung der Lichtung zu treten vermochte. Oft saßen das Mädchen und der Junge an ihrem alten und neuen See, und Klara sang ihm dann vor. In diesen Momenten glaubte Konrad, der Wald könne mit ihm den alten Gesängen lauschen. Die Wipfel der Bäume verbeugten sich so harmonisch zu der Stimme des Mädchens, dass es so sein musste.
* * *
Es fiel Konrad schwer, ohne seine Schwester in dem plötzlich viel zu großen Haus zu leben. Aber er gewöhnte sich daran.
Mit seinem grafischen Talent fand er Beschäftigung als Illustrator von Kinder- und Märchenbüchern. Auch Ölbilder, die er schuf, brachten ihm künstlerischen Ruf und zusätzliches Geld ein.
Doch vermisste er Blume sehr. Sie besuchte ihn zwar häufig, aber natürlich konnte er es trotzdem nicht lassen, ab und zu die Gespräche der Jahre mit ihr noch einmal Revue passieren zu lassen. In der ganzen Umgebung war die Vergangenheit schwanger mit ihrer Stimme. Konrad sorgte auf seine Weise dafür, dass er sie sehen durfte, wann er wollte: Viele Mädchengestalten seiner Bilder glichen seiner Schwester bis aufs kastanienbraune Haar. Was er aber nicht einmal Blume verriet: Immer, wenn er eine Frauenfigur zu Papier brachte, zeichnete er das Gesicht als letztes. Wie bei den Bildern, die er als Kind gemalt hatte. Denn ein immer dringlicher werdender Wunsch wucherte in seinen Gedanken: Er wollte Klara anschauen und malen dürfen. Ein einziges Mal nur.
Seit fünf Jahren kannten sie sich nun schon. Und obwohl sie sich nie zu Gesicht bekommen hatten, waren sie bis über beide Ohren ineinander verliebt. Er zeigte Klara sein Haus, führte sie in den Räumen herum, hörte sie auf dem Gras wandeln, mit dem das Grundstück damals bewachsen war, beschrieb und erklärte ihr jede Kleinigkeit, jede Ecke seines Heimes. Die Zimmer, die Möbel, seine Bilder, das Bett ... alles. Wenn sie am Rande der niederen Klippe saßen, schickte Konrad ihr Geschichten durch die Zeit. So lernte auch Klara die Märchen des Großvaters kennen. Bald las er ihr aus Büchern vor.
Geschichten, literarische Werke, geschrieben von Autoren, die erst lange nach Klara geboren werden sollten. Dickens, Andersen, Wilde, die Grimms. Auch Gedichte trug er ihr vor. Doch ernste Balladen mochte sie nicht so sehr. Also las er ihr Ringelnatz, Erhard und Busch vor, und sie lachte so herzlich, so offen und laut, dass es ein Genuss war ihrer Freude zuzuhören.
Vor allem liebte Klara die gruselige Literatur. Während seine zeitreisenden Worte zu ihr gelangten, glaubte Konrad, die Spannung seiner Zuhörerin förmlich spüren zu können, und wie sie an derselben Stelle gesessen hatte und ihre Fantasie aufblühte. Er fühlte ihre Nähe, ihren schaudernden Atem.
Klara war so sehr fasziniert, dass es nicht lange dauerte und in ihr ein Wunsch erwacht war, der nach und nach zu einem Verlangen wurde. „Ich möchte auch Geschichten schreiben können.“
„Na“, schmunzelte Konrad, „dann mach das doch. Du kannst es.“ Oft hatte auch sie ihm Geschichten erzählt, die sie spontan erfunden hatte. Sie besaß bewundernswerte Fantasie und verstand es, sie spannend und in schönsten Bildern auszuschmücken.
„Ich kann nicht schreiben, Dummhans. Niemand im Dorf kann das. Außer der Herr Pfarrer.“
„Uups.“ Konrad schalt sich einen Idioten. Es war schwierig, ständig den Wissens- und Bildungsstand vor über vierhundertfünfzig Jahren bedenken zu müssen.
„Bringst du mir das Schreiben bei?“
„Wenn du das möchtest“, willigte Konrad etwas unsicher ein. Irgendetwas störte ihn an Klaras Bitte. Was genau, konnte er aber nicht benennen.
Die Lehrstunden stellten sich als ziemlich schwierig heraus. Es gab damals keine Lehrbücher. Das einzige Buch im Dorf war die Bibel in der Dorfkirche, und diese war in lateinischer Sprache und zudem in alten Lettern geschrieben. Außerdem war unmöglich an sie heranzukommen.
„Dann bring mir doch deine Schrift bei. Hier gibt es sowieso nichts für mich zu lesen. Und es geht mir viel mehr um das Schreiben.“
Das Schwierigste war, Klara die Buchstaben nur durch Beschreiben beizubringen und zu erklären. Aber es funktionierte: Das O wie ein erstaunter Mund, das D wie ein halbes Buchenblatt, das V wie zwei gespreizte Finger, das W wie zwei V nebeneinander, das E wie eine zersägte Leiter, und so weiter.
Später, im Winter, lernten sie in der Dorfkirche. Diese hatte als eines der wenigen Gebäude im Dorf die Jahrhunderte überstanden, und die meiste Zeit des Tages war hier niemand. Sie saßen in einer stillen Ecke, und Klara hatte mit einem in verdünntes Gänseblut getauchten Federkiel auf Birkenrinde gekritzelt.
„Na, Klara Harmsen, wieder so vertieft bei der Sache?“
Konrad kannte diese Stimme. Sie bedeutete keinen unmittelbaren Ärger, aber trotzdem waren augenblicklich seine Sinne angespannt.
„Oh Herr Pfarrer, Gott mit ihnen. Ja, ich ...“
„Darf ich das denn mal sehen, was du da fertigst?“
„Zeig es ihm nicht, Klara“, flüsterte Konrad hastig. „Sag ihm, du zeichnest.“
„Och, lieber nicht, Herr Pfarrer. Das ... das ist noch nicht gut genug. Es sind nur Bilder. Bitte, wenn ich darf ... lassen Sie mich noch etwas üben. Vielleicht, eines Tages, kann ich Ihnen ...“
Konrad hielt die Luft an und hörte das leise, gütige Lachen des Priesters. „Lass es gut sein, mein Kind. Sitz nur und studiere Gottes Welt, so lange du magst. Er wird sicherlich nichts dagegen haben, wenn du auf deine Weise seinem Werke huldigst.“
Schritte tappten Richtung Altar, mit ihnen das Rauschen eines Talars. Konrad atmete tief durch.
„Ich habe den Pfarrer angelogen.“ Klaras Flüstern war so leise, dass es selbst für den Zeitlauscher kaum zu vernehmen war.
„Aber nein. Geschichten erfinden und aufschreiben ist nichts Schlechtes. Du ... du tust Gutes.“
Eine Pause entstand.
„Was ist?“ Er merkte, wie Klara herumdruckste. „Was hast du denn? Sprich.“
„Konrad. Du weißt, ich liebe dich, aber du musst mich verstehen. Es ist ab und an nicht leicht für mich, auf eine Stimme zu vertrauen, die aus dem Nichts kommt.“
Der junge Mann war von diesen Worten zunächst etwas schockiert. Aber dann überlegte er. Während sich in den großen Städten die Renaissance regte, schleppte sich durch die ländlichen Gebiete weiterhin der Glaube des Mittelalters. Wie sollte ein Mädchen des 16. Jahrhunderts, auch wenn es für ihre Zeit enorm verständig und wissbegierig war, mit einer männlichen Stimme umgehen, die behauptete, sie sei aus der Zukunft?
„Klara“, sagte Konrad im verständigen Ton, „ich liebe dich auch. Und ich kann dir versichern: Ich bin weder Dämon noch Teufel. Wir befinden uns in einer geweihten Kirche. Glaubst du, ER ließe so etwas zu.“
Das überzeugte Klara und sie sprach es nie wieder an. Konrad fand, der Vorteil an der Vergangenheit war, dass komplizierte Probleme mit sehr einfachen Erklärungen aus der Welt zu schaffen waren. Dazu musste ein Beweis nicht einmal logisch sein, er musste sich nur plausibel anhören.
Obwohl Klara mit wahrem Feuereifer bei der Sache war, dauerte es noch recht lange, bis Konrad ihr längere Texte diktieren und sie ihm eigene, kurze Geschichten vorlesen konnte. Doch mit der Zeit wurden diese länger und länger.
Eines Tages im März, als sie sich wie immer nachmittags zum Unterricht trafen, atmete die Schülerin plötzlich erschrocken ein. „Sie ist schon wieder da, Konrad“, flüsterte sie besorgt. „Sie beobachtet mich wieder.“
Für einen Augenblick war der Junge verwirrt. „Wer denn?“
„Die Bredelsche. Sie hat mich schon eine ganze Weile im Auge, sitzt da in der Bank hinter dem Beichtstuhl und tut so, als bete sie. Dabei lauscht diese Heuchlerin. Ich weiß es.“
Wilhelmine Bredel war die Frau eines Fischers aus dem Dorf. Klara hatte Konrad schon häufig von ihr erzählt. Nichts Gutes. Sie war ein böses Weib gewesen, die ihren Gatten, einen herzensguten Mann, unter dem wuchtigen Holzpantoffel hatte.
„Vater sagt, sie setze böse Gerüchte in die Welt. An denen sei nicht eine Unze Wahrheit, aber alle Beteiligten wiegele sie damit gegeneinander auf. Das Dumme ist nur, dass alle Leute im Dorf immer wieder auf ihre Lästereien hereinfallen. – Konrad, ich glaube, sie spricht schlecht über mich und trachtet, mich in Verruf zu bringen.“
„Wie kommst du darauf?“
„Die Leute ... Sie schauen mich so seltsam an. Ich sah sie tuscheln, doch sagen sie nichts. Wenn ich nach dem Grund frage, drehen sie sich um und gehen fort.“
Hätte Klara ihren Freund in der Zukunft sehen können, wäre sie über seine ernste Miene beunruhigt gewesen. „Sag mal, hast du jemandem von mir erzählt?“
„Nein. Du sagtest, das solle ich nicht. – Ich glaube, die Dörfler neiden mir, dass ich nun Schreiben und Lesen kann und viele von ihnen nicht.“
Ein entsetzter Gedanke schob sich zwischen die Befürchtungen des Jungen. „Oh, Scheiße!“ Konrad wurde augenblicklich siedend heiß. In ihm schrillten sämtliche Alarmglocken. Verdammt, was war er für ein Trottel! – ‚Und viele von ihnen nicht.’ – Daran hatte er gar nicht gedacht.
„Klara, sei bitte vorsichtig. Gib auf dich acht, ja. Und wenn du lernst, dann nur noch heimlich. Es darf dich niemand mehr dabei beobachten. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Konrad. Mach ich. – Jetzt ist sie weg.“

(Fortsetzung folgt ...)
 



 
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