Der Zensor

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Antaris

Mitglied
Ich fand es schon ein wenig merkwürdig, dass er von jetzt auf nun einfach so auftauchte. „Das hat schon seine Richtigkeit,“ beharrte der Mann, „ich hätte mich längst um Sie kümmern müssen.“

„Inwiefern?“ Misstrauisch betrachtete ich den hageren Mann in seinem unmodern gewordenen Anzug, der gerade eine große, schon ziemlich stark benutzte Schere aus der Aktentasche zog. „Sind Sie Schneidermeister oder irgendwie im öffentlichen Dienst tätig?“ fragte ich .

„Gewissermaßen trifft beides zu,“ erklärte der Mann. „Ich übe meine Tätigkeit im Dienst der Allgemeinheit aus, und auch Sie werden bald von meiner Arbeit profitieren.“

„Was genau tun Sie?“

„Es ist vermutlich sinnlos, sich mit langen Erklärungen aufzuhalten,“ meinte der Mann. „Am besten beginnen wir gleich. Denken Sie an eine Dummheit, die Sie in letzter Zeit begangen haben.“

Ich brauchte nicht lange in meinen Erinnerungen zu kramen, aber kaum fand mein inneres Auge das Bild von Gartenpavillon meines Nachbarn, den ich beim ersten Aufstellversuch gleich geschrottet hatte, da zerriss – ratsch – das trocken metallische Geräusch der Schere die Stille. Ratsch machte es noch einmal und der lädierte Gartenpavillon versank im finsteren Nichts.

„Weg!“ stellte ich verblüfft fest.

„So ist es,“ bestätigte der Mann mit einem geradezu pastoralen Unterton in der Stimme, „und das ist gut so. Geliehene Sachen kaputt zurückzugeben ist für einen ordentlichen erwachsenen Menschen ein unwürdiges Verhalten, das geben Sie zu, oder?“

Dazu nickte ich nur. „Gut,“ sprach er, „machen wir weiter.“

Ich konzentrierte mich. Die Bildbände aus der Bücherei, die ich mit Kaffeeflecken zurückgab, ratsch – ratsch, der Auffahrunfall nachdem ich mich einmal mehr für einen Rosenstrauch als für eine rote Ampel interessiert hatte, ratsch – ratsch, das gelegentliche Verleugnen-Lassen am Telefon, ratsch – ratsch, die Angaben bezüglich meines Einkommens gegenüber meinem Vermieter, nicht gehaltene Versprechen verschiedenster Art, und unzählige alltägliche Handlungen, die nicht gerade von edelsten Absichten getragen wurden, verschwanden – ratsch – ratsch – ratsch – ratsch – ratsch – aus meinem Gedächtnis. Sogar die Schummeleien, die ich beim alljährlichen Ausfüllen der Steuererklärung für unabdingbar hielt, entfernte der Mann ohne zu zögern.

„Humor brauchen Sie in Ihrem Beruf wohl nicht,“ seufzte ich.

„Die einzig unverzichtbare Voraussetzung für meine Tätigkeit ist eine bedingungslose Liebe zum Guten. Beispielsweise werde ich niemals lügen.“ Der Mann ließ seine Schere sinken und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. „Fühlen Sie sich schon ein wenig besser?“

„Sollte ich das?“ entgegnete ich ahnungslos.

Mit einem missbilligenden Stirnrunzeln musterte mich der Mann von der Seite her und grübelte. „Na gut, machen wir erst einmal weiter,“ entschied er dann.

Die Schummelzettel aus meiner Schulzeit verschwanden ebenso gelegentlich geklautes Obst, die Streiche, das sorgfältig frisierte Mofa, zwei trickreich ausgestopfte Mädchen-BH’s, geschwänzte Berufsschulstunden und später mancher krank gefeierte Montag, viele faule Ausreden, sogar ein paar Kirchengebete, und viele andere Dinge, die ich ohnehin fast vergessen hatte.

„Wenn diese ganzen Dummheiten aus Ihrer Vergangenheit verschwunden sind wird es Ihnen leichter fallen, fortan als wirklich braver, guter Mensch zu leben,“ meinte der Mann.

„Aber es ist so entsetzlich wenig geworden,“ bemerkte ich beunruhigt.

Der Mann zuckte ungerührt mit den Schultern.„Sie hätten längst wissen müssen, wie sich ein ordentlicher, guter Mensch verhält. Im Zweifelsfalle stehen alle Gebote und Gesetze irgendwo geschrieben,“ meinte er, und zeigte mir mit einer lässigen Handbewegung, dass er weiter machen wollte. Ich wollte an etwas Schönes denken, aber kaum erinnerte ich mich an den netten Kollegen mit den braunen Locken, da ließ –ratsch – ratsch – die Schere das Bild für immer verschwinden, und auch den glutäugigen Griechen in der Nachbarwohnung entfernte die Schere – ratsch –ratsch – aus meinem Bewusstsein. „Moment mal, geht das nicht bisschen zu weit?“

„Auf jeden Fall,“ bestätigte der Mann leicht gereizt. „Sie sind schließlich verheiratet, das muss genügen. Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit nutzlosen Überlegungen.“

„Also gut,“ meinte ich resigniert. „Schnippeln Sie mir einfach alles aus dem Sinn damit wir zum Ende kommen.“

Erstaunt ließ er seine Schere sinken. „Das meinen Sie jetzt nicht im Ernst, oder?“

„Warum nicht?“ bestätigte ich trotzig. „Wenn es sein muss kann ich ohne die Geschichtchen aus der Vergangenheit leben, aber ob es Ihnen passt oder nicht, ich werde weiterhin das eine oder andere Geschichtlein erleben, und ich werde alles aufschreiben und erzählen ehe Sie mir dazwischen funken können.“

„Ich habe mir schon so was gedacht bei Ihnen,“ seufzte der Mann, „und deswegen werde ich nicht umhin kommen, zu unangenehmen Maßnahmen zu greifen – zu sehr unangenehmen Maßnahmen: Die Finger müssen weg!“

Ehe ich mir über die Konsequenzen seiner Ankündigung im Klaren geworden war zückte der Mann seine Schere erneut, und – schwop – brannte sich ein schneidender Schmerz in meine linke Hand. „Au!“ schrie ich und blickte fassungslos auf den blutenden Daumenstumpf.

„Recht so, weg mit den bösen Fingerchen ehe sie Unheil anrichten und womöglich multiplizieren können!“ Schwop, schwop, schwop durchschnitt das Metall mein Fleisch schneller als ich reagieren konnte. „Stellen Sie sich nicht so an, schließlich geschieht alles zu Ihrem Besten,“ kommandierte der Mann, und schwop, schwop, vollendete er sein Werk. In aller Gemütsruhe zog er ein schmuddeliges Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte sorgsam das Blut von der Schere.

Ich krümmte mich vor Schmerzen und versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. „Wer legitimiert Sie eigentlich dazu, Leuten die Finger abzuschneiden?“

„Das alles haben Sie sich natürlich selbst zuzuschreiben,“ belehrte mich der Mann. „Ich sagte bereits, dass alles Recht auf dieser Welt irgendwo geschrieben steht. Was diese disziplinarische Maßnahme angeht muss ich gestehen, dass ich mich kurzfristig dazu entschlossen habe, alleine um mir für die Zukunft viel Arbeit zu ersparen. Da ich meine Finger noch habe werde ich die entsprechende rechtlich-moralische Grundlage bei Gelegenheit nachreichen.“ Mit zufriedener Mine steckte er die Schere weg, und deutete eine Verbeugung an. „Sie hätten sich längst Gedanken machen können, wie Recht entsteht, aber ich bin mir sicher, Sie haben noch nie darüber nachgedacht, die Regeln zu Ihrem Vorteil zu ändern. Jetzt ist es ein wenig spät. Ich empfehle mich – bis zum nächsten Mal,“ sagte er im Weggehen.
 
S

Stoffel

Gast
Aua....

also, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.
Das ist eine echt irre Geschichte. Irre gut geschrieben.
Mir fehlen weitere Worte.
Du kommst auf Ideen. :))

Stoffel
 

Antaris

Mitglied
Aua!

Hallo Stoffel,

danke für Dein Lob. Die Geschichte entstand, als in einer Schreibwerkstatt die Aufgabe, eine Horrorgeschichte zu schreiben gestellt wurde. Damit war nicht unbedingt eine actiongeladene Story nach den üblichen Genreregeln, mit Vampiren, Zombies, etc gemeint, sondern einen beliebigen Text über etwas, was uns Angst macht, deswegen steht dieser Text auch nicht im "Horror" Forum. Willkür, Ungerechtigkeit, und Scheinheiligkeit machen mir Angst, und dieser Text entstant - für meine Verhältnisse sehr schnell - an einem Nachmittag.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 
S

Stoffel

Gast
Liebe Antaris,

manchmal entstehen ganu DANN die besten Dinge.:)
Aber Angst machen die von Dir aufgezählten Sachen nicht.
Teilweise kann ich solches nicht ausstehen. Kann sein, das ich Ungerechtigkeit sogar hasse. *urgs*

Danke, das Du mich darüber in Kenntnis gesetzt hast.
Ich findes sie sehr schauderlich, einerseits. Und irgendwie beeindruckte mich das auch.
(und ab heute hab ich Angst, daß mir mal einer die Finger absäbelt. Ich will nicht freiwillig mit dem Schreiben aufhören. Ums Verrecken nicht)

Schönes Wochenende
Stoffel
 



 
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